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„Ich genieße so viel Wissen an einem einzigen Ort“

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Carlos Nupia arbeitet seit über 20 Jahren im Bereich internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit und im Wissenschaftsmanagement. Der kolumbianische Kommunikations- und Politikwissenschaftler ist im Rahmen des BMBF-geförderten Verbundprojektes Mecila im Ibero-Amerikanischen Institut (IAI) tätig. Im Gespräch gibt er einen ersten Einblick in wichtige Ergebnisse der Studie des IAI zur Lateinamerika- und Karibikforschung im deutschsprachigen Raum, die in diesem Jahr erscheinen wird.

Herr Nupia, was machen Sie am Ibero-Amerikanischen Institut? Woran arbeiten Sie gerade?

Carlos Nupia: Momentan arbeite ich an einer Studie des IAI über Stand und Perspektiven der Lateinamerika- und Karibikforschung im deutschsprachigen Raum. Wir führen eine Bestandsaufnahme durch, in der wir Forschung und Lehre an Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstitutionen in 14 Disziplinen der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften analysieren und die wichtigsten Tendenzen identifizieren. Ziel ist es darzulegen, vor welchen Herausforderungen die Lateinamerika- und Karibikforschung aktuell steht in einem Kontext multipler globaler Krisen und tiefgreifender Veränderungen, in dem den Area Studies, der Transregionalität und der Interdisziplinarität eine neue Rolle zukommt.

 

Warum ist es wichtig, dies zu untersuchen?

Diese Studie ist entscheidend für eine Stärkung der Lateinamerika- und Karibikforschung im deutschsprachigen Raum, weil sie deren vielfältigen Beitrag systematisch erhebt. 2011 hat das IAI im Auftrag des BMBF eine ähnliche Studie durchgeführt, die zur einer wichtigen Referenz, auch für Entscheidungsträger der Wissenschaftspolitik, geworden ist, Wir möchten jetzt „ein neues Foto der sich ändernden Wissenschaftslandschaft in diesem Bereich erstellen“, also eine aktuelle Bestandsaufnahme vornehmen und herausfinden, welche Kapazitäten im Sinne von Institutionen, Clustern, Stellen, Art des Personals der Lateinamerika- und Karibikforschung in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften gegenwärtig zur Verfügung stehen. Außerdem ist es wichtig zu verstehen, wie sich die Rahmenbedingungen verändert haben. Es gibt neue förderpolitische Entwicklungen, institutionelle Richtlinien, neue Formen der Kooperation, neue thematische Schwerpunkte  und neue Organisationsformen in der Forschung.

Wer ist an der Studie beteiligt?

Die Studie wird vom IAI durchgeführt. Dies entspricht der Brückenfunktion des Instituts. Das IAI kennt die wissenschaftlichen communities, die zu Lateinamerika und der Karibik arbeiten, sehr gut. Wir haben annähernd 600 Wissenschaftler*innen in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz  identifiziert. Diese befragen wir in einer Umfrage zu den Merkmalen und der Bedeutung ihrer Arbeit, zu den von ihnen genutzten Formaten der Zusammenarbeit, den Schwerpunktthemen, die sie bearbeiten, und zu den Herausforderungen der regionalen Orientierung im Kontext ihrer jeweiligen Referenzdisziplin. Darüber hinaus haben wir vier Workshops mit Wissenschaftler*innen aus Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie Vertreter*innen von Fördereinrichtungen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt,  in denen wir diese Herausforderungen diskutiert haben.

Wie sind Sie ans IAI gekommen, was haben Sie vorher gemacht?

Ans IAI bin ich gekommen, weil ich mich auf eine Stellenausschreibung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beworben habe. Ich habe an der Freien Universität Berlin promoviert und meine Doktorarbeit im Lesesaal des IAI geschrieben. Dabei habe ich mich immer gefragt, wie es wäre, hier zu arbeiten. Diese Möglichkeit ergab sich dann mit einem Thema, das mich begeistert und zu dem ich seit mehr als 20 Jahren arbeite: die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit. Für diese Arbeit bin ich nach 11 Jahren nach Deutschland zurückgekehrt. Vorher war ich Geschäftsführer des vom DAAD geförderten Deutsch Kolumbianischen Friedensinstituts CAPAZ in Bogotá, Kolumbien.

CAPAZ, worum geht es da?

CAPAZ ist ein internationales Kooperationsprojekt, das von der Universität Gießen koordiniert und durch den DAAD vom Auswärtigen Amt finanziert wird. Es ist eine Vernetzungsplattform für wissenschaftliche Kooperation, die die Friedens- und Konfliktforschung in Kolumbien gestärkt hat. Mehr als 30 deutsche und kolumbianische Universitäten wirken in diesem Netz zusammen. Untersucht werden Themen wie „Transitional Justice“ („Übergangsjustiz“), historisches Gedächtnis, politische Bildung und Friedensbildung. Es ist wirklich etwas Besonderes, dieses Projekt seit seinen Anfängen mitgestaltet zu haben und es heute etabliert zu sehen. 

Koproduktion von Wissen und Internationalisierung der Forschung sind Forschungsthemen, die Sie begleiten. Warum diese Themen, was interessiert Sie daran?

Die Produktion und Zirkulation von Wissen ist ein Thema, das mich begeistert. Es ist ein sehr komplexes Thema, dem ich mich auch aus dem Blickwinkel meiner früheren Arbeit, der Geschäftsführung von CAPAZ genähert habe. Wenn man in der internationalen wissenschaftlichen Kooperation arbeitet, merkt man, dass Wissen schwer zu handhaben ist, aber eine unendliche Welt von Möglichkeiten bietet. Es gibt eine sehr interessante Diskussion darüber, in welcher Form wissenschaftliches Wissen mit anderen Formen des Wissens interagiert. Dies zu begreifen ist entscheidend, um zu einer pluralen, nachhaltigeren Wissenschaft beizutragen, die globalen gesellschaftlichen Herausforderungen wie Migration, Klimawandel und Friedensförderung angemessener gerecht wird.

Ein typischer Tag in Ihrem Beruf, gibt es den? Wie fängt er an?

Mein Tag beginnt damit, dass ich auf verschiedene Arten von E-Mails antworte. Als wir die Umfrage zur Studie der sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Lateinamerika- und Karibikforschung im deutschsprachigen Raum gestartet haben, habe ich viele Anfragen von Wissenschaftler*innen beantwortet. Außerdem informiere ich mich regelmäßig zu Neuigkeiten aus der Wissenschaftspolitik. Ich habe mehrere Newsletter und Zeitschriften von wissenschaftlichen Fördereinrichtungen abonniert. Momentan systematisiere ich die Ergebnisse der Studie, die wir im Juni auf der Tagung „Space matters: Lateinamerika in Wissenschaft und Politik“ der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung ADLAF im IAI präsentieren werden. Wir haben eine gute Grundlage an statistischen Daten und Kontextinformationen geschaffen. Ich denke, wir werden viel über die Zusammenarbeit zwischen Lateinamerika und der Karibik und den deutschsprachigen Ländern dazulernen.

Und noch eine ganz andere Frage: In Ihrer Arbeit geht es viel um verschiedene Perspektiven. Haben Sie einen Lieblingsblickwinkel im IAI?

In den Sozialwissenschaften gibt es immer kritische Sichtweisen. Wenn es um die Produktion und Zirkulation von Wissen geht, ist das IAI ein guter Ort, um unterschiedliche Perspektiven und Wissenspraktiken erfahren zu können. Ich finde es wichtig, auch kritische Blicke auf die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit zu berücksichtigen; dekoloniale Ansätze liefern hier wichtige Impulse. Das führt dazu, dass man sich jeden Tag kritisch mit dem, was man tut, auseinandersetzt und nach den bestmöglichen Formen der Zusammenarbeit sucht, um wissenschaftliche Arbeit zu machen, die auch gesellschaftliche Wirkungen erzielt. Ich frage mich durchgehend, wie Forschungen einen Beitrag dazu leisten können, Armut zu reduzieren oder von Gewalt geprägte Kontexte des Zusammenlebens umzugestalten. Ich denke, dies ist eine gesellschaftliche Rolle von Forschung, der in den internationalen Agenden eine immer größere Bedeutung beigemessen wird.

Und noch eine kurze persönliche Frage zum Schluss: Haben Sie einen Lieblingsort im IAI?

In den Sammlungen des Instituts verbergen sich viele Geschichten. Auf mich übt die Phonothek des IAI eine besondere Anziehung aus. Die Vinyl- und CD-Sammlungen bereiten mir ein ästhetisches Vergnügen. Ich erzähle gerne Geschichten über Klänge und Geräusche und ich glaube, in der Phonothek wartet noch eine ganze Welt voller Entdeckungen.

Studie zu Stand und Perspektiven der geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Lateinamerika- und Karibikforschung im deutschsprachigen Raum

Das Ibero-Amerikanische Institut (IAI) arbeitet seit der 2. Hälfte des Jahres 2022 an einer Studie zu Stand und Perspektiven der sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Lateinamerika- und Karibikforschung im deutschsprachigen Raum. Die Studie basiert auf umfassenden Literatur- und Internetrecherchen, der Durchführung einer Befragung von Wissenschaftler*innen an Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Interviews mit einzelnen Expert*innen sowie mehreren Workshops im IAI. Hierbei werden auch die Fördereinrichtungen berücksichtigt. Am 6. und 7. Juni 2024 findet im IAI die Tagung „Space matters: Lateinamerika in Wissenschaft und Politik“ der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung ADLAF statt, die sich mit Situation und Perspektiven der Lateinamerikaforschung beschäftigt und in deren Rahmen die Ergebnisse der Studie einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden. Die mehrsprachige Studie wird online zugänglich sein und breit gestreut werden. Sie ist Teil der strategischen Weiterentwicklung des IAI.

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Das Verbundprojekt Mecila (Maria Sibylla Merian International Centre for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences Conviviality-Inequality in Latin America)

Das Verbundprojekt Mecila (Maria Sibylla Merian International Centre for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences Conviviality-Inequality in Latin America) besteht seit 2017 und hat seinen Hauptsitz in São Paulo (Brasilien) mit weiteren Knoten in La Plata (Argentinien), Mexiko-Stadt (Mexiko), Köln und Berlin.

Das Zentrum erforscht vergangene und gegenwärtige Formen des sozialen, politischen und kulturellen Zusammenlebens in Lateinamerika und der Karibik und will zu einem besseren Verständnis von Konvivialität in vielfältigen und ungleichen Gesellschaften beitragen.

In einem Konsortium deutscher und lateinamerikanischer Institutionen arbeitet das IAI zusammen mit der Freien Universität Berlin, der Universität zu Köln, der Universidade de São Paulo (USP), dem Centro Brasileiro de Análise e Planejamento (Cebrap), dem Instituto de Investigaciones en Humanidades y Ciencias Sociales (IdIHCS/Conicet) der Universidad Nacional de La Plata und El Colegio de México. Mecila wird finanziert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF, Bundesministerium für Bildung und Forschung). Ziel der Förderlinie der Maria Sybilla Merian International Centre for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences des BMBF ist die Wissensproduktionen des sogenannten Globalen Südens nachhaltiger mit denen des sogenannten Globalen Norden zu verzahnen.

Nach einer dreijährigen Vorphase und einer erfolgreichen internationalen Evaluation des Verbundprojekts hat im April 2020 die sechsjährige Hauptphase von Mecila begonnen, die mit insgesamt rund 12 Mio. EUR durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Das IAI koordiniert das Teilprojekt: „Medialities of Conviviality and Information Infrastructure“.  Von April 2023 bis April 2024 liegt die German Directorship des Projekts beim IAI.

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