Wie geht man mit Museumsobjekten um, die in kolonialen Kontexten geraubt oder erworben wurden? Welche Mitsprachemöglichkeit haben Herkunfts-Communities und wie macht man ihre Perspektiven sichtbar? Verena Rodatus und Maria Ellendorff berichten von ihrer Arbeit am Ethnologischen Museum.
Verena Rodatus ist Kuratorin der Sammlungen Westafrika und südliches Afrika am Ethnologischen Museum Berlin. Zusammen mit Kerstin Pinther, Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst im globalen Kontext im Museum für Asiatische Kunst und Ethnologischen Museum, hat sie 2021/22 die Benin-Ausstellung neukuratiert. Gemeinsam mit Maria Ellendorff, seit 2023 stellvertretende Afrika-Kuratorin, hat sie die beiden im April 2024 eröffneten Vitrinen zu globalen und regionalen Verflechtungen des Königreichs Benin kuratiert und die Tagung „Exhibiting Difficult Histories: Benin Objects and their Potential for New Forms of Representation“ organisiert.
Frau Rodatus, Frau Ellendorff, Sie beide haben die Konferenz „Exhibiting Difficult Histories: Benin Objects and their Potential for New Forms of Representation” organisiert. Was war der Anlass?
Verena Rodatus: Die sogenannten Benin-Bronzen nehmen in der Debatte um die Dekolonisierung von Museen eine besondere Rolle ein. Insbesondere ethnologische Museen und ihre Bestände stehen aufgrund ihrer Objekte, die in kolonialen Kontexten geraubt oder erworben wurden, in der Kritik – eines der prominentesten Beispiele sind die 1897 geplünderten Benin-Bronzen.
Anlass der Konferenz war zum ersten die Erweiterung unserer Benin-Ausstellung im Humboldt Forum. Zum zweiten die Beobachtung, dass mit dem Eigentumsübertrag der in Deutschland befindlichen Benin-Objekte an Nigeria im Jahr 2022 eine ganze Reihe neuer Benin-Ausstellungen eröffnete, beispielsweise in Hamburg, Köln oder in Leipzig. Und zum dritten, dass seit der Eröffnung der Benin-Ausstellung in Berlin vermehrt Forschungsinteresse zu diesem Thema besteht.
Dies waren alles Gründe dafür, dass wir uns dafür entschieden haben, unsere kuratorische Praxis zusammen mit internationalen Wissenschaftler*innen und Museumsfachleuten – insbesondere aus Nigeria – zu diskutieren und zu reflektieren.
Kernthema war die Frage, wie Benin-Objekte aktuell in Museen in Europa, Nigeria und den USA ausgestellt werden. Worum ging es konkret?
Verena Rodatus: Zentrale Frage war, wie wir die gewaltvollen Geschichten des Kolonialismus und der Versklavung in Ausstellungen präsentieren können, ohne die Objekte einzig zu Zeitzeugen von kolonialen Gräueltaten zu machen, sondern auch ihre vielfältigen politischen, religiösen und sozialen Funktionen und ihre sich ändernden Bedeutungen aufzuzeigen.
In den letzten Jahren haben viele Museen Erzählungen über die Schattenseiten der Vergangenheit in ihre Ausstellungen aufgenommen und sich an Interessengruppen, insbesondere aus Nigeria, gewandt, um deren Stimmen zu hören. Damit wollen sie ihre eigene Deutungshoheit abgeben und Raum für neue und vielfältige Formen der Wissensproduktion schaffen.
Durch die Tagung wollten wir unseren Blick auch über die deutsche Museumslandschaft hinaus weiten. Internationale Wissenschaftler*innen stellten uns Fallstudien aus verschiedenen Museen in Deutschland, Großbritannien, den USA und Nigeria vor, die sich alle mit den Objekten, die sie beherbergen, aus ihrer ganz eigenen Situiertheit heraus beschäftigen. Ein solch vergleichender Ansatz gab uns Einblicke in die Art und Weise, wie Geschichte und Kultur aus unterschiedlichen Perspektiven interpretiert werden und eröffnete uns neue Wege für zukünftige Museumspräsentationen.
Wie haben sich die Gäste der Konferenz in die Debatte(n) eingebracht, was sind zentrale Aussagen?
Maria Ellendorff: Wir hatten vier Gäste aus England, Schweden, Nigeria und den USA eingeladen: Die britische Kulturwissenschaftlerin Annie E. Coombes, die sich seit den 1990er Jahren mit der kolonialismuskritischen Museumsanalyse beschäftigt, gab zunächst einen Überblick über kuratorische Strategien, mit denen Museen in Europa und Afrika in den letzten 30 Jahren „schwierige Geschichten“ aus kolonialen Kontexten präsentiert und verhandelt haben. Sie plädierte dafür, in Ausstellungen nicht zu stark vereinfachend „narratives of decolonization“ zu wählen, sondern die Idee der „Difficult Histories“ aus dem Symposiums-Titel eher zu verkomplizieren.
