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Die Vielfalt der chinesischen Medizin enthülltEinblicke in medizinische Manuskripte aus der Vergangenheit

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SJ Zanolini ist Doktorand*in im Fach Geschichte der Medizin an der Johns Hopkins University School of Medicine und forscht derzeit im Rahmen der Dissertation zu Reisbrei und essbaren Pilzen. Als Forschungsstipendiat*in an der Staatsbibliothek zu Berlin beschäftigte Zanolini sich mit dem Thema „Everyday Medicine: Prescribed Diets in early Modern China“ aus medizinhistorischer Perspektive.

Was ist Ihr beruflicher Hintergrund und Schwerpunkt?

Ich bin derzeit Doktorand*in in der Geschichte der Medizin an der Johns Hopkins University School of Medicine. Meine Forschung konzentriert sich auf die „Alltagsmedizin“, die im China des 18. Jahrhunderts verwendet wurde.  Bevor ich jedoch diesen Weg der historischen Forschung und der vorbereitenden Ausbildung in chinesischer Sprache einschlug, war ich zugelassene Ärzt*in für ostasiatische Medizin. Ich habe an der Dongguk University in Los Angeles Akupunktur und Kräuterkunde studiert und nach meinem Abschluss ab 2012 in Kalifornien und von 2019 bis 2020 in Maryland als Gemeindeakupunkteur*in praktiziert.  

 

Darstellung eines Gesichts

Abbildung aus Zhenjiu jingluo huichao 針灸經絡彙抄 (“Manuskript mit Daten und Leitbahnen der Akupunktur“). Das Manuskript ist Teil eines siebenbändigen Werks zu Akupunktur, Äußerer Medizin und medizinischen Rezepten, späte Qing/frühe Republikzeit (Ende 19./Anfang 20.Jh.), Staatsbibliothek zu Berlin, Ostasienabteilung, Slg. Unschuld 8559.

Wie sind Sie zu Ihrer Arbeit bei der Staatsbibliothek zu Berlin gekommen? Wie war die Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen dort?

Die Sammlung chinesischer medizinischer Manuskripte in der Staatsbibliothek ist wirklich weltberühmt! Sie wurde von einem der ersten Pioniere der historischen Forschung zur chinesischen Medizin im Westen, Paul Unschuld, gestiftet. Es war schon immer mein Traum, mit diesen Manuskripten zu arbeiten, und als die Reiseschwierigkeiten nach Asien bis weit in die Pandemie hinein anhielten, war die Reise nach Berlin die nächstbeste Möglichkeit für meine Forschung. Die Arbeit an der Staatsbibliothek war hervorragend – die Mitarbeiter*innen sind sehr freundlich und die Sammlung ist einmalig.

Können Sie mir etwas über die chinesischen medizinischen Manuskripte erzählen?

Die gesamte Sammlung besteht aus über 1.000 einzelnen Manuskripten, die alle handschriftlich verfasst sind. Die meisten stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, aber viele enthalten auch Auszüge aus älteren Texten. Einige dieser Auszüge sind Passagen aus kanonischen, erhaltenen Werken, was interessant ist, weil es zeigt, welche Teile des Kanons den alten Ärzt*innen wichtig waren. Noch interessanter sind einzigartige Manuskripte, die von ansonsten unbekannten Ärzt*innen verfasst wurden, denn sie zeigen die Vielfalt der Praktiken der chinesischen Medizin, die außerhalb der bekannteren Kreise der sehr elitären Gelehrten-Praktizierenden existierten.

Was kann man mit den digitalisierten Manuskripten machen? Was sind die Erfahrungen der Nutzer*innen?

Ein immer größerer Teil der Unschuld-Manuskripte wurde digitalisiert, so dass sie von Wissenschaftler*innen überall gelesen und genutzt werden können.  Das ist ein großer Fortschritt, denn man kann mit einem digitalisierten Manuskript fast alles machen, was man auch mit dem Original machen kann – es durchlesen, heranzoomen, um die Handschrift zu analysieren, nach orthografischen Varianten, hinzugefügter Interpunktion und anderen Lesezeichen suchen. Außerdem kann man diese Dinge tun, ohne die Kosten und den CO2-Fußabdruck einer Reise auf sich nehmen zu müssen und ohne zu riskieren, dass sehr alte, manchmal recht zerbrechliche Seiten beschädigt werden. Einige der Manuskripte, die ich persönlich in Augenschein genommen habe, waren so beschädigt, dass die Restaurator*innen sie neu einbinden mussten, und andere tragen den Abdruck früherer Schäden durch Insekten oder Wasser. Die Mitarbeiter*innen der Staatsbibliothek sind sehr kompetent und haben hervorragende Arbeit geleistet, um die Sammlung zu erhalten und zu digitalisieren!

Dennoch ist es für diejenigen, die sich mit der genauen Lektüre bestimmter Manuskripte befassen, immer wichtig, sich mit dem physischen Text zu beschäftigen und ihn zu prüfen, wenn dies überhaupt möglich ist. Einer meiner ehemaligen Lehrer, Matthias Richter, argumentiert in seiner Monografie The Embodied Text (Brill, 2013), dass Wissenschaftler*innen Manuskripte nicht so studieren sollten, als wären sie gedruckte Werke in der rezipierten Tradition, wenn wir so viel von ihren physischen Eigenschaften lernen können. Dazu gehören Dinge wie die Art und Größe des Papiers, die Art des Einbands, Abnutzungsspuren durch Umblättern oder häufiges Nachschlagen in der Vergangenheit, Marginalien, ungewöhnliche orthografische Konventionen, der kalligrafische Stil selbst und von späterer kalligrafischer Hand hinzugefügte Anmerkungen. Thies Staack, ein weiterer Schüler Richters, hat diese Methode mit sehr gutem Erfolg auf eine der Unschuld-Sammlungen angewandt und die Datierung und Provenienz einer sehr großen Handschrift der Sammlung revidiert. Obwohl es also möglich ist, fast alles mit einer digitalisierten Handschrift zu machen, bin ich keineswegs der Meinung, dass dies die persönliche Begegnung mit Handschriften ersetzen sollte, wenn man dazu die Möglichkeit hat.

Darstellung einer Hand
Abbildung aus Xiao’er tuina mixu 小兒推拿秘訹 („Geheime Techniken für die Massage bei Kindern“), eines der frühesten Manuskripte der Sammlung Unschuld, datiert 1583, durch das Manuskript ziehen sich Darstellungen von Fischen, Blättern usw., spätere Hinzufügungen von anderer Hand, Staatsbibliothek zu Berlin, Ostasienabteilung, Slg. Unschuld 8567
Manuskriptseite
Abbildung aus Fabing shu 法病書 “Buch zu Berufskrankheiten”, das sich mit apotropäischer Heilung beschäftigt, Manuskript von 1914, Staatsbibliothek zu Berlin, Ostasienabteilung Slg. Unschuld 8554
Darstellung einer Person mit Bogen
Abbildung aus Fabing shu 法病書 “Buch zu Berufskrankheiten”, das sich mit apotropäischer Heilung beschäftigt, Manuskript von 1914, Staatsbibliothek zu Berlin, Ostasienabteilung, Slg. Unschuld 8554
Darstellung einer Person
Abbildung aus Zhenjiu jingluo huichao 針灸經絡彙抄 (“Manuskript mit Daten und Leitbahnen der Akupunktur“). Das Manuskript ist Teil eines siebenbändigen Werks zu Akupunktur, Äußerer Medizin und medizinischen Rezepten, späte Qing/frühe Republikzeit (Ende 19./Anfang 20.Jh.), Staatsbibliothek zu Berlin, Ostasienabteilung, Slg. Unschuld 8559

Wie relevant sind sie für unsere Zeit? Kann der Inhalt in der Praxis angewendet werden? Ist er noch zeitgemäß?

Heutzutage ist es meiner Meinung nach leider üblich, alternativmedizinische Traditionen zu verdinglichen, indem man die TCM (eine moderne Standardisierung der Akupunktur- und Kräutermedizin) mit mehr als zwei Jahrtausenden medizinischen Denkens und medizinischer Praxis nicht nur in China, sondern in ganz Ostasien vermengt. Die sinographischen Medizinkulturen – damit meine ich die verschiedenen Traditionen der medizinischen Praxis in den Ländern, die wir heute als China, Korea, Japan und Vietnam bezeichnen – waren nie einheitlich, auch nicht innerhalb bestimmter Regionen, sondern die Praktizierenden debattierten über Theorien, taten „geringere“ Praktizierende als Quacksalber ab, schrieben Bücher, in denen sie die Überlegenheit ihrer eigenen Praxisnormen behaupteten, und bildeten manchmal mit Hilfe engagierter Schüler*innen eigene Traditionen. Diese vielfältigere Sicht auf die Vergangenheit hat etwas unglaublich Humanisierendes, denn sie ermöglicht einen Blick auf die antiken Ärzt*innen, die sich – nicht anders als die allopathischen Ärzt*innen heute – um der Gesundheit ihrer Patient*innen willen sowohl mit Empirie als auch mit breitem Textstudium beschäftigten. Die Ärzt*innen der Antike arbeiteten aktiv an der Verfeinerung ihrer Praxis, indem sie die alten Wissensformen in Ehren hielten, sich aber auch an zeitgenössischen Studien und Debatten beteiligten. Manuskripte sind dafür eine besonders gute Quelle, weil sie etwas über die Praxis unterhalb der Elite zeigen, die es in den Korpus der gedruckten medizinischen Texte geschafft hat. Die antiken Praktiker*innen, die Passagen aus populären und weniger populären Büchern kopierten und manchmal ihre eigenen Ideen zu den von ihnen kopierten Passagen ausarbeiteten, spielten eine aktive Rolle bei der Gestaltung des medizinischen Wissens, das ansonsten der historischen Betrachtung verborgen bleibt. Und noch toller ist, dass einige Texte Behandlungen oder Ideen aufzeichnen, die nirgendwo anders bezeugt sind und daher möglicherweise aus volkstümlichen oder mündlichen Heiltraditionen stammen. Ohne diese Sammlung wüssten wir nicht, dass bestimmte Heilmittel jemals verwendet wurden!

Haben Sie während Ihrer Arbeit in Berlin neue Erkenntnisse gewonnen?

Mein Denken über die Vielfalt auf den verschiedenen Ebenen der Praxis ist viel umfassender geworden. Außerdem habe ich ein besseres Verständnis für die Notwendigkeit entwickelt, nicht nur über „Medizin in China“ zu sprechen, sondern auch sorgfältigere, lokale Studien durchzuführen. Die Namen verschiedener Arzneimittel oder Therapeutika sind stark lokalisiert und zeigen regionale Trends auf, die interessant sind, aber leicht übersehen werden, wenn man nur das große Ganze betrachtet. Lange Zeit wussten wir so wenig über die chinesische Medizingeschichte, dass wir wirklich Studien zum großen Ganzen brauchten; jetzt, denke ich, ist genug von diesem Rahmen entwickelt worden, dass es an der Zeit ist, kleinere Lücken zu füllen – nach Regionen, nach Zeiträumen, nach Themen. Wenn wir erst einmal über mehr Details verfügen, kann das große Bild in den Fokus rücken.

Was ist der interessanteste Fund, den Sie gemacht haben?

Es ist so schwer, nur einen auszuwählen! Ich weiß nicht, ob es sich speziell um meinen Fund handelt, aber eines der ersten Manuskripte, die ich mir angesehen habe, ist mir besonders in Erinnerung geblieben, weil es ein so erstaunlicher Text ist, aber paradoxerweise habe ich in keiner anderen Quelle etwas über den*die Autor*in finden können. Es handelt sich um sieben Bände, die alle in einer bemerkenswert schönen Handschrift in der späten Qing-Dynastie verfasst wurden und ein umfassendes Spektrum medizinischer Themen abdecken – von der Bestimmung der Akumoxa-Punkte über Kräuter- und Ernährungstherapien bis hin zur Differentialdiagnose und Behandlung verschiedener Krankheiten. Im Katalog wird darauf hingewiesen, dass es möglicherweise als Lehrbuch gedacht war, das nie gedruckt wurde, und ich stimme dem zu. Dieser umfassende Umfang ist für mich selbst sehr faszinierend, weil er so modern und ehrgeizig wirkt, fast wie ein Lehrbuch.

Hinzu kommt, dass ein Großteil des eigentlichen Textes dieser sieben Bände zwar aus verschiedenen vorhandenen Quellen gesammelt und kopiert wurde, es aber einen Originalkommentar gibt, und der Kommentar ist wirklich gut! Ich wurde als Ärzt*in ausgebildet, bevor ich meine Karriere als historische Forscher*in begann, daher weiß ich ein paar Dinge über die medizinische Praxis, und fast jedes Mal, wenn ich im Haupttext etwas entdeckt habe – und mich über einen bestimmten Begriff, eine bestimmte Praxis oder irgendetwas anderes wunderte – hat der*die Autor*in im Kommentar eine hilfreiche Glosse zu meiner Frage angeboten! Das lässt mich vermuten, dass dieses Buch, wenn es denn tatsächlich ein Lehrbuch war, nicht für reine Anfänger*innen geschrieben wurde, sondern um etwas fortgeschritteneren Schüler*innen zu helfen, sich von den Grundlagen aus weiterzuentwickeln.

Eine andere Sache, die ich an diesem Text faszinierend, aber auch ziemlich traurig finde, ist, dass ich, obwohl der*die Autor*in offensichtlich sehr gebildet, in der vorhandenen Literatur gut bewandert und pädagogisch versiert war, noch keine Informationen über den*die Kopist*in oder den*die vermutliche Autor*in finden konnte. Wie viele andere Ärzt*innen sind uns völlig unbekannt? Welche anderen Manuskripte wie dieses könnten einst geschrieben worden sein, aber verloren gegangen sein in dem, was Stephen Owen das „Treibgut“ der Texte nennt, die die vielen metaphorischen Schiffbrüche historischer Umwälzungen unversehrt überstanden haben?

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft und die nächsten Schritte?

Ah, das ist eine schwierige Frage für ein*e Doktorand*in! Im kommenden Jahr hoffe ich, einn mehr oder weniger fertigen Entwurf meiner Dissertation vorlegen zu können. Nach dem Abschluss, wer weiß? Vielleicht gewinne ich im Lotto und finde einen Lehrauftrag, oder ich gehe zurück in die klinische Praxis und forsche und schreibe nebenbei. In meiner Idealvorstellung würde ich tatsächlich eine Postdoc-Stelle finden, die mich zurück nach Berlin bringt, weil ich die Zeit hier so sehr genossen habe (ja, sogar im berühmt-berüchtigten trüben Winter).

 


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