Im Kulturwerk der Staatsbibliothek Unter den Linden erinnert die eindrucksvolle Installation „Sensitive Content“ an den Krieg in der Ukraine und die Folgen für kulturelle Einrichtungen
Das Stabi Kulturwerk im Haus Unter den Linden ist eine Wunderkammer mit faszinierenden Objekten quer durch die Jahrhunderte. Denn in ihrer mehr als 360-jährigen Geschichte als Universal- und Forschungsbibliothek hat die Staatsbibliothek so vielfältige wie wertvolle Sammlungen erwerben können, darunter abendländische, orientalische und ostasiatische Handschriften, geographische Karten, Globen und Atlanten, Musiknoten, Autographe und Nachlässe sowie historische und moderne Druckschriften. Und alles, was hier zu sehen ist, wird dank einer raffinierten Beleuchtungstechnik in ein magisches Dunkel getaucht, das den konservatorischen Standards geschuldet ist, die für die Präsentation solcher Kostbarkeiten nötig sind. Doch am Ende führt der lange Weg durch die Vitrinen, Schautafeln und Medienstationen in die hohe, helle Rotunde am nördlichen Ende des Gebäudes.
In deren Mittelpunkt ist normalerweise eine Klanginstallation mit bedeutenden Stimmen aus verschiedenen Epochen zu hören. Derzeit ist dort stattdessen ein Environment aufgebaut, das wie ein Schock nach dem wirkt, was den Besucher*innen bis dahin geboten wurde. Während es vorher nämlich um Bergung, Bewahrung und Restaurierung ging, um Empathie und Achtsamkeit gegenüber den Zeugnissen der Vergangenheit, breiten sich nun Gewalt und Chaos aus. Es handelt sich bei „Sensitive Content“ um eine Arbeit von Dariia Bila, Buchgestalterin und Bühnenbildnerin, und der Architektin Sofiia Hupalovska. Die beiden Ukrainerinnen haben sie zuerst auf der Leipziger Buchmesse 2023 gezeigt, für die sie in Kooperation mit der Botschaft der Ukraine in Deutschland und dem Ukrainian Book Institute geschaffen wurde. Auf Anregung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth wurde sie danach ins Stabi Kulturwerk übernommen und an die veränderte räumliche Situation angepasst. Jenseits der trubeligen Messeatmosphäre erscheint die Installation jetzt im kontemplativen Rahmen der Rotunde wie ein Mahnmal für Zerstörung, Repression, Krieg.
Es ist möglich, um das fragmentierte Ensemble herumzugehen und jeweils andere Perspektiven einzunehmen. Als erstes fällt auf, dass es ganz in Weiß gehalten ist, eigentlich die Farbe der Unschuld, der Reinheit, des Friedens. Die ramponierten Elemente freilich sind Fundstücke aus dem Trümmerfeld der Katastrophe, die durch den russischen Angriffskrieg über die Ukraine hereingebrochen ist. Sie stammen aus fünf Bibliotheken, die durch Luftangriffe zerstört oder durch einquartierte russische Soldaten in besetzten Gebieten schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden. Mit Unterstützung des Ukrainian Book Institute konnten Dariia Bila und Sofiia Hupalovska mit den Leitungen zerstörter Bibliotheken in Kontakt kommen und originale Möbel für die Installation sichern, die mit künstlerischen Mitteln an die Vernichtungen des Kulturgutes erinnern will. Durch tatkräftige logistische Unterstützung des ukrainischen Außenministeriums konnten die Gegenstände nach Leipzig und anschließend nach Berlin transportiert werden – aus gerade erst durch die ukrainischen Streitkräfte zurückeroberten Orten sowie der kriegsgezeichneten Stadt Tschernihiw.
Wie in Panik getarnt, aber alle sollen die Kriegsschäden sehen
Laut einer Zählung der UNESCO wurden seit Februar 2022 mindestens 260 Kulturstätten zerstört, darunter religiöse und historische Bauwerke, Museen, Denkmäler und eben Bibliotheken. Dazu zählen die in einem historischen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert untergebrachte Jugendbibliothek und die Mychajlo Kozjubynskyj Stadtbibliothek in Tschernihiw, die nach Wladimir Korolenko benannte wissenschaftliche Bibliothek der Region Tschernihiw sowie die städtischen Bibliotheken in Shybene und Rozvazhiv. In „Sensitive Content“ sind aufgerissene Karteikästen und kaputte, umgeworfene Stühle zu sehen, ein Schränkchen ist brachial aufgebrochen, eine Regalwand wurde möglicherweise von Schüssen oder Splittern getroffen. Verloren steht dazwischen der wie geplündert wirkende Schreibtisch, an dem der Bibliothekar in Tschernihiw die neu erworbenen Bücher für die Nutzung vorbereitete. Lose liegen ein paar Drucksachen herum, illustrieren bedrückend die Leere und den Verlust und die systematische Destruktion des kulturellen Gedächtnisses.
Mit Fotografien von derlei real dokumentierten Kriegsszenarien möchten die sozialen Medien, zumal Instagram, die User*innen – warum auch immer – nicht konfrontieren. Deshalb werden sie als „Sensitive Content“ (etwa: „Inhalt, der verstören könnte“) nur auf Nachfrage und hinter Filtern gezeigt. Natürlich wächst dadurch die Gefahr, dass viele solcher Inhalte aus der öffentlichen Sichtbarkeit verschwinden. Was aus den Augen ist, ist allerdings außerdem bekanntlich bald aus dem Sinn. Damit das nicht passiert, haben Dariia Bila und Sofiia Hupalovska sämtliche ausgestellten Objekte weiß gestrichen, die Möbel, die Karteikästen, die paar Bücher – nicht hochglänzend und perfektionistisch, sondern rau, wie panisch und mit Schlieren, sozusagen rasch zur Tarnung. Es hat geklappt, denn solcherart verfremdet ist das Environment nun „instagrammabel“ und wieder social-media- und öffentlichkeitstauglich – und kann ohne Einschränkungen betrachtet werden. Diese ästhetische Strategie zieht – erst recht für das Publikum vor Ort – überdies eine beklemmende Änderung der Wahrnehmung nach sich. In seiner nackten Reduktion erzählt das Ensemble nämlich nicht weniger als ein realistisches Foto vom Krieg und dessen Folgen.
Im Gegenteil: Performativ setzt die Installation die Phantasie der Besucher*innen in Bewegung, regt sie an, die Bruchstücke selbst zu ergänzen und in einen größeren räumlichen Zusammenhang zu bringen, der bis zu bombardierten Häusern, Brücken, Städten – und Menschen reicht. Die optische Kargheit und konzentrierte Abstraktion weiten den Blick und die Sinne und lassen noch einmal anders als während der Abendnachrichten darüber nachdenken, was passiert, wenn ein Krieg losgetreten wird, was übrig bleibt von einer Zivilisation und wie es in der Ukraine jetzt schon aussieht, obwohl der Krieg dort schrecklicherweise keineswegs beendet ist.
Insofern verzichtet man im Stabi Kulturwerk konsequent auf fotografische und schriftliche Begleitkommentare. Weiterführende Erläuterungen und Materialien können sich Interessierte indes per QR-Code herunterladen und die bestürzende Differenz zwischen den Orten vor und im Krieg überprüfen. Das ist nicht schön, aber es ist wichtig, oder, wie es die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann formulierte: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
Sensitive Content – Zerstörte Bibliotheken in der Ukraine: Bis 8. 10., Stabi Kulturwerk, Staatsbibliothek zu Berlin, Unter den Linden 8, 10117 Berlin, Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr.