Ohne Begegnung bleibt Frieden unmöglichInterview mit dem Fotografen Frank Gaudlitz

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Während Trump und Putin zweifelhafte Friedensgespräche führen, leidet noch immer täglich vor allem die Zivilbevölkerung in der Ukraine unter dem russischen Angriffskrieg. Das MEK zeigt ab 19. September in der Ausstellung “Flucht” Porträts des Fotografen Frank Gaudlitz. Im Interview spricht er über das Projekt und seinen Blick auf Flucht und ihre Ursachen. 

Sie haben als Fotograf seit dem Ende der Sowjetunion einen Schwerpunkt in Richtung Osteuropa und Russland entwickelt. Woher kommt dieses Interesse?

Frank Gaudlitz: Die erste Berührung mit Russland hatte ich 1988, also noch zur Zeit der Sowjetunion. Im Rahmen des Fotografiestudiums verbrachte ich einen Studentensommer an der Erdgastrasse Druschba. Das war aus der gefühlten Enge eines Ostdeutschen faszinierend. Auf der Zugfahrt nach Perm, also in den Ural, habe ich zunächst nicht verstanden, warum die Häuser und Bäume so gedrückt am Boden und viel kleiner als in Deutschland erschienen. Bis ich begriff, dass es die unendliche Weite um die Dinge herum war, die den Blick beeinflusste.  Ich habe damals verstanden, dass dieses riesige Land seinen Bewohner:innen alles abverlangt. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich. Ein anderes war die Präsenz des russischen Militärs in meiner Heimatstadt Potsdam, die meine Neugierde geweckt hatte.

Es folgten weitere Berührungspunkte, 1989 besuchte ich im Rahmen eines Studentenaustausch Moskau und Sankt Petersburg. Von 1991 bis 1994 dokumentierte ich den Abzug der russischen Armee aus der ehemaligen DDR und habe die Militärs sowohl über die Ostsee als auch über den Landweg begleitet. Das war 1992. Mir schien, dass Russland innerhalb von drei Jahren, von 1989 bis 1992, in eine völlige Apathie versunken war. Alkoholismus, Armut und Rechtlosigkeit prägten das Straßenbild. Ich beschloss, diesen gesellschaftlichen Wandel dauerhaft fotografisch zu verfolgen und bin in den 90er Jahren regelmäßig dorthin gereist. Zuerst in die Städte im europäischen Teil, und dann immer tiefer nach Sibirien – in die Steinkohlereviere im Kusnezker Becken, in den Altai, an den Baikal und bis in die Gulags über dem Polarkreis…

 

Seither haben Sie die ganze Region bis heute fotografisch begleitet … 

FG: In den 90er Jahren versuchte ich die Stimmung auf den Straßen aufzunehmen und anhand der Befindlichkeit des Einzelnen ein fotografisches Gesellschaftsporträt zu erarbeiten. Unmittelbarkeit war ein entscheidendes Kriterium.

In jüngerer Zeit bin ich erst nach der Annexion der Krim, ab 2017/18, wieder häufiger dorthin gereist. Da hatte sich Russland schon sehr verändert. Ich habe eine große Distanz gespürt, die auch in den Bildern sichtbar ist. Ich erinnere mich noch an die Präsidentschaftswahl 2018, die natürlich Putin „gewann“. Zur Wahlfeier unter dem Motto: „Rossia, Sewastopol, Krim“ waren Menschenmassen mit Bussen angefahren worden. Ich sah diese Leute Fahnen schwenkend, und immer wieder „Rossia“ skandierend, es war unheimlich – ich dachte, die würden sofort in einen Krieg ziehen, wenn Putin es befiehlt. Das war für mich nach der Krim-Annexion das zweite große Erschrecken.

 

Das bringt uns zu Ihrem aktuellen Projekt, das quasi die Fortsetzung dieses Themas ist. Sie haben dafür geflüchtete Ukrainerinnen in Moldau, Georgien und Armenien porträtiert und interviewt. Wie kam dieses Projekt zustande?

