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Ohne Musik wäre das Leben ein IrrtumDas Chorfestival "Vielstimmig" im Humboldt Forum

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Das Chorfestival „Vielstimmig“ hebt im Humboldt Forum mit vokalem Enthusiasmus die Schwerkraft auf: Sogar in den Museumsräumen kommt die Musik bestens an, bereichert Menschen und Exponate.

Im Humboldt Forum ist ja immer viel los, aber gibt es hier jetzt auch Fußball? Das mag sich gedacht haben, wer am ersten Juli-Wochenende in das Foyer kam und verwundert die berühmteste aller Fußball-Hymnen vernahm. Doch nein, da standen keine Fans in bunten Trikots und schmetterten inbrünstig wie in heute fast jedem Stadion der Welt „You’ll never walk alone“. Im Gegenteil, es waren völlig unauffällig gekleidete Sänger*innen – zweihundert an der Zahl! Auf der Empore in der ersten Etage hatten sie sich verteilt und füllten den hohen, weiten Saal mit fabelhaft getragenen Melodiebögen. Einstudiert und geleitet von Harry Curtis, Professor an der Universität der Künste, war zuerst ein hebräischer Kanon zu hören, dann ein von Kurt Nystedt bearbeiteter Bach-Choral und schließlich dieser Song aus dem Musical „Carousel“ (1945) von Richard Rodgers (Musik) und Oscar Hammerstein II (Text), den jede*r Kicker*in kennt. Das Publikum im Foyer brach in herzlichen Applaus aus, begeistert vom stimmgewaltigen Gesang aus lichten Höhen. Es war dies der Höhepunkt des Festivals „Vielstimmig“, zu dem elf Berliner Chöre eingeladen worden waren.

„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“, sagte schon Friedrich Nietzsche, und so hatten sie nicht mehr und nicht weniger vor, als unter der künstlerischen Leitung des Regisseurs Kaspar von Erffa das ganze Haus vokal in Besitz zu nehmen. Sie wollten aus vielen Kehlen und mit kollektivem Engagement „das Forum einsingen“. Und siehe da – vom Schlüterhof bis zum Forum Café, vom Humboldt Labor bis zum Videopanorama ließ sich am Schluss eindeutig feststellen: Musik tut dem Gebäude wahrhaft gut! Der Stein wird weicher, die Wege werden kürzer, die Grenzen wirken durchlässiger, die Vergangenheit rückt näher! Und selbst die Schwerkraft wird schwächer. Alles kommt mit allem in Verbindung und bringt neue Harmonien zum Vorschein. Die Chöre waren mal hier, mal dort zu bejubeln, sie wechselten ihre Auftrittsorte und nutzen geschickt die wechselnden Akustiken. Neben den ortsspezifischen Interventionen zeigte sich dieser Effekt der musikalischen Korrespondenzen vor allem in den verschiedenen Ausstellungsräumen, die ebenfalls für die Chöre geöffnet worden waren. In den meisten von ihnen war zuvor noch nie gesungen worden, allerdings sehr wohl im Raum 220 des Ethnologischen Museums, in dem sich Bauwerke aus Ozeanien befinden. Diese stammen aus unterschiedlichen Regionen und sind je nach Herkunftsgesellschaft konträr gebaut. Als das Männerhaus (Bai) im August 2022 durch ein Dutzend Dachdecker von der Insel Palau mit Palmblatt-Schindeln neu bestückt worden war, sangen die Männer, als ihr Werk vollendet war – und zwar hingebungsvoll –, einen christlichen Choral.

Mit den elf Chören musikalisch durch die ganze Welt

Nun hatte sich vor diesen Exponaten das Vokalensemble Sakura, ein deutsch-japanischer Chor, platziert. Keine schlechte Idee, denn Japan kann man als nördlichste Inselgruppe Ozeaniens betrachten, und so verbindet das Meer Palmen und Noten, Kunst- und Volkslieder. Es ging um Glühwürmchen und um die Kirschblüte und die Chormitglieder hatten trotz der etwas furchteinflößenden Ahnenpfähle der Asmat und der Kamoro, zwei Nachbargesellschaften an der Südwestküste Neuguineas, ihre Freude beim Singen – wie ihr Publikum beim Zuhören.

Mit den Chören konnte man sich auf eine Reise quer durch alle Kontinente begeben und auch diverse geistige Bögen schlagen. Ein überraschender spiritueller Zusammenhang entwickelte sich beim ersten Auftritt des Concentus Neukölln, einem 2015 gegründeten Ensemble, das sich auf Alte Musik und Chorwerke der Romantik spezialisiert und einen zusätzlichen Schwerpunkt in der Erarbeitung von Neuer Musik hat. Im Museum für asiatische Kunst stand der Concentus Neukölln vor dem Bild „Die Predigt des Buddha Shakyamuni“ des Hofmalers Ding Guanpeng, eine der größten Malereien, die in den kaiserlichen Werkstätten während der Qing-Dynastie (1644-1911) hergestellt wurden. Man sang italienische Madrigale von Heinrich Schütz aus dem 17. Jahrhundert, begleitet von Daniel Kurz auf der Theorbe, und ließ die polyphonen Verschränkungen im magischen Halbdunkel zwischen China und Europa und deren wechselnden künstlerischen Einflüssen lebendig werden.

Beherzt an vielen Orten, in vielen Sprachen und vielen Stilen er- und besungen, wuchs dem Humboldt Forum so eine weitere multiperspektivische Ebene zu – sogar oder erst recht beim Mitsingkonzert im Schlüterhof. Die Örtlichkeiten erwiesen sich tatsächlich als Forum, auf dem sich Menschen trafen, die sich sonst nicht unbedingt getroffen hätten, und erlaubte kreative Querverbindungen, von denen alle profitierten. Und für den Chorgesang, in den drei schlimmen Jahren der Corona-Pandemie nahezu unmöglich, eröffneten sich ebenfalls neue Wege. An einem besonderen Ort wie dem Humboldt Forum konnten sich die Vokalist*innen präsentieren und für ihre Kunst schönste Reklame machen, denn verlässliche Mitglieder werden derzeit überall gesucht.

Menschenmassen in einem Lichthof und umliegenden Ballustraden
Das Publikum im Foyer brach in Applaus aus, begeistert vom Gesang aus lichten Höhen. © Stefanie Loos | Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss
eine Gruppe von Menschen, singend vor Leinwand
Das deutsch-japanische Vokalensemble Sakura. © Stefanie Loos | Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss
Chorsänger*innen zwischen Museumsexponaten
Die verschiedenen Ausstellungsräume waren ebenfalls für die Chöre geöffnet. © Stefanie Loos | Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss
Gruppe von Menschen, singend vor Exponaten
Mit den Chören konnte man sich auf eine Reise quer durch alle Kontinente begeben. © Stefanie Loos | Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss
Menschenmenge in einem imposanten Innenhof bei Nacht
Das Mitsingkonzert im Schlüterhof. © Stefanie Loos | Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Vielfältig wie die Chöre sind auch die Sammlungen

Die elf ausgewählten Chöre spiegelten die Vielfalt der fulminanten Berliner Chorszenerie wider, zu der mehr als 1.000 Laiengruppen zählen. Ob der deutsch-polnische Chor Spotkanie oder der Diplomatic Choir of Berlin, ob ein inklusives Ensemble wie die Nogat Singers oder Jazz- und Gospelchöre (Inspired! und JazzVocals), ob der dem Crossover zugewandte Kammerchor Canzoneo („von Bach bis Bond“) oder der traditionelle Männerchor Eintracht 1892 e.V. Berlin Mahlsdorf, sie alle engagieren sich für das Singen als beliebteste und verbreitetste künstlerische Ausdrucksform des Menschen. Und die Chance, in einem so ungewöhnlichen Ambiente wie dem Humboldt Forum mit seinen Museen aufzutreten, haben alle freudig genutzt. Die Sänger*innen des Vokalensembles Polynushka haben sich auf authentische osteuropäische Folklore ihrer Geburtsländer spezialisiert (Russland, Ukraine, Bulgarien, Polen, Moldawien, Litauen) – und singen die alten Weisen, die ihre Großeltern vor vielen Jahren in den Dörfern gesungen haben.

Dafür haben sie auch im Phonogramm-Archiv des Ethnologischen Museums recherchiert. Dort werden über 16.000 originale Phonogramme verwahrt, die zwischen 1893 und 1943 in verschiedenen Regionen der Welt aufgenommen wurden. Ergänzt wird diese Sammlung durch ca. 2.000 Schellackplatten mit außereuropäischer Musik. Ein wesentlicher Bestandteil sind die Aufnahmen der Phonographischen Kommission im Ersten Weltkrieg in deutschen Kriegsgefangenenlagern. Ein paar der ukrainischen Lieder, die damals aufgezeichnet wurden, haben sie in ihr Programm integriert, auf diese Art eine traurige Brücke zwischen den Kriegen schlagend und mit ihren Mitteln auf aktuelle Katastrophen hinweisend.

Mit welcher Kompetenz sich die Chöre auf die „Good Vibrations“ ihrer wechselnden Umgebungen einließen, zeigte zum Beispiel Ayabás, der brasilianisch-deutsche Frauenchor der Musikschule City West. Auf portugiesisch sangen sie im Mesoamerika-Raum und zwischen Artefakten präkolumbianischer Kulturen in Mexiko, Guatemala, Belize und Teilen von Honduras über den Mond und die Liebe, beschwingt im Bossa Nova-Rhythmus des Antônio Carlos Jobim oder vergnügt mit Gilberto Gil, der in einem Lied erklärt hatte, dass gute Menschen einfach gut klingen. Heißt auf Deutsch wahrscheinlich: Böse Menschen haben keine Lieder. Oder, wie es Heinrich Heine sagte: „Wenn die Worte aufhören, beginnt die Musik.“ Insofern sollte Musik auch in Zukunft das Humboldt Forum und seine Sammlungen ergänzen und bereichern: Um wirklich „never alone“ zu sein!


Vielstimmig. Das Forum einsingen. Fand statt am 01./02.07.2023 im Humboldt Forum.


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