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Geschichte zum AnfassenEin wundersamer Apparat namens „Chronologiemaschine“

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Anlässlich der Veröffentlichung ihres Buchs Die Chronologiemaschine stellte die Kunsthistorikerin Astrit Schmidt-Burkhardt einen Nachbau dieser sonderbaren Konstruktion aus dem 18. Jahrhundert im Stabi Kulturwerk aus. Welche Geheimnisse birgt ein Apparat, der aus nichts weiter besteht, als zwei Pappröhren samt Kurbeln und einer auf- und abrollbaren Karte aus Kupferdrucken, die die gesamte damalige Geschichte der Menschheit abbildete? Darüber spricht sie im SPKmagazin-Interview.

Der französische Arzt und Universalgelehrte Jacques Barbeu-Dubourg (1709–1779) kreierte im Jahr 1753 die sogenannte Chronologiemaschine. Wer war dieser Mann? Was bezweckte er mit seiner Erfindung?

Astrit Schmidt-Burkhardt: Barbeu-Dubourg war Universalgelehrter mit einer für das 18. Jahrhundert typischen Karriere. Er studierte Theologie, dann Rechtswissenschaften; im fortgeschrittenen Alter nahm er das Medizinstudium an der Sorbonne auf und schloss dieses erfolgreich ab. Wie andere Intellektuelle seiner Zeit war er als Hauslehrer bei einer adeligen Familie in Paris tätig. Dort kümmerte er sich um die Ausbildung des Nachwuchses.

Barbeu-Dubourg vertrat die Überzeugung – und das ist nicht zuletzt für die Aufklärung bezeichnend –, dass man die Zukunft nur gestalten könne, wenn man die Vergangenheit kennt. Diese Einsicht wollte er spielerisch, einfach und unterhaltsam vermitteln. Alle Interessierten, aber insbesondere junge Menschen ‒ Mädchen und Jungen gleichermaßen ‒ sollten anschaulich in die Geschichte von Adam und Eva bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt werden. Die Chronologiemaschine verfolgte also den Zweck, die Akteure, Begebenheiten und vor allem Veränderungen, Zäsuren im Laufe der Zeit, zu veranschaulichen. Dieser Fluss der Ereignisse, die Barbeu-Dubourg zusammengestellt hat, die Übergänge von einem Jahr ins nächste sind auf der Karte verzeichnet, und das für insgesamt 6.500 Jahre. Die Länge der Karte ergibt sich aus dem Umstand, dass er jedem Jahr, egal ob etwas verzeichnet ist oder nicht, gleich viel Platz einräumt – 2,5 Millimeter um genau zu sein. Rechnet man die Jahre hoch, ergeben sich rund 16,5 Metern. Dieses Prinzip war absolut neu in der Geschichte der Geschichtsvisualisierung!

Ein geschlossener, unförmiger Holzkasten
Die einzige erhaltene Chronologiemaschine in geschlossenem Zustand. Fotografie aus A. Schmidt-Burkhardt: "Die Chronologiemaschine. Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne", Berlin: Lukas Verlag, 2022, S. 20, mit Erlaubnis der Autorin.
Ein Papier in einem merkwürdigen Holzkasten mit zwei Kurbeln an der unteren Seite
Die Chronologiemaschine, geöffnet. Fotografie aus A. Schmidt-Burkhardt: "Die Chronologiemaschine. Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne", Berlin: Lukas Verlag, 2022, S. 71, mit Erlaubnis der Autorin.

Es war eine bewegte Zeit, in der Barbeu-Dubourg lebte, quasi am Vorabend der Französischen Revolution. Historisch wurden viele Weichen gestellt, bevor sich Europa neu sortierte. Wie lässt sich die Chronologiemaschine in diesem Kontext verorten?

