Zum Artikel „Wir sind ein Wissens-Hub zwischen Europa, Lateinamerika und der Karibik“

„Wir sind ein Wissens-Hub zwischen Europa, Lateinamerika und der Karibik“

Artikel

Lesezeit: ca.  min

Christoph Müller arbeitet seit fast 20 Jahren als Bibliothekar im Ibero-Amerikanischen Institut der SPK (IAI). Im Gespräch erzählt er, was das IAI und die Arbeit dort so besonders macht und was der Verbund SPK von seinen kleineren Einrichtungen lernen kann.

Wissenschaftlicher Bibliothekar und Fachreferent für die Region Zentralamerika, Kolumbien, Venezuela und die spanischsprachige Karibik, Leiter des Referats Digitale Bibliothek und IT-Infrastruktur und stellvertretender Direktor der Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts (IAI), daneben engagiert er sich noch in der AG Diversität der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK): Der Rheinländer Christoph Müller ist ein Tausendsassa, was seine Tätigkeitsfelder angeht. Doch was konkret heißt das alles? Studiert hat Müller romanische Philologie mit dem Schwerpunkt Spanisch und Portugiesisch und Kunstgeschichte. Nach seinem Magister arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der RWTH in Aachen, promovierte dort in portugiesischer Literaturwissenschaft mit einer Arbeit zur portugiesischen klassizistischen Lyrik im 18. Jahrhundert. „In der Rückschau eigentlich ziemlich ausgefallen, aber irgendwie auch cool“, lacht er heute. Doch das wäre ein Thema für ein anderes Interview. Heute soll es darum gehen, was das IAI und die Arbeit dort so besonders und einzigartig macht. Außerdem: Welche Herausforderungen gibt es für die Bibliothek der Zukunft und was kann der Verbund SPK von einer seiner kleineren Einrichtungen lernen?

Darüber weiß Müller Bescheid. Er arbeitet seit fast 20 Jahren am IAI. 2005 bewarb er sich auf das Bibliotheksreferendariat und wurde prompt ausgewählt. Im Rahmen seines Bibliotheksreferendariats am IAI absolvierte er an der Bibliotheksakademie Bayern die theoretische Ausbildung und erhielt danach den Fachreferenten-Job, von dem ausgehend sich bis heute Stück für Stück seine unterschiedlichen Aufgabenbereiche entwickelt haben.

Porträt eines Mannes

Christoph Müller arbeitet seit fast 20 Jahren als Bibliothekar im Ibero-Amerikanischen Institut der SPK (IAI). Im Gespräch erzählt er, was das IAI und die Arbeit dort so besonders macht und was der Verbund SPK von seinen kleineren Einrichtungen lernen kann.

Foto: © Ibero-Amerikanisches Institut, Foto: Wanezza Soares

„Zu meinem Alltag gehören Besprechungen in den verschiedenen Arbeitsbereichen meines Referats, also Digitalisierung und IT, Fernleihe und Dokumentenlieferung. Dann natürlich auch eine ganze Menge Verwaltungsaufgaben im Zuge von Vergabeverfahren, Personalgewinnungsprozessen und der Haushaltsbewirtschaftung. Es gehören aber auch wissenschaftliche Aufgaben dazu wie der Austausch mit den internationalen Gastwissenschaftler*innen am Institut oder die Organisation von Tagungen“, berichtet Müller. „Darüber hinaus kümmere ich mich zusammen mit den Kolleg*innen der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) um die Grundinstandsetzung des Gebäudes der SBB und des IAI am Kulturforum: Da gibt es dann Planungsbesprechungen, in denen wir von der Klimaanlage bis zur Position der Steckdosen alles planen. Dabei ergeben sich Fragen die zu weitreichenden Entscheidungen führen: Welche Lichttechnik bauen wir ein? Wie sieht der Lesesaal der Zukunft aus? Wie werden in mehr als einem Jahrzehnt die verschiedenen Arbeitsprozesse organisiert sein?“

Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit als Bibliothekar ist selbstverständlich auch die Beratung von Nutzenden der Bibliothek, Erwerbungsentscheidungen zu treffen und Verhandlungen mit Anbieter*innen von Publikationen zu führen. „Wenn man die Aufgaben einzeln betrachtet, wirken sie für sich genommen eher unspektakulär, aber alle zusammen bilden eine sehr große Bandbreite, die stets interessant bleibt“, betont Müller.

Eine einzigartige Spezialbibliothek

Was macht die Bibliothek des IAI aus und wieso ist sie weltweit bekannt? Die Nutzenden der Bibliothek kommen aus vielen Ländern, weshalb Multilingualität und Interkulturalität zur DNA des Instituts gehören. Sie kommen zumeist aus ganz unterschiedlichen Disziplinen der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Sie arbeiten vergleichend, multimedial oder vertiefen sich in ganz spezifische Themen, aus denen sie innovative wissenschaftliche Fragestellungen entwickeln. „Und ihre Grundlage, die spezielle Literatur dafür, finden sie bei uns“, sagt Müller. „Dadurch, dass unsere Bibliothek eine der weltweit größten zu Lateinamerika, der Karibik, Spanien und Portugal ist, wissen sie, dass sie bei uns das Material finden, was sie für ihre Forschungs- oder Kulturprojekte benötigen. Über 60% unserer Benutzer*innen kommen sogar extra dafür aus dem Ausland hierher. Und die meisten entdecken dann oft Materialien, die sie gar nicht erwartet haben zu finden.“

Und um all das bieten zu können, arbeitet das IAI seit Jahren mit unterschiedlichen Partner*innen an der Internationalisierung der Bibliotheksarbeit. Müller berichtet: „Man muss sich Erwerbungsarbeit in Lateinamerika und der Karibik anders vorstellen als bei uns, wo jede Buchhandlung um die Ecke das gewünschte Buch am Folgetag bereitliegen hat. Dort gibt es diese Form von Vertriebswegen nicht. Jeder Verlag, jede Stelle, die Publikationen produziert, hat dort entweder eine eigene Buchhandlung oder eine Buchhandlung, mit der sie zusammenarbeitet. Das heißt, man muss von Buchhandlung zu Buchhandlung gehen, um zu sehen, was sie im Angebot haben. Da das sehr aufwendig ist, haben wir für die laufende Buchproduktion sogenannte Blanket Order Verträge. Das bedeutet, wir beauftragen auf diese Aufgabe spezialisierte Exportbuchhandlungen, uns anhand von klar formulierten Kriterien zeitnah die wichtigste Literatur zu schicken. Aber wir und besonders unsere Nutzenden wollen ja nicht nur das. Wir sind eine Spezialbibliothek, die sich an den spezifischen Bedarfen ihrer Nutzenden orientiert, und sammeln deshalb auch Literatur, die jenseits der Zentren oder des regulären Buchhandels publiziert wird und die sonst nirgendwo an einem Ort gesammelt vorhanden ist.“

 

Wir sind eine Spezialbibliothek, die sich an den spezifischen Bedarfen ihrer Nutzenden orientiert.

Um die Materialien zu erwerben, die nicht über die klassischen Wege an die Bibliothek des IAI kommen, machen sich die Fachreferent*innen der Bibliothek auf Reisen nach Lateinamerika und in die Karibik. Sie erwerben vor Ort ein differenziertes Bild über aktuelle Trends und lokale Entwicklungen in der Literaturproduktion, um die Sammlung zu erweitern und zu vertiefen. „So weiß ich, wenn ich wieder in Deutschland bin und die Wissenschaftler*innen mit konkreten Anfragen zu uns kommen, welche Buchhandlungen genau die Materialien haben, die sie suchen. Und aus jeder dieser Einzelanfragen können wir neue Forschungsfelder und -trends erkennen, und somit auch zukunftsorientierten Sammlungsaufbau betreiben.“

Auf diesen Reisen werden außerdem Kontakte zu Bibliotheken, Institutionen, Museen und Archiven geknüpft und so die Grundlage für zahlreiche internationale Kooperationen des IAI geschaffen. Es sind auf diese Weise u.a. kollaborative Digitalisierungsprojekte entstanden, die auf mehrere Institutionen verteilte Bestände grenzüberschreitend miteinander verknüpfen. Auch wurden Räume des Austausches geschaffen, z.B. um Erfahrungen in der Erwerbung und der Erhaltung von Bibliotheksbeständen zu vernetzen, oder neue Forschungsprojekte angestoßen.

