Carola Thielecke, Leiterin des Zentralen Justiziariats der SPK schreibt im Dossier des Kulturrats über den Umgang mit unrechtmäßig erworbenen Sammlungsobjekten in der Stiftung
Kultureinrichtungen sollen und wollen ein Spiegel der Gesellschaft sein. Wenn man diesen Auftrag übersetzt, dann bedeutet das auch, dass sich Gesellschaften verändern – und mit ihnen die Kultureinrichtungen. Museen, Bibliotheken und Archive sind Orte gesicherten Wissens, aber sie organisieren Erwerbungen oder veranstalten Ausstellungen immer in einer gewissen Zeit. Und die ist geprägt von Wertevorstellungen, von einem gewissen Wissenshorizont oder einem gesellschaftlichen Konsens. An den Sammlungen können wir gesellschaftliche Entwicklungen oder Moralvorstellungen der Gesellschaft ablesen. Man erkennt, wie sich der Geschmack, wie sich soziale Strukturen, aktuelle Themen und vieles mehr entwickelt haben. Aber leider heißt das auch, dass die Sammlungen Aspekte widerspiegeln, die wir heute ethisch nicht mehr nachvollziehen können, die uns befremden, die uns in Teilen sogar entsetzen.
Provenienzforscher*innen suchen in Archiven und historischen Dokumenten Hinweise auf die Biographien der Bilder.
© SPK / photothek.net / Thomas Köhler
Vor diesem Hintergrund betrachten wir es als besondere Verpflichtung, unsere Sammlungen immer wieder kritisch zu hinterfragen. Es gilt, sensibel zu sein für öffentliche Debatten. Nicht immer können wir proaktiv agieren, aber wir können in Einzelfällen Anstöße liefern. Der Blick auf Geschichte verändert sich, er ist aber nie schwarz oder weiß. Wir befinden uns als Gesellschaft in einem Lern- und Entwicklungsprozess, der unglaublich dynamisch ist. Mit einer gewissen Skepsis darf es daher betrachtet werden, wenn bestimmte Debattenteilnehmerinnen und -teilnehmer behaupten, schon immer bestimmte derzeit als korrekt empfundene Haltungen vertreten zu haben. Das stimmt ebenso wenig wie die Behauptung, Kultureinrichtungen hingen stets rückständigen Sichtweisen an.
Die beiden Epochen der Geschichte, die uns in diesem Zusammenhang heute besonders beschäftigen, sind der Nationalsozialismus und die Kolonialzeit. Dabei war die Aufarbeitung der Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur lange bestimmend in der gesellschaftlichen Debatte und damit auch in der Kulturpolitik. Der monströse NS-Kunstraub ist mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder ins Blickfeld gerückt. Während es in den Ländern Westeuropas in den 1950er und 1960er Jahren eine erste, wenn auch unzureichende Befassung mit diesem Thema gegeben hatte, war das in den Ländern im Einflussbereich der Sowjetunion nicht der Fall. Bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), in der nach 1990 die jahrzehntelang geteilten preußischen Sammlungen aus Ost und West zusammengeführt wurden, stellten sich Fragen nach dem Umgang mit NS-Raubgut daher mit besonderer Vehemenz. Noch bevor sich die Träger der deutschen öffentlichen Kultureinrichtungen mit der sogenannten "Gemeinsamen Erklärung" zur Umsetzung der Washington Principles in Deutschland bekannt hatten, ermächtiger Stiftungsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz am 4. Juni 1999 den Präsidenten mit Rechtsnachfolgern von Opfern des NS-Kunstraubes Vereinbarungen über einvernehmliche Lösungen zu suchen.
Die Erforschung von verfolgungsbedingtem Kunstraub während des „Dritten Reiches“ wird seit vielen Jahren vorangetrieben. Das Erinnerungsprojekt „Kunst, Raub und Rückgabe – vergessene Lebensgeschichten“ von SPK und Bayerischen Staatsgemäldesammlungen nimmt beispielsweise die bewegenden Geschichten hinter den Restitutionsfällen in den Blick.
© SPK / photothek.net / Thomas Köhler
In etwa 60 Fällen sind wir bis heute zu diesem Ergebnis gekommen und haben bislang etwa 350 Objekte und 2.000 Bücher an die Erben jüdischer Eigentümer und anderer NS-Verfolgter zurückgegeben.
In den vergangenen zehn Jahren ist nun eine breite Diskussion über die Rolle Deutschlands insgesamt, und insbesondere der Museen, in der Kolonialzeit in Gang gekommen. Unsere außereuropäischen Sammlungen werden seitdem auch unter diesem Aspekt neu beleuchtet. Am Beispiel des Kolonialismus lässt sich gut erkennen, dass es nicht nur gesellschaftliche Debatten sind, die für die Neubetrachtung von Sammlungen entscheidend sind, sondern genauso Entwicklungen in den öffentlichen Kultureinrichtungen Themen in die Öffentlichkeit bringen können. Der Bau des Humboldt Forums war ein ganz wesentlicher Anstoß dazu, dass in Deutschland die koloniale Vergangenheit überhaupt in den Blick gerückt ist. Gerade bei diesem Thema gibt es derzeit eine sehr rasante Entwicklung der öffentlichen Wahrnehmung. Das kann man daran ablesen, dass die Grundhaltungen, die sich die Stiftung vor wenigen Jahren zu den Themen "menschliche Überreste" und "Kulturgut aus kolonialen Kontexten" gegeben hat, inzwischen dringend der Überarbeitung bedürfen.
Was kann man nun tun, wenn man feststellt, dass Sammlungsgut oder die Umstände, unter denen es erworben worden ist, nicht mehr unseren heutigen rechtlichen oder ethischen Maßstäben entspricht? Ist es das Sammlungsgut selbst, dass problematisch ist, hat die SPK ganz unterschiedliche Wege beschritten: Wir haben z. B. Objekte, die nachweislich rassistische Motive transportieren, kontextualisiert. Ein Beispiel ist hier Literatur aus dem Nationalsozialismus. Aber es gibt auch Dinge, die man nicht mehr einer breiten Öffentlichkeit zeigen kann oder möchte. Solches Sammlungsgut verbleibt in der Sammlung – als Dokument seiner Zeit und Arbeitsgrundlage für die Wissenschaft.
Oftmals geht es aber um die Erwerbungsumstände, die aus heutiger Sicht nicht mehr zu rechtfertigen sind. Was tun? Behalten? Zurückgeben? Mit dieser Frage geraten die öffentlichen Sammlungen in ein Dilemma, denn sie sind ja einem Bewahrensauftrag verpflichtet, sollen die Sammlungen für die Nachwelt erhalten. Sie kommen aber auch in Konflikt mit dem Haushaltsrecht, das vorgibt, dass staatliche Einrichtungen Eigentum nur in engen Grenzen abgeben dürfen. Für Sammlungsgut, das NS-verfolgungsbedingt entzogen wurde oder aus kolonialen Kontexten stammt, gibt es im Haushaltsrecht inzwischen Öffnungsklauseln, die aber eng gefasst sind.
In einem Aufbewahrungsraum im Depot Friedrichshagen lagern Schädel, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von dem Mediziner und Anthropologen Felix von Luschan zusammengetragen wurden. Ein Projekt zur Erforschung der Herkunft von ostafrikanischen Human Remains startete im Oktober 2017 am Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin (MVF).
© SPK / Birgit Jöbstl, 2017
Nun gibt es Fälle, die sehr leicht zu entscheiden sind: Wenn bei der Erwerbung von Sammlungsgut Gewalt und Unrecht im Spiel war, ist für uns klar: Diese Dinge sind selbstverständlich zurückzugeben. Im Bereich der NS-Raubkunst sind solche eindeutigen Fälle z. B. diejenigen, bei denen Kulturgut im Rahmen der Emigration aus Deutschland beschlagnahmt wurde. Ein Beispiel hierfür ist die mittelalterliche Alabastertafel, die der jüdische Sammler Harry Fuld vor seiner Auswanderung 1936 bei einer Spedition eingelagert hatte, wo sie von staatlichen Stellen entschädigungslos beschlagnahmt wurde. Diese wurde 2009 an die Erbin von Harry Fuld restituiert.
Wann hat die Verfolgung eine so große Rolle gespielt, dass nur eine Restitution in Frage kommt?
Ein weiteres Beispiel aus dem kolonialen Kontext: Für Kriegsbeute aus dem Maji-Maji-Krieg, einem der großen Widerstandskriege gegen die deutsche Kolonialherrschaft im östlichen Afrika, der Hunderttausende Menschen das Leben kostete, kann nur eine Repatriierung infrage kommen. Deshalb hat der Stiftungsrat im Juni 2022 den Präsidenten ermächtigt, mit den zuständigen Stellen in Tansania entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Keine Zweifel kann es auch bei menschlichen Überresten geben, die in der Kolonialzeit nach Deutschland gelangt sind. Hier handeln wir nach der Maßgabe: Wenn geklärt ist, woher sie kommen und die Herkunftsländer dies wünschen – was im Übrigen nicht immer der Fall ist! – werden sie repatriiert.
Leider ist es mit den Rückgaben nicht immer so einfach. Zunächst gibt es das ganz praktische Problem, dass die Provenienzforschung trotz aller wissenschaftlicher Genauigkeit vielfach nicht die genauen Erwerbungsumstände aufklären kann. Selbst wenn das aber der Fall ist, stellen sich oft schwierige Fragen.
Im Fall der NS-Raubkunst ist immerhin der rechtliche Rahmen klar: Die Opfer des Kunstraubes waren Europäer, mit europäischen Vorstellungen von Eigentum und Erbrecht. Es ist deshalb an die Erbinnen und Erben zu restituieren. Diese zu ermitteln, ist zwar manchmal schwierig – aber das sind eher praktische Probleme. Schwieriger zu beantworten ist aber bisweilen die Frage, ob ein verfolgungsbedingter Verlust vorliegt. Den sehr weitgehenden Ansatz, wonach prinzipiell jede Veräußerung durch einen Verfolgten ab dem 31. Januar 1933 ein verfolgungsbedingter Verlust ist, würden wir – in Übereinstimmung mit der Handreichung zur Gemeinsamen Erklärung – nicht teilen. Damit stellt sich also die Frage: Wann hat die Verfolgung eine so große Rolle gespielt, dass nur eine Restitution in Frage kommt? In etwa 60 Fällen sind wir bis heute zu diesem Ergebnis gekommen und haben bislang etwa 350 Objekte und 2.000 Bücher an die Erben jüdischer Eigentümer und anderer Verfolgter zurückgegeben.
Noch komplexer wird es im Bereich des Kulturgutes aus kolonialen Kontexten. Hier ist bereits häufig nicht klar, an wen zurückzugeben wäre. In den seltensten Fällen kommen Einzelpersonen als Empfänger bei Rückgaben infrage, meist sind es Communities, bei denen aber nicht immer geklärt ist, wer für sie handlungsbefugt ist. Hinzu kommt, dass diese Fälle nie nur als Privatangelegenheiten der früheren Besitzer betrachtet werden können, sondern außenpolitische Fragen berühren. Das bedeutet, dass neben der Community immer staatliche Stellen zu beteiligen sind, die bisweilen diametral andere Interessen vertreten.
Karteikarte zu einem mutmaßlich im Rahmen des „Boxerkrieges“ erbeuteten Objekt, das sich heute in der Sammlung des Museums für Asiatische Kunst befindet. Es ist noch viel Forschungsarbeit nötig, um die Aufklärung dieses internationalen Konfliktes voranzutreiben.
Foto: © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv / Kerstin Pannhorst
(...) es sind gesamtgesellschaftliche Themen, für die auch gesamtgesellschaftliche Antworten und Beiträge notwendig sind (...)
Im Bereich der Rückgaben aus kolonialen Kontexten wird es sicher auch weitere Diskussionen über die Frage geben (müssen), warum zurückgegeben wird. Denn die Erfahrung zeigt, dass die Partnerinnen und Partner Rückgaben nicht immer nur dann fordern, wenn ein Unrechtskontext vorliegt. Für sie steht viel mehr die Bedeutung des Objektes im Vordergrund. Zum Teil gelingt es uns, hier Lösungen zu finden: Bei der kürzlich erfolgten Rückgabe der Kogui-Masken an Kolumbien gab es durchaus Aspekte, die die Erwerbung als ethisch nicht ganz unzweifelhaft erscheinen ließen, sodass ein Unrechtskontext bejaht werden konnte. Für die Kogui war aber, ganz im Sinne der UN-Erklärung über die Rechte der Indigenen Völker, die sakrale Bedeutung der Masken essenziell. Hinzu kommt, dass sich die Communities und Herkunftsländer oft mehr wünschen als nur die Rückgabe von Objekten: Sie wünschen sich Erfahrungs- und Wissensaustausch, Unterstützung bei Projekten in ihren Ländern, eine eigene Stimme, wenn es darum geht, über die Objekte zu sprechen. Sie fordern aber auch finanzielle Entschädigungsleistungen und Entschuldigungen, nicht nur von den Kultureinrichtungen, sondern von den Regierungen! Und damit schließt sich der Kreis. Museen sind hier eben Teil der Gesellschaften, in und für die sie arbeiten. Als solche können sie einen Beitrag dazu leisten, das Unrecht der Vergangenheit aufzuarbeiten, an dem sie auch ihren Anteil haben. Dies kann aber nicht die Aufgabe der Kultureinrichtungen allein sein, sondern es sind gesamtgesellschaftliche Themen, für die auch gesamtgesellschaftliche Antworten und Beiträge notwendig sind, die sicher über Rückgaben hinausgehen werden.
Dieser Beitrag ist zuerst im Dossier „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ erschienen, das