Ich vertrete die These, dass die Mobilisierung der Karte mittels Maschine, wie sie Barbeu-Dubourg entworfen hat, einen Wahrnehmungswandel von Geschichte auslöste. Sie erscheint so weniger als göttliche Vorsehung, sondern als von Menschen gemacht. Die visuelle Verdichtung der Informationen zum 18. Jahrhundert hin erzeugt einen Faktendruck, in dem inhärente Spannungen buchstäblich abzulesen sind ‒ sozusagen bildtechnisch. Und tatsächlich haben sie sich später auf gesellschaftlicher Ebene in der Französischen Revolution entladen, wobei die Chronologiemaschine natürlich kein Motor der Ereignisse war – Barbeu-Dubourg starb zehn Jahre zuvor. Bezeichnend aber ist, und das lässt sich in seiner Biografie verfolgen, dass auch er einen inneren Wandel durchlief: von einem Arzt, der zunächst mit nichtinvasiven Praktiken für seine Heilkunst warb ‒ heute würden wir von Alternativmedizin sprechen ‒ und dessen Credo lautete: kein Blutvergießen, kein Aderlass, sondern mit Kräutern heilen, hin zu einem Gewaltbefürworter. Ab den 1760er Jahren schwenkte Barbeu-Dubourg nämlich um und unterstützte die Unabhängigkeitsbewegung der Neuamerikaner, sogar finanziell und einschließlich ihrer gewaltsamen Aktionen. Ein solcher Sinneswandel ist gar nicht mehr so verblüffend, wenn man sich die weltpolitischen Wenden unserer Tage ansieht.

 

Wie sind Sie eigentlich auf die Chronologiemaschine gestoßen? Was hat sie daran so beeindruckt? Es erscheint auf den ersten Blick vielleicht etwas „nischig“ ...

Ich muss vorausschicken, dass ich mich seit vielen Jahren mit Schautafeln, Grafiken, Charts, kurz: Wissensvisualisierungen aller Art beschäftige. Anfänglich wurde ich dafür belächelt. Doch mit dem Durchbruch des Internets war dieses Thema plötzlich in größerer Breite virulent ‒ unterstützt durch die bildgenerierenden Verfahren der Nanotechnologien. Wie visualisiert man Daten, um (neue) Erkenntnisse zu generieren, Stichwort „Big Data“ oder „Data Mining“? Nach der Jahrtausendwende war das eine sehr drängende Frage geworden.

Im Zuge meiner Recherchen zu Schaubildern stieß ich irgendwann auf Barbeu-Dubourgs Chronologiemaschine, die mich sofort faszinierte. Es verging allerdings einige Zeit, bis ich mich entschloss, eine Objektbiografie zu schreiben. An dem Buch habe ich dann – mit vielen Unterbrechungen – so lange gearbeitet, wie Barbeu-Dubourg von der ersten Idee bis zum Bau der Maschine gebraucht hat. Darüber muss ich etwas schmunzeln.

Und: Aus meiner Sicht ist die Chronologiemaschine mitnichten ein „Nischenprodukt“. Ganz im Gegenteil! Es handelt sich um eine medienarchäologische Entdeckung erster Güteklasse. Mit der Aufrüstung von grafisch aufbereiteten Fakten zum Bewegtbild nimmt sie nichts weniger als moderne Bildschirme vorweg und die uns allzu vertraute Scroll-Bewegungen - ja, im erweiterten Sinne sogar das Kino und Fernsehen. Mir war es deshalb sehr wichtig, in Berlin einen originalgetreuen Nachbau zu präsentieren, um die Modernität dieses Papierapparats vorzuführen.

Eine Frau hinter der Glaswand einer Ausstellungsvitrine
Astrit Schmidt-Burkhardt führt durch die Ausstellung "Die Chronologiemaschine – Eine visuelle Revolution des 18. Jahrhunderts" im Stabi Kulturwerk. © SBB-PK / Carola Seifert
Einblick in eine Ausstellungsvitrine, schwarze Wände, in der Mitte eine Konstruktion, dazu Begleittext- und Bilder
Einblick in die Ausstellung mit dem Nachbau der Chronologiemaschine im Vordergrund. © Thorsten Flüh
Eine Ausstellungsvitrine voller Papierrollen
Die auf- und abrollbare Karte aus Kupferdrucken zum Einlegen in die Maschine. © Thorsten Flüh
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Eine Karte im Close-Up. © Thorsten Flüh

Warum gibt es heute nur noch ein Exemplar von der Chronologiemaschine? Wo befindet es sich?