Aber auch die Benutzenden der Bibliothek können im IAI netzwerken. Durch die Arbeit im Lesesaal der Bibliothek oder bei einer der vielen Abendveranstaltungen, wissenschaftlichen Kolloquien und Vorträgen lernen sich Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden kennen, bauen Verbindungen auf, die vielfach in neuen Kooperationen resultieren. „Wir kennen keine andere Einrichtung mit dieser Kombination aus Bibliothek, Forschung und Kultur; und das auch noch fokussiert auf eine Region“, erläutert Müller begeistert. „Wir sind ein Wissenschaftshub zwischen Europa, Lateinamerika und der Karibik. Diese internationale und bereichsübergreifende Ausrichtung ist ein Spezifikum, das im IAI gelebt wird. Alle Informationen und Kommunikationswege des IAI liegen in den vier Hauptsprachen – Deutsch, Spanisch, Portugiesisch und Englisch – vor. Sie können ins IAI kommen und dort arbeiten und brauchen kein Wort Deutsch zu sprechen.“

Zugänglichkeit durch Digitalisierung stärken

Was aber, wenn man nicht mal eben um den halben Globus fliegen kann, um mit den Medien arbeiten zu können? Dann müssen die Medien selber digital reisen. Denn Zugänglichkeit heißt heute auch: Digitalisierung. Das unterstreicht auch Müller: „Das Ziel unserer Arbeit ist, unsere Bestände umfassend zugänglich zu machen. Wir sind hier in Berlin, ein wichtiger Teil unserer Zielgruppen lebt und arbeitet aber zwischen 9.000 und 12.000 Kilometern von uns entfernt.“

Deshalb habe man in der Digitalisierungsstrategie festgelegt: Alle Bestände, die ausschließlich im IAI vorhanden sind, sollen nach und nach urheberrechtskonform digitalisiert werden. Als Beispiel nennt Müller 6.500 argentinische Theater- und Romanzeitschriften, die in den 1930er und 40er Jahren entstanden sind. „Das ist Kioskliteratur, ähnlich wie Groschenromane könnte man sagen. Und das besondere ist: Keine andere Bibliothek auf der Welt hat eine so umfassende Sammlung, denn zur damaligen Zeit spielte solche Populärliteratur in Bibliotheken keine Rolle. Aber das sind Dokumente, in denen soziale, kulturelle und politische Umbrüche in Argentinien in einer Zeit angesprochen werden, die durch eine große europäische Einwanderung, die zunehmende Verstädterung und die Verdrängung der indigenen und afroamerikanischen Bevölkerung geprägt war. Das wird alles in den Theaterstücken adressiert und macht sie so einzigartig als Quellen nicht allein für literaturwissenschaftliche und linguistische Arbeiten, sondern auch für historische, soziologische und oder kulturwissenschaftliche Studien. Historische kulturelle Produktionen von den Rändern einer migrantisch geprägten aufstrebenden urbanen Gesellschaft, die bislang weitestgehend unsichtbar waren, auch in ihrem Ursprungsland, rücken so über die Digitalisierung ins Zentrum der Forschung und machen die unterschiedlichen Erfahrungen von sozialen Umbrüchen sichtbar.“

Alle Bestände, die ausschließlich im IAI vorhanden sind, sollen nach und nach urheberrechtskonform digitalisiert werden.

Die Strategie, dass Materialen, die am IAI verfügbar und von wissenschaftlichem oder kulturellen Interesse sind, digitalisiert werden, verfolgt das Institut auch mit seinem eigenen international ausgerichteten Publikationsprogramm konsequent, erzählt Müller: So sind alle seit 1930 vom IAI veröffentlichten Bücher, Zeitschriften und Kataloge frei zugänglich auf einem eigenen Publikationsserver abrufbar. Auch die laufenden wissenschaftlichen Zeitschriften sind frei zugängliche Open Access Journals.

Online kann man sich auch seinen digitalen und kostenfreien Ausweis für die Benutzung der Bibliothek des IAI ausstellen lassen. So haben die angemeldeten Benutzer*innen auch Zugang zu allen von der Bibliothek des IAI lizensierten E-Journals und E-Books.

„Aber nicht nur das, mittlerweile führen wir viele unserer kulturellen und wissenschaftlichen Veranstaltungen virtuell oder hybrid durch. Eine Reihe von Veranstaltungen sind darüber hinaus auch auf YouTube abrufbar. Da haben wir die technischen Errungenschaften aus der Zeit der Pandemie genutzt,“ erklärt Müller. „So haben wir es geschafft, neue Zielgruppen für unser multilinguales Veranstaltungsprogramm zu gewinnen, was vorher eher lokal und regional wahrgenommen wurde, und insgesamt eine weitaus größere Reichweite erzielt.“

Eine Blaupause: Das IAI als Vorbild für die SPK?

Als Teil der SPK, die zurzeit in vielen Bereichen in Bewegung ist, sieht sich das IAI auch mit neuen Zukunftsaufgaben konfrontiert. Es ist eine spannende Phase, in der sich der Gesamtverbund aktuell befindet. Die Reform hat sich unter dem Motto „SPK 2030“ zum Ziel gesetzt, den Einrichtungen der SPK eine größere Gestaltungsautonomie zu verschaffen, damit die Vielfalt innerhalb der SPK eine größere Dynamik und Wirksamkeit erreicht. Gleichzeitig sollen die Mehrwerte des Verbundes gestärkt und für alle sichtbarer gemacht werden.

Wo steht das IAI und wie sieht sich das Institut in diesem in Bewegung gebrachten Verbund? Müller, der Mitglied des Leitungsteams des IAI ist, hat einen guten Einblick: „Wir haben eine zentrale Position, denn unsere Direktorin Barbara Göbel ist Mitglied im Interimsvorstand und gestaltet den neuen Verbund SPK aktiv mit. Auch andere Mitarbeiter*innen des IAI sind am Reformprozess beteiligt, arbeiten mit der Hauptverwaltung der SPK zusammen und bringen sich auf allen Ebenen und in Gremien ein. Wir haben im IAI keine Scheu, auch mal unbequeme Dinge auszusprechen. Und wir werden gehört, was ich sehr schätze. Uns ist dabei immer sehr wichtig zu betonen: Wir sind das Ibero-Amerikanische Institut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wir verstehen uns als Teil eines Archipels, nicht als eine ‚einsame Insel‘.“

Wir verstehen uns als Teil eines Archipels, nicht als eine ‚einsame Insel‘.

Das IAI, so Müller, sei quasi eine SPK im Kleinen: „Die Stiftung an sich ist ein Verbund aus Sammlungen, Bibliotheken, Archiven, wir betreiben in der SPK Forschung, vermitteln Kultur, sind international und interdisziplinär vernetzt – und das machen und sind wir im IAI auch. Das heißt, wir sind so etwas wie eine Blaupause dafür, wie die Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Arbeitsbereichen gelingen kann, wie man den Spezifika jedes Arbeitsbereiches gerecht werden kann und wie gleichzeitig die Mehrwerte der Kombination dieser Arbeitsbereiche gehoben werden können. Und das seit 93 Jahren, in guten wie in schwierigen Zeiten. An dieser Erfahrung kann man sich sicherlich viel abschauen.“

Als positiven Nebeneffekt aus dem Evaluationsprozess sieht er auch, dass man sich untereinander kennengelernt habe. Vorher, so sagt Müller, wusste man in den einzelnen Einrichtungen (SMB, SBB, GStA, IAI und SIM) nur bedingt, was die anderen so machen. Man habe jetzt gelernt, miteinander zu sprechen und enger zu kooperieren. „Dass wir alle in der SPK gemeinsam diesen Prozess durchmachen, schweißt uns zusammen.“ Mitgenommen habe man in der SPK auch: Die Stiftung muss sich öffnen, in Bewegung bleiben und sich aktiv für aktuelle und zukünftige Entwicklungen bereitmachen. „Es ist nicht die Stiftung um ihrer selbst willen, sondern eine Stiftung für die Menschen!“


Weitere Artikel zum Thema