Prachtvoller Bildteppich mit einer grünen Landschaft, See und Tieren

In aller Freiheit bunt verwoben

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Was uns Wandteppiche über das heutige Ägypten erzählen: Die Ausstellung „Fäden des Lebens am Nil“ in der James-Simon-Galerie zeigt Webkunst aus dem Ramses Wissa-Wassef Art Center Kairo. Ihre Farbenpracht und ihr Formenreichtum sind eine wahre Augenlust.

Wer über die Museumsinsel flaniert und an Ägypten denkt, wird sich vermutlich als erstes an die Büste der Nofretete im Neuen Museum erinnern. Und an die anderen Meisterwerke aus unterschiedlichen Epochen, die dort im Ägyptischen Museum präsentiert werden, von filigranen Objekten der Kleinkunst bis zu tonnenschweren Steinsarkophagen.

Doch Ägypten hat nicht nur eine glorreiche Vergangenheit, sondern auch eine faszinierende Gegenwart. Über einen kleinen, feinen Teil davon erzählt nun eine wunderbare Ausstellung im Obergeschoss der James-Simon-Galerie: „Fäden des Lebens am Nil“ zeigt Bildteppiche und Batiken aus dem Ramses Wissa-Wassef Art Center Kairo und wurde von Friederike Seyfried und Ilona Regulski kuratiert.

Das Art Center war zuletzt 1978 in Berlin mit einer Ausstellung vertreten, allerdings noch in Charlottenburg, wo die ägyptische Sammlung damals untergebracht war. Nun ist die Kairoer Institution auf der Museumsinsel wiederzuentdecken.

Für Friederike Seyfried, die Direktorin des Ägyptischen Museums, die das Ramses Wissa-Wassef Art Center schon seit Mitte der 1980er-Jahre kennt und schätzt, ist dies eine außerordentliche Freude: „Es ist ein Ort, an dem man Kunst macht und erlebt, aber vor allem geht es um die einzelnen Menschen. Jede und jeder wird ernst genommen, gefordert und gefördert. Diese besondere Atmosphäre ist für alle, die kommen, spürbar. Man geht durch das Tor und ist in einer Oase, die man nicht erwartet hat. Obwohl sich die Umgebung verändert hat, weil sich Kairo immer weiter ausdehnt und auch hier ringsherum Hochhäuser entstanden sind, ist es ein Ort von größter Harmonie geblieben!“

Es ist ein Ort, an dem man Kunst macht und erlebt, aber vor allem geht es um die einzelnen Menschen

Friederike Seyfried über das Ramses Wissa-Wassef Art Center

Teppiche im Museum
Ausstellungsansicht. Foto: SMB / Ilona Regulski
Teppiche im Museum
Ausstellungsansicht. Foto: SMB / Ilona Regulski
Teppiche im Museum
Ausstellungsansicht. Foto: SMB / Ilona Regulski
Teppiche und Bildschirm im Museum
Ausstellungsansicht. Foto: SMB / Ilona Regulski

Der Architekt, Töpfer, Weber und Designer Ramses Wissa-Wassef (1911-1974) gründete 1951/1952 in dem Dörfchen Harrania – unweit der berühmten Pyramiden von Gizeh bei Kairo – ein Ausbildungszentrum. Er wollte dort Kinder und Jugendliche mit der jahrtausendealten Technik der ägyptischen Webkunst vertraut machen. Also kaufte er ein Grundstück und ließ in traditioneller Lehmbauweise Werkstätten und Wohnkomplexe errichten.

Inspiriert vielleicht von der Waldorfpädagogik, sollten die Kinder ab etwa zehn Jahren in ihrer Freizeit ihre bildnerische Fantasie entwickeln, zugleich ihre Konzentrationsfähigkeit und ihr Problemlösungsbewusstsein schulen können – denn all das ist bei der Arbeit am Webstuhl nötig.

Wer Interesse hatte, begann an kleinen Kinderwebstühlen und fertigte zu Beginn dementsprechend kleine Webereien an, ehe es an die großen Webstühle für die Älteren ging. Es gab nur drei Gebote, die Ramses Wissa-Wassef erließ und die bis heute gelten: Es durften keine Vorzeichnungen, Skizzen oder vorhandenen Fotos benutzt werden. Die Schaffensphase durfte nicht durch Einflussnahme von außen – zum Beispiel Museumsbesuche – gesteuert werden. Kritik durch Erwachsene war ebenfalls streng untersagt. In aller Freiheit sollten die Schüler*innen ausschließlich ihrer Fantasie folgen und diese Schritt für Schritt mit Woll- oder Baumwollfäden umsetzen.

Das Potential dafür, so war es Ramses Wissa-Wassefs feste Überzeugung, hätte jede und jeder von ihnen – man müsste es bloß hervorholen. Auf diese Art nahm er quasi den legendären Satz von Joseph Beuys vorweg: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“

Prachtvoller Teppich: Vogeldarstellungen
Birds in the garden, 2021, Gehan Rezk, Cotton, © Ramses Wissa Wassef Art Centre, Cairo, Egypt
Prachtvoller Teppich: Vogeldarstellungen
Dancing birds, Saiid Ibrahim, Batik, © Ramses Wissa Wassef Art Centre, Cairo, Egypt
Prachtvoller Teppich: Meer und Fische
Red sea corals & fish, 2024, Nagah Sayed (1977– ), Wool, © Ramses Wissa Wassef Art Centre, Cairo, Egypt
Prachtvoller blauer Teppich: Boote im Nil
Felukas on the Nile, Saber Saiid, Batik, © Ramses Wissa Wassef Art Centre, Cairo, Egypt

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Soziale Anerkennung und weltweit geschätzte Qualität

Ramses Wissa-Wassef muss damit tatsächlich einen Nerv bei seinen potenziellen Zöglingen getroffen haben, denn die Kinder kamen – und blieben meist über viele Jahre. Hier konnten sie – ohne Zwang – ihre ungeahnten Talente ausbilden, sie konnten eine fürsorgliche und kreative Gemeinschaft erleben, der sie mitunter bis ins Rentenalter angehören und immer noch gemeinsam Tee trinken, sich austauschen, weben.

Neben Kommunikation und Zusammengehörigkeit ist der ökonomische Aspekt nicht zu unterschätzen. Wenn die Schöpfer*innen nämlich aus den Kinderschuhen herausgewachsen waren, im Lauf der Zeit ihr Handwerk beherrschten und ein Teppich geglückt war, der in der Öffentlichkeit bestehen konnte, wurden sie dafür, so Friederike Seyfried, gut bezahlt – selbst wenn der Teppich noch nicht verkauft war.

Da das Art Center auch Frauen offen stand und die sich oft als begabte Webkünstlerinnen erwiesen, konnte es passieren, dass sie es waren, die plötzlich den Haushalt ihrer Familien mitbestritten – und die Männer mit den eher kargen Erträgen aus der Landwirtschaft entlasteten. Diese ansehnlichen Einnahmen führten nach der anfänglichen Skepsis gegen das Projekt zu hoher sozialer Anerkennung des „Art Centers“ bis in die umliegenden Dörfer.

Es sind grandiose Arbeiten, die auf diesem Weg kreiert wurden. Die zu Erwachsenen gereiften Kinder wurden veritable Künstler*innen, die große Formate und vielschichtige Narrationen bewältigten. Von zwei Generationen wird inzwischen gesprochen, die das menschenfreundliche Art Center mit Leben erfüllen und für einen so fabelhaften wie bezaubernden Standard der Manufaktur sorgen.

Die Qualität der Webarbeiten ist längst weltweit bekannt, sie genießen enorme Wertschätzung und befinden sich in bedeutenden Kunstmuseen wie dem Metropolitan Museum of Art in New York oder in London im British Museum und dem Victoria and Albert Museum, wo es außerdem Ausstellungen gab.

Das Alleinstellungsmerkmal der Exponate aus dem Ramses Wissa-Wassef Art Center hat mehrere Gründe: Zum einen beruht es auf der singulären Imagination der Produzent*innen, zum anderen auf den eingesetzten hochwertigen Materialien.

Denn immer noch werden Wolle und Baumwolle mit natürlichen Substanzen eigenhändig gefärbt. Könnte man ein solches Herstellungsverfahren auch andernorts pflegen, lässt sich das nicht auf die Vorstellungswelt der Künstler*innen übertragen.

Diese ist eng mit dem Land und den Leuten verbunden, speist sich aus der Verbundenheit mit der Natur und mit regionalen Sitten und Gebräuchen. „Während der Kindheit half ich meinem Vater bei der Feldarbeit. Dabei beobachtete ich die Leute beim Ackerbau und bei allen anderen Beschäftigungen ihrer täglichen Arbeit. Dies war eine Inspiration für mich, die ich für mich in meinem Gedächtnis bewahrt habe“, so Mahrous Abdou, einer der Weber am Ramses Wissa-Wassef Art Center, über seinen Wollteppich „Felder“ (2002).

Die Fäden der Unikate vereinen Tradition und Gegenwart

Neben den Szenen aus dem alltäglichen Dorfleben sind inzwischen auch reine Landschaftsdarstellungen, Tiere und Pflanzen auf den Tapisserien zu finden. Fast ohne Menschen, dafür im Schwelgen von Farben und Formen gefällt der Baumwollteppich „Der Garten“ von Gehan Rezk aus dem Jahr 2022.

Rings um einen Mangobaum blühen die Pflanzen in höchster Pracht und lassen die paar Bauern, die mit ihren Tieren unterwegs sind, unter dem floralen Prunk nahezu verschwinden. Dieser charmante Teppich empfängt die Besucher*innen am Anfang der Ausstellung – „und jeden Tag, wenn ich hier unterwegs bin, entdecke ich etwas Neues“, sagt Friederike Seyfried.

Tradition und Gegenwart vereinen sich in den Fäden, die aus den Webstühlen kommen

Bei aller thematischen Unterschiedlichkeit verbindet die Arbeiten des Ramses Wissa-Wassef Art Centers, dass sie in ihrer beredten Figürlichkeit reich ausformuliert sind. Die 13 Bildteppiche aus Wolle, die 12 Tapisserien aus Baumwolle und die fünf Batiken erzählen vom Leben am Nil und in der Familie, von Flora und Fauna, von Bewässerung und Märkten, von Mythen und Überlieferungen. Die Bildaufteilung ist organisch entwickelt und immer gut lesbar.

Auf dem Teppich „Fischerdorf“ etwa ist zu sehen, wie Männer eine schwere Reuse aus dem Nil an Land ziehen. Andere entleeren ein Netz am Ufer, reinigen es, verpacken die Fische in Körbe. Dahinter sind Frauen bei der Tomatenernte und Männer in einem Kohlfeld festgehalten. Die Palmen sind reich mit gelben und roten Datteln behängt. Vögel sind über und im Wasser präsent, an Land tummelt sich eine Schar Ziegen.

Mögen die Arbeiten auf den ersten Blick auch an „Naive Kunst“ erinnern, zeigt sich auf den zweiten, dass sie alles andere als das sind. Denn die Darstellung ist eng an die jeweiligen Materialien gebunden, die nicht jede Umsetzung erlauben. So sind etwa feine Strukturen und Schatten aufgrund des Gewebes, selbst wenn es sehr feine Baumwolltexturen sind, nicht möglich.

Allerdings erinnern die Werke an byzantinische Wirkereien aus dem 7. bis 9. Jahrhundert v. Chr. und an altägyptische Malereien. Tradition und Gegenwart vereinen sich in den Fäden, die aus den Webstühlen kommen und als Teppich die Zeit anzuhalten scheinen.

Ein Jahr lang kann es dauern, bis ein Teppich – jeweils ein Unikat – fertig ist. Weil es so viel darauf zu entdecken gibt, haben die Kuratorinnen Suchspiele für Kinder verschiedener Altersgruppen entworfen, die sich auf diese Art mit neueren ägyptischen Szenarien auseinandersetzen können – und für ihre Geduld und Aufmerksamkeit mit den schönsten Impressionen belohnt werden.

Also, wo versteckt sich die Katze, die sich eine kleine Gans geschnappt hat? Wo ist der Fuchs, der ein Küken gestohlen hat und mit ihm über die Dächer flieht? Wo haben die Tauben ihr Haus? Auf geht’s, der Nil ist ganz nah!

Fäden des Lebens am Nil

  • Di-So 10-18 Uhr, Mo geschlossen
  • bis 2.11.2025
  • Museumsinsel Berlin, James-Simon-Galerie, Obergeschoss
  • Eintritt frei

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