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Ein einziges Wunder: die griechische Bibliothek des Guillaume Pellicier

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In Berlin erforschen Rosa Maria Piccione und ihr Team die Bücher des französischen Kardinals Guillaume Pellicier (1490-1568), der in seiner Zeit als französischer Botschafter zwischen 1539 und 1542 in Venedig eine einzigartige Sammlung von Handschriften anlegen ließ

Mit alten Büchern kennt sich Rosa Maria Piccione nun wirklich aus, mit Papier und Pergament, mit Tinten, Farben und Wasserzeichen. An der Universität Turin lehrt sie byzantinische Philologie und griechische Handschriftenkunde, begeistert sich für Schriftarten und Buchstabenformen, in Prachtexemplaren und Notizbüchern. Kein Wunder also, dass sie so von Guillaume Pellicier schwärmt, einem französischen Kardinal und Gelehrten, der von 1539 bis 1542 Botschafter in Venedig war, und der diese kurze Zeit dazu nutzte, um rund 141 Bücher abschreiben zu lassen, griechische und byzantinische Texte, zu Philosophie, Geschichte oder Poesie genauso wie zu Medizin, Botanik oder Mathematik – eine beeindruckende Sammlung. Rosa Maria Piccione sagt es mit einem Augenzwinkern: „Pellicier war bibliophil, man könnte auch sagen: biblioman. Genauso wie ich.“

Fotografie einer Frau vor einem braunen, massivem Schrank

Rosa Maria Piccione lehrt an der Universität Turin byzantinische Philologie und griechische Handschriftenkunde, begeistert sich für Schriftarten und Buchstabenformen, in Prachtexemplaren und Notizbüchern.

Foto: SPK / Killisch

Pelliciers Bibliothek ist hervorragend geeignet, um mehr über die Produktion griechischer Handschriften in der Zeit des Buchdrucks zu erfahren, um zu verstehen, welche Akteure daran beteiligt waren.

Venedig, das war damals die kulturelle Hauptstadt der griechischen Diaspora, nach dem Fall Konstantinopels an die Türken. Viele griechische Gelehrte ließen sich hier nieder, brachten ihre Kultur mit und ihre Bücher – und waren auch als Kopisten, als Abschreiber, tätig. Sie waren sehr willkommen: Es war die Zeit der Renaissance, in der man sich in Italien und ganz Europa der Antike besann, nach den kulturellen Wurzeln suchte, dabei die griechische Literatur und Philosophie wiederentdeckte, und das Mittelalter hinter sich ließ. „Mit den griechischen Gelehrten in Venedig wurde die Antike wieder lebendig. Man konnte sie im wahrsten Sinne des Wortes anfassen“, sagt Piccione.

Pellicier nutzte das. Er war ein Humanist, der sich nicht nur für Theologie, sondern auch für Recht, für Medizin und die Naturwissenschaften interessierte, und der in seiner Heimat Montpellier zu einem Kreis renommierter Intellektueller gehörte. In Venedig erwarb er Bücher für die Bibliothek des französischen Königs in Fontainebleau, vor allem aber auch für sich selbst. „Pelliciers Bibliothek ist hervorragend geeignet, um mehr über die Produktion griechischer Handschriften in der Zeit des Buchdrucks zu erfahren, um zu verstehen, welche Akteure daran beteiligt waren“, sagt Rosa Maria Piccione. „Denn sie ist einmalig in ihrer Art: Sie ist an einem bestimmten Ort entstanden, zu einer bestimmten Zeit, in Auftrag gegeben von einer bestimmten, sehr kundigen Person.“ Vor allem aber: Sie ist nicht in alle Winde zerstreut, sondern fast in Gänze erhalten. 1887 wurde sie nach Stationen in Frankreich, und Holland schließlich als Teil der Sammlung des englischen Buchhändlers Sir Thomas Phillipps nach Berlin verkauft, wo die Staatsbibliothek Berlin sie bis heute sorgfältig verwahrt und fachmännisch betreut – genau 107 Werke.

eine aus der Schräge fotografierete Buchseite mit Bildern
Heron von Alexandria, Mechanik (Ms. Phill. 1548 f. 17 recto), Text mit Abbildungen. Foto: SPK / Killisch
Finger mit Ring zeigt auf alte Buchseite
Heron von Alexandria, Mechanik (Ms. Phill. 1548 f. 17 recto), Text und Randbemerkungen stammen möglicherweise von Pellicier selber. Foto: SPK / Killisch

Rosa Maria Piccione kommt seit Jahren immer wieder hierher. Im neuen Handschriftenlesesaal der Stabi Unter den Linden studiert sie Buch für Buch, Seite für Seite, Buchstaben für Buchstaben. Inzwischen weiß sie: Mindestens zwölf Kopisten haben Pelliciers Bibliothek geschaffen, darunter auch bekannte Persönlichkeiten aus der Welt des griechischen Buches. Aus Pelliciers Briefen ist zu erfahren, dass sie dafür zu ihm nach Hause gekommen sind, eine Haus-Werkstatt bildeten, ein atelier domestico. „Oft ist es frustrierend: Monatelang verstehe ich nicht, was der griechische Kopist eigentlich beabsichtigte, aber dann kommt die Lösung“, sagt sie. Denn darum geht es dem Team von Forschenden, zu dem mehrere europäische Wissenschaftler*innen gehören: herauszufinden, wie die Kopisten genau arbeiteten, wer welche Rolle hatte, warum welche Texte ausgesucht wurden – und wer entschieden hat, sie von wem abschreiben zu lassen. Klar ist: Pellicier hat selbst mit den Texten gearbeitet, hat Anmerkungen gemacht. Seine eigene Handschrift taucht auf mancher Seite auf. „Pellicier hat seine Bücher nicht nur aufbewahrt und vorgezeigt, sondern mit seiner Bibliothek richtig gearbeitet“, sagt Rosa Maria Piccione.

eine aus der Schräge fotografierte Buchseite mit Bildern
Heron von Alexandria, Mechanik (Ms. Phill. 1548 f. 33 verso), Text mit Abbildung. Foto: SPK / Killisch
Fotografie einer reich verzierten Buchseite von der Seite.
Heron von Alexandria, Mechanik (Ms. Phill. 1548 f. 1 recto), Titel mit Verzierung. Foto: SPK / Killisch

Pelliciers Bibliothek birgt unglaubliche Schätze. Immer wieder finden sich neue Wunder.

Wie genau, das zeigt sie an einem Text mit Paraphrasen des Aristoteles, der vor ihr auf dem Tisch liegt: Fast wie eine dicke Arbeitskopie sieht das Buch aus, mit kleinen Korrekturen, nachgezeichneten Akzenten, Ligaturen, Initialen – und in diesem Fall vor allem mit zwei Farben von Tinte. Offenbar hat hier ein erfahrener Kopist einen weniger erfahrenen korrigiert, hat ihn auf Verbesserungen hingewiesen, hat ihm gezeigt, wie er klarer und eleganter schreiben könnte. Und offenbar war es in diesem Fall ein gewisser Johannes Katelos, der damals in Venedig als Meisterkopist sehr aktiv war. Heute würde man vielleicht sagen: Katelos war ein moderner Redakteur, ein Vermittler der griechischen Kultur, der Pellicier, seinem Auftraggeber, einmal auch einen Hinweis für eine weitere Lektüre an den Rand schrieb, ihm nämlich empfahl, Platon direkt zu lesen, und nicht nur den „Kommentar zum Parmenides“ des Philosophen Proklos. Am Ende dieses Kommentars hat er geschrieben: Multa opera Platonis, ut legere i(n) i(ntegrum) post ha(n)c / In Venetia adi 29 mazo 1542. (Es gibt viele Werke von Platon, die Du nach diesem einen vollständig lesen könntest. Venedig, den 29. Mai 1542.)

Rosa Maria Piccione freut sich über solche Funde. Sie sind erste, wichtige Ergebnisse ihrer Forschung. „Pelliciers Bibliothek birgt unglaubliche Schätze. Immer wieder finden sich neue Wunder“, sagt sie. Denn im Vergleich zum Buchdruck bot das Abschreiben viele Vorteile: Man konnte auch weniger populäre Texte vervielfältigen, nicht nur die der großen Klassiker, die schon gedruckt erschienen, wie Homer, Euripides oder Sophokles. Außerdem ging es manchmal schneller. Damit war es möglich, von einem Werk verschiedene Exemplare zu schaffen und sie miteinander zu vergleichen. Aus den Bibliotheksinventaren Pelliciers ist diese Art zu arbeiten deutlich zu erkennen: verschiedene Exemplare des gleichen Werks sowohl in gedruckter als auch in handschriftlicher Form, um so besser philologisch arbeiten zu können.

Scan eines Buchseite
Am oberen Rand dieses Blattes befindet sich ein Bericht des griechischen Kopisten Johannes Katelos ungewöhnlicherweise auf Italienisch (Ms. Phill. 1610 f. 41 verso). Digitalisat: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Scan einer alten handgeschriebenen Buchseite mit Bildern
Heron von Alexandria, Mechanik (Ms. Phill. 1548 f. 22 verso), Text mit Abbildung und Randbemerkung. Digitalisat: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Scan eines alten Manuskripts
Anonym, Paraphrase der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Ms. Phill. 1513 f. 30 recto), Text und Diagramme sowie Korrekturen des griechischen Kopisten Johannes Katelos. Digitalisat: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Scan einer alten handgeschriebenen Buchseite
Proklos, Kommentar zu Platons Parmenides (Ms. Phill. 1506 f. 319 recto) mit Randbemerkung des griechischen Kopisten Johannes Katelos: "Multa opera Platonis, ut legere i(n) i(ntegrum) post ha(n)c / In Venetia adi 29 mazo 1542" ("Es gibt viele Werke Platons, die Du nach diesem vollständig lesen könntest. Venedig, den 29. Mai 1542"). Digitalisat: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Rosa Maria Piccione leitet das Projekt zusammen mit der Historikerin Raphaele Mouren. Zum Team gehören auch der auf Digitalisierung spezialisierte Bibliothekar Richard Gartner und die beiden Mitarbeitenden Dimitrios Skrekas und Elisa Bianchi. Es ist ein Projekt des Warburg Institute (University of London) und der Universität Turin, das vom britischen Arts and Humanities Research Council (AHRC) für vier Jahre gefördert wird. Das Forscherteam will Pelliciers Sammlung analysieren, sie katalogisieren und digitalisieren – um damit weitere Forschung zu ermöglichen. Es gibt Workshops, zunächst in Berlin, später in Lyon – und Konferenzen. Dabei geht es ihnen nicht nur um die einzelnen Texte. Sie wollen ein Stück Geschichte rekonstruieren. Sie wollen verstehen, wie Wissen organisiert und überliefert wurde – und zwar in einer Zeit, in dem der Buchdruck immer wichtiger wurde, in einer Zeit großen technologischen und kulturellen Wandels. Welche Bücher wurden noch abgeschrieben, welche schon gedruckt – und wie hat sich das gegenseitig beeinflusst? Und welche Folgen hatte eigentlich die Reformation für die Bücherwelt? Und die Tatsache, dass sich in Venedig Ost und West begegneten?

Pelliciers Bibliothek ist Teil unserer gemeinsamen kulturellen Identität.

Die Staatsbibliothek Berlin ist dabei ein wichtiger Partner. Sie hat nicht zuletzt alle 107 Pellicier-Handschriften digitalisiert, hat die Partner so entscheidend unterstützt und Veröffentlichungen in den Digitalisierten Sammlungen der Staatsbibliothek möglich gemacht. Rosa Maria Piccione ist begeistert von der Zusammenarbeit mit den Berliner Kollegen, den Arbeitsbedingungen. „Es ist toll zu sehen, wie Pelliciers Bibliothek hier gewürdigt wird“, sagt sie. Und ist überzeugt: „Pelliciers Bibliothek ist Teil unserer gemeinsamen kulturellen Identität. Sie erzählt, wie sich Byzanz, die griechische Welt des Ostens, und der Westen Europas begegneten.“ Darum sei es auch so wichtig, sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

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