In der Princeton University Library. Ein findiger US-amerikanischer Grafikhändler hat sie aus unbekannter Quelle aufgespürt und der Bibliothek, die eine exquisite Sammlung von grafischen Wissensvisualisierungen besitzt, angeboten. Warum nur noch ein Exemplar existiert, lässt sich vielleicht am besten so erklären: Im 18. Jahrhundert wurden diese Lernmaschinen viel verwendet, sodass sie sich schlicht abnützten und verschlissen. Das ist die Kehrseite eines intensiven Gebrauchs. Denken wir nur an unsere Schulhefte aus der ersten Klasse. Wer hat sie noch ‒ und, wenn ja, in welchem Zustand? Irgendwann wirft man die zerfledderten Papiere weg. Die Chronologiemaschine teilt dieses Schicksal. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie einst weit verbreitet war. Nach dem Tod von Barbeu-Dubourg bis weit ins 19. Jahrhundert hinein stieg sogar die Nachfrage nach einer Neuausgabe. 1838 war es dann soweit: Die überlange Karte erschien nun als Buch in einer gebundenen Leporello-Fassung zusammen mit einem etwa handtellergroßen Maßstab aus Elfenbein oder Messing, damit die einzelnen Jahre präzise vermessen werden konnten. Das war gewissermaßen der spielerische Anteil dieser interessanten Neuausgabe. Auch sie konnte in der Ausstellung gezeigt werden.

 

Wie entstand der in der Ausstellung gezeigte Nachbau der Chronologiemaschine?

Die Papierrestauratorin Cornelia Weik hat sie mit Unterstützung eines Buchbinders angefertigt ‒ und nach den Vorgaben von Barbeu-Dubourg und Denis Diderot, der den Bau der Maschine in der Encyclopédie ausführlich beschrieben hat. Durch den Nachbau haben wir gelernt, dass es mit den Papieren heutzutage doch nicht mehr ganz so einfach ist, wie Barbeu-Dubourg und Diderot erklären. Mit einigem Geschick und Schweißperlen auf der Stirn ist der erste Nachbau der Chronologiemaschine 270 Jahre nach ihrer Erfindung dann doch geglückt – und zwar eins zu eins.

 

Lassen sich aus der Betrachtung der Chronologiemaschine gewisse Parallelen zu späteren Medienkonsum ziehen oder war sie doch grundverschieden?

Die Chronologiemaschine spricht uns über drei Sinneskanäle an: das Visuelle durch die Karte, das Haptische durch die Kurbeltechnik, und auch das Akustische, wenn das Papierband beim Abspulen leise raschelt, so ähnlich wie beim Zeitungsblättern. Dazu möchte ich noch einen wichtigen Aspekt ergänzen: Barbeu-Dubourg setzte mit der Chronologiemaschine auf eine aktive Kooperation zwischen ihm als Erfinder bzw. Autor und den Nutzer*innen. Sie sollten selber Hand anlegen, eigene Ergänzungen auf der Karte eintragen, Korrekturen vornehmen, neue Symbole hinzufügen. Das ist doch eine sehr fortschrittliche Lerntechnik. Die Wikipedia zum Beispiel funktioniert im Grundsatz genauso. Ich würde sogar sagen, dass die Maschine, wenn sie gut funktioniert, einem Touchscreen ähnelt. Aus konservatorischer Sicht muss ein solcher Umgang mit den Kupferdrucken heute natürlich unterbleiben, aber dieses Prinzip ist in der Chronologiemaschine bereits angelegt.


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