FG: 2021 besuchte ich erneut Russland, um auf der Reiseroute von Alexander von Humboldt das Leben in der russischen Provinz zu fotografieren. Von Sankt Petersburg fuhr ich bis ins sibirische Tobolsk. Die zweite Tour von Omsk bis ans Kaspische Meer sollte 2022 folgen. Dann kam der Krieg. Ich hätte das Projekt sicherlich fortsetzen können aber es war schwer vorstellbar, in Russland Städte zu fotografieren, während Russland in der Ukraine Städte zerbombt. Der Krieg war ein absoluter Schock und bedeutete zunächst den Abbruch meines Langzeitprojekts über Russland, bis ich begriff, dass eine Fortsetzung wichtig war, indem ich mich den menschlichen Folgen des russischen Angriffskriegs widme.   

In den ehemaligen Sowjetrepubliken Moldau, Georgien und Armenien befragte und porträtierte ich ukrainische Kriegsflüchtlinge, später auch russische Emigrant:innen, also in Ländern, die ebenfalls unter russischem Einfluss leiden: In Moldau die Abspaltung Transnistriens, in Georgien Abchasien und Südossetien, die von Russland besetzt sind, und in Armenien kam Russland seiner Verpflichtung als Schutzmacht nicht nach, als der Konflikt mit Aserbaidschan um Bergkarabach eskalierte. 

Frank Gaudlitz

Ich habe damals verstanden, dass dieses riesige Land seinen Bewohner:innen alles abverlangt. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich.

Oleksandra O., 39, aus Charkiw | Ukraine Batumi | Georgien 3/2023 © Frank Gaudlitz
Olga M., 33, und Nazarij M., 33, mit ihrer Tochter Anastasia, 12, aus Bukatynka |Ukraine Unguri | Moldau 10/2022 © Frank Gaudlitz

Wie ging es mit diesem Projekt los?

FG: Im Herbst 2022, als nicht klar war, ob Russland vielleicht auch in Moldau einmarschiert, bin ich dorthin geflogen um zu prüfen, wie ein solches Projekt umsetzbar ist: ob die Menschen über ihre Schicksale sprechen können, ob mir eine angemessene Bildsprache gelingt. Mit Unterstützung von Dolmetschern besuchten wir Wohnheime für Geflüchtete im gesamten Land, auch die Grenzübergänge zur Ukraine. Wir konnten erste Gespräche führen, es entstanden Fotografien und die Idee, das Projekt mittels dreier Ebenen auszuformulieren: mit Familienporträts, Interviews und einem „Buch der Wünsche“, in dem die Porträtierten gebeten wurden, ihren Zukunftswunsch handschriftlich einzutragen. 

 

Die Projektidee mit den drei Ebenen ist also in Moldau entstanden und damit sind Sie weiter nach Armenien und Georgien?

FG: Genau. Die Arbeit in Moldau hat mich bestärkt, diesen Ansatz weiter zu verfolgen.

Neben einem sensiblen Kontakt zu meist traumatisierten Menschen, müssen natürlich auch Fotografien entstehen, auf denen die Umstände erahnt werden können, gleichzeitig aber die Würde dieser Personen gewahrt bleibt. Es wurde immer erst das Gespräch geführt und danach fotografiert, so dass die Erzählungen in den Porträtprozess einfließen. Vielleicht hob der Eintrag in das „Buch der Wünsche“ am Ende unserer Besuche diese oftmals starke emotionale Belastung etwas auf. 

 

Wie haben Sie das organisatorisch umgesetzt, in ein anderes Land zu kommen und dort die Leute zu finden?

FG: Ich habe vorher recherchiert, in welchen Orten es Wohnheime für Geflüchtete gibt. In Georgien und Armenien gibt es zahlreiche Freiwilligeninitiativen, oft von russischen Emigrant:innen organisiert, die ukrainischen Geflüchteten helfen. Das war einer der Gründe, warum ich beschlossen habe, nicht nur geflüchtete Ukrainer:innen, sondern auch Russ:innen, die das Land verlassen mussten, in das Projekt einzubeziehen.

 

Wie wurden die Exilrussen in den Ländern aufgenommen, zum Beispiel in Georgien?

FG: Die Leute, mit denen ich Kontakt hatte – aus Freiwilligeninitiativen wie Emigration for Action oder der Stiftung Free Russia Foundation – sind natürlich Kriegs- und Regimegegner. Viele waren schon in Russland aktiv und haben dann ihre Büros ins Ausland verlagern müssen. Ich habe während meiner Aufenthalte keinen Moment erlebt, in dem Russen öffentlich angefeindet wurden. Aber natürlich gibt es auch Probleme, die Mieten haben sich in Tiflis teilweise verdreifacht. Zum anderen gibt es die Angst, dass Putin die Anwesenheit vieler Russ:innen nutzen könnte, um in der Zukunft, mit dem Argument seine Landsleute „zu verteidigen“, auch in Georgien einmarschieren könnte. 

Den Fakt, dass die Kinder der Ukrainer:innen und der Exilruss:innen dort in die gleichen Schulen und Kindergärten gehen – möchte ich als zarten Moment der Hoffnung deuten.

Frank Gaudlitz

Den Fakt, dass die Kinder der Ukrainer:innen und der Exilruss:innen dort in die gleichen Schulen und Kindergärten gehen – möchte ich als zarten Moment der Hoffnung deuten.

Ludmilla K.,23, aus Kyjiw | Ukraine Moldau 10/2022 © Frank Gaudlitz
Natascha J., 36, mit ihren Kindern Aurica, 13, Timur, 10, Beata 7, Mark, 4, und ihrer Schwägerin Marina K., 24, mit deren Sohn Bogdan, 5, aus Winnyzja | Ukraine Unterkunft für Geflüchtete, Dondu?eni | Moldau 10/2022 © Frank Gaudlitz

Haben Sie noch Kontakt zu den Menschen, die Sie porträtiert haben?

FG: Nur in wenigen Fällen. Es wurde mir während der Aufarbeitung der Ergebnisse zunehmend klar, dass die Personen geschützt werden müssen und insofern sind die Namen der Interviewten nicht die Klarnamen – weder bei Ukrainer:innen noch bei Russ:innen. In gewisser Weise hat das Projekt mit der Ausstellung einen Abschluss gefunden. Die Geschichten sind erzählt und dokumentiert, unter anderem in der umfangreichen Publikation zur Ausstellung.

 

Was findet sich in der Publikation?

FG: Unter dem Titel „24022022“, also dem Datum des russischen Überfalls, beinhaltet das Buch 33 Porträts, 18 Interviews und diverse Faksimiles handschriftlicher Notate aus dem Wunschbuch. Eine Auswahl von ca. 80 Interviewten in über 30 Stunden Tonprotokollen zu treffen, war schwierig, zunächst russisch und ukrainische Verschriftlichung, dann Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung. Ich habe mich mehrere Monate intensiv mit der übersetzten Version auseinandergesetzt – das war emotional hart, auch wenn es natürlich nichts ist im Vergleich zu dem ist, was diese Menschen erleben mussten. Dass ihre Stimmen, ihre Antlitze in Buch und Ausstellung nun hör- und sichtbar sind, empfinde ich als wichtig. 

 

Das heißt, das Projekt war auch für Sie eine echte Strapaze?

FG: Definitiv. Es war schwierig, die Interviews zu lesen und zu bearbeiten, da ich die Situationen vor Ort noch sehr gegenwärtig vor Augen hatte. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Hoffnung einer ukrainischen Familie, in ihr Haus in Nova Kachowka zurückkehren zu können, es war noch nicht zerstört worden. Und ein paar Wochen später kam die Nachricht, dass der Staudamm in Nova Kachowka zerstört wurde. Wo bleiben dann die Hoffnungen? All das hat mich stark berührt.

 

Wie vermittelt man so ein schwieriges und emotionales Thema angemessen in einer Ausstellung?

FG: Das Ausstellungskonzept entspricht der Gliederung des Buches. Es werden alle drei Ebenen gezeigt: Porträts, Interviews und die Handschriften aus dem Buch der Wünsche. Interviews wurden von Schauspielern eingesprochen, es gibt Hörstationen. Dazu die fotografischen Porträts der ukrainischen Geflüchteten und der russischen Emigrant:innen. Interessant auch, dass die Berichte der russischen Verfolgten und Kriegsgegner:innen einen direkten Blick in die Diktatur Putins ermöglichen. Deswegen erschien es mir sinnvoll, diese Stimmen einzubeziehen. Schließlich gibt es die Möglichkeit für die Besucher, selbst eine Stellungnahme an einer Graffiti-Wand zu hinterlassen. Dafür haben wir ein Graffiti aus Tiflis rekonstruiert, das man in der Ausstellung beschreiben kann.

 

Die russische Perspektive einzubeziehen, könnte auch auf Kritik stoßen. Haben Sie das im kuratorischen Team diskutiert?

FG: Ja, wir haben mit dem Museumsteam oft darüber gesprochen, ob und wie man Ukrainer und Russen zusammen zeigen kann, und eine gemeinsame Haltung erarbeitet, die Grundlage für das Ausstellungskonzept ist.

Ich verfolge mit meiner Arbeit einen humanitären Ansatz und keine politische Agenda, aber natürlich steht außer Frage, dass ich Russlands Invasion verurteile. 

Meine persönliche Distanz zu Russland begann eigentlich schon 2011 mit der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen zu den Parlamentswahlen. Wir wissen, was folgte. In einer Projektion mit dem Titel „Und das Ende ist der Krieg“ innerhalb der Ausstellung versuche ich das bildhaft zu skizzieren.

Mein Fokus richtet sich auf den einzelnen Menschen. Und wenn diese Ausstellung etwas vermitteln kann, ähnlich dem Beispiel der Kindergärten und Schulen in Georgien, wo ukrainische und russische Kinder gemeinsam spielen, dann wäre das gut. Denn wenn die Abgrenzung so groß wird, dass es keine Begegnungen mehr gibt, bleibt nur Hass – und damit wird Frieden unmöglich.

 

Hat dieses Projekt Ihren Blick auf das Phänomen Flucht insgesamt verändert?

FG: Diese Arbeit hat auf jeden Fall ein Beschämen in mir ausgelöst. Beschämen darüber, dass weiter entfernte Kriege oft auch emotional entfernt bleiben, obwohl das Leid überall gleich ist.

Vielleicht hat diese Ausstellung auch die Kraft, über die Folgen von Kriegen im Allgemeinen zu erzählen. Es sind immer Menschen, die ohne ihr Zutun zu Spielbällen politischer Interessen wurden. Darin gleichen sich alle Konflikte auf der Welt. Ich finde es wichtig, den Blick auf den einzelnen Menschen nicht zu verlieren.

Aljona W., 46, mit ihrer Tochter Warwara, 15, aus St. Petersburg | Russland Tiflis | Georgien 4/2023 © Frank Gaudlitz
Maksim J, 43, mit seinem Sohn Rodion, 8, aus St. Petersburg | Russland Tiflis | Georgien 4/2023 © Frank Gaudlitz

Frank Gaudlitz studierte von 1987 bis 1991 künstlerische Fotografie bei Arno Fischer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Seitdem realisiert er umfangreiche Langzeitprojekte, insbesondere in Russland, Osteuropa und Südamerika. Seine fotografischen Arbeiten widmen sich gesellschaftlichen Umbrüchen und deren Auswirkungen auf individuelle Lebensrealitäten. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet. 

Flucht. Fotografien aus Moldau, Armenien und Georgien von Frank Gaudlitz

Laufzeit: 19.09.2025 bis 01.03.2026
Öffnungszeiten: Mi – Fr 10 – 17 Uhr, Sa + So 11 – 18 Uhr
Sonderausstellung im Museum Europäischer Kulturen

Informationen zur Ausstellung

Zur Ausstellung erschien die zweisprachige (deutsch/ englisch) Publikation 24022022 | 33 Porträts | Frank Gaudlitz. Neben den Porträts enthält sie 18 Interviews und handgeschriebene Einträge aus dem „Buch der Wünsche“.