Staffan Lundén von der Universität Göteborg präsentierte eine vergleichende Untersuchung der Benin-Ausstellungen im British Museum und im National Museum von Benin City. Speziell fragte er danach, wie die Museen schmerzhafte und umstrittene Aspekte der Vergangenheit darstellen und wessen Geschichten im Zuge dessen hervorgehoben oder verschwiegen werden. Anhand mehrerer Beispiele sprach sich Lundén für einen theoretischen Ansatz aus, der bei der Untersuchung „schwieriger Geschichten“ aus kolonialen Kontexten neben der analytischen Kategorie der „Race“ auch die bisher eher vernachlässigten Kategorien „Class“ und „Gender“ stärker berücksichtigt.
Kokunre Eghafona, Kulturanthropologin an der Universität in Benin City, berichtete vom geringen Interesse der nigerianischen Bevölkerung an den im National Museum ausgestellten Objekten aus dem früheren Königreich Benin. Um die Ausstellung für das lokale Publikum attraktiver zu machen, plädierte sie für eine an afrikanischen Bedürfnissen ausgerichtete Ausstellungspraxis, die Objekte wie die Benin-Bronzen nicht ausschließlich als Kunstgegenstände inszeniert, sondern ihre religiöse, politische und rituelle Bedeutung herausstellt.
Tukufu Zuberi, Kurator am Penn Museum in Philadelphia, berichtete über den Prozess der vom ihm kuratierten Neugestaltung der Africa Galleries, wobei insbesondere die Perspektive der afro-amerikanischen Diaspora leitend war. Mit der kuratorischen Erneuerung war sein Ziel, die Museumsnarrative zu dekolonisieren. Zuberi wies gleichzeitig darauf hin, dass Dekolonisierung jedoch weit über das Museum hinausgeht. Sie erfordert eine tiefgreifende Veränderung globaler ökonomischer Ungleichheiten und westlicher Deutungshoheiten.
Welche Institutionen und Museen machen schon viel richtig? Gibt es hier eine Zusammenarbeit und/oder Vorbilder?
Maria Ellendorff: Da die jeweiligen Museen ihre ganz eigenen Institutionsgeschichten und daher auch ihre eigene spezifische Beziehung zum Königreich Benin haben, die in die Präsentationen einfließen, ist es schwierig ein „Best-Practice-Modell“ für Ausstellungen auf alle anzuwenden.
Museumskooperationen gibt aber es natürlich auf nationaler wie internationaler Ebene. Im Kontext der Restitution ist die Benin Dialogue Group wichtig, in der das Ethnologische Museum seit 2010 Mitglied ist; Mitglieder der Benin Dialogue Group haben die Rückgabe der Objekte verhandelt und erst möglich gemacht. Das internationale Projekt Digital Benin ist zudem wegweisend für die Forschung. Als digitale Plattform konzipiert, dokumentiert das Projekt über 5000 Objekte aus 130 Institutionen in 20 Ländern; darunter auch die in Berlin beherbergten Objekte.
Seit Ende April werden in der Benin-Ausstellung des Ethnologischen Museums zwei neue Vitrinen gezeigt. Was hat sich verändert und wieso?
Maria Ellendorff: Wir haben zwei neue Vitrinen in der Ausstellung eröffnet, um die historischen Perspektiven auf das Königreich Benin über den kolonialen Kontext hinaus zu weiten. Eine Vitrine thematisiert die vorkolonialen Austauschprozesse Benins mit seinen benachbarten Königreichen, die sich insbesondere in der Kunst widerspiegeln. Die andere kontextualisiert den transatlantischen Handel, der die Produktion der Messingartefakte im Benin-Königreich in großem Stil förderte.
Diese globalen Verflechtungen beeinflussen die Restitutionsdebatten noch heute. Auszüge aus Zeitungsartikeln, die in dieser Ausstellung zu sehen sind, verdeutlichen die Einwände von Nachkommen versklavter Menschen, die argumentieren, dass die Bronzen Teil ihres Erbes seien. Schließlich wurden ihre Vorfahren in die Sklaverei geschickt, um das für die Herstellung der Benin-Bronzen verwendete Messing zu beschaffen.
Zudem wird in dieser neuen Vitrine die Rolle Deutschlands als Hauptlieferant von Messing hervorgehoben; insbesondere die Familie Fugger, die einen Exklusivvertrag mit der portugiesischen Krone hatte, profitierte massiv vom transatlantischen Handel. Insgesamt ist es unbestreitbar, dass die Entwicklung des modernen Europas und Nordamerikas − in ihrer Gesamtheit − von der Arbeit versklavter Menschen abhängig war.
Welchen Einfluss hatte die 2021 getroffene Entscheidung zur Rückgabe von 512 Benin-Objekten in der Ausstellungskonzeption?
Verena Rodatus: In Folge der von Bund, Ländern und Museumsrepräsentant*innen verabschiedeten „Benin-Erklärung“ hatte das Ethnologische Museum im Sommer 2021 die Entscheidung getroffen, alle 512 Objekte, die in direktem Zusammenhang mit der sogenannten britischen Strafexpedition von 1897 nach Berlin gelangt waren, an das Herkunftsland Nigeria zu restituieren.
In gemeinsamer Absprache mit den nigerianischen Partner*innen verbleibt ein Drittel der Sammlung als Leihgabe in Berlin. Als Kuratorinnen schien es uns vor diesem Hintergrund nötig, die bereits seit 2015 fertig geplante Ausstellung zu Benin innerhalb kürzester Zeit vollständig neu zu konzipieren. Wir haben einen prozessorientierten Ansatz gewählt, der die hochdynamische öffentliche Debatte widerspiegelt und Raum für Zusammenarbeit und Überarbeitung lassen soll.
Die Ausstellung vermittelt die Geschichte der kolonialen Plünderung und erzählt die gemeinsame Sammlungsgeschichte von Benin City und Berlin und nimmt dabei Bezug auf die Restitution der Kunstwerke. In ihrer jetzigen Form thematisiert die Ausstellung − vorbehaltlich weiterer Überarbeitungen − den künstlerischen Charakter der ausgestellten historischen Objekte, aber auch ihre jeweilige Materialität als Träger von Erinnerung und rituellem Inventar, kurzum: die Benin-Bronzen werden unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für eine globale Kunstgeschichte betrachtet.
Wie werden die Herkunfts-Communities einbezogen und wie machen sie deren Perspektiven in der Ausstellung sichtbar?
Verena Rodatus: Die in einem Raum gezeigten Interviewstatements von Wissenschaftler*innen, Künstler*innen sowie Vertreter*innen deutscher und vor allem nigerianischer Museen und des Königshauses in Benin City geben einen Einblick in die Komplexität und Vielstimmigkeit des Diskurses. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten sie die Bedeutung der Benin-Bronzen und die aktuelle Debatte um die Rückgabe, um in die Zukunft zu blicken.
Darüber hinaus laden wir regelmäßig im Rahmen des Fellowship-Programms des „Kollaborativen Museums“ des Ethnologischen Museums Wissenschaftler*innen und Künstler*innen aus Nigeria ein, um sich mit der Sammlung zu beschäftigen und mit uns gemeinsam die Ausstellung zu erweitern. So sind neue Texte, Videos und künstlerische Interventionen entstanden, deren Autorschaft in der Ausstellung explizit markiert werden sollen.
Wie gehen Sie mit Begriffen um, die wir heute nicht mehr verwenden, die aber z.T. in historischen Dokumenten zu lesen sind?
Maria Ellendorff: In unserer Ausstellung bemühen wir uns um eine rassismus- und diskriminierungskritische Präsentation, die Bild und Text gleichermaßen einschließt. Historische Dokumente mit teils problematischen Inhalten sollen einen Eindruck der kolonialen Situation geben. Wir haben den historischen Fotografien und den Archivdokumenten kommentierende Texte zur Seite gestellt, die verdeutlichen, dass wir uns heute von solchen Repräsentationen distanzieren.
Welche Rolle spielt die moderne und zeitgenössische Kunst in der neu kuratierten Ausstellung?
Verena Rodatus: Ein dokumentarisch angelegter Teil fragt nach der Bedeutung der historischen Benin-Objekte für die moderne Kunst Nigerias und eine Ästhetik der Dekolonisation. Kunstwerke zeitgenössischer nigerianischer Künstler*innen und Designer*innen sind zu sehen, die sich Bildwelten, Techniken und Inhalte der Benin-Künste angeeignet, in neue Materialien übersetzt und umgedeutet haben.
Victor Ehikhamenor beispielsweise bezieht sich in seinem Werk „The King, the Priest, the chosen one“ (2022) auf den König von Benin in seiner Doppelfunktion als politischen Herrscher und wichtigsten Priester. Auf einem Wandteppich mit netzartigem Spitzenstoff umrahmen orange-rote Rosenkränze aus Plastik den rotgewandeten Würdenträger, als Material dienen zudem Miniaturbronzen. Das Werk setzt sich mit den ästhetischen und inhaltlichen Prinzipien historischer Kunstwerke auseinander.
Benin-Ausstellung im Humboldt Forum
- Ethnologisches Museum (Staatliche Museen zu Berlin) im Humboldt Forum
- Raum 209, 210: Das Königreich Benin, Benin-Bronzen in Berlin
- Schloßplatz, 10178 Berlin
- Öffnungszeiten: Mo, Mi, Do, Fr, Sa, So: 10:30 bis 18:30 Uhr, Di geschlossen
Weiterführende Links
- Zum Konferenz-Protokoll
- YouTube-Aufzeichnung (Begrüßung und Einführung)
- YouTube-Aufzeichnung (Engaging Histories, Envisaging Futures)
- YouTube-Aufzeichnung (On the ‘Benin Bronzes’, Hamilton’s pajamas, Powis’s mother, Potentials for Forms of Representation)
- News: Erweiterung der Benin-Ausstellung des Ethnologischen Museums und Symposium im April 2024 (5.4.2024)
- News: SPK-Stiftungsrat: Benin-Bronzen gehen zurück (29.6.2021)
- Das Kollaborative Museum
- Benin Dialogue Group Statement
- Digital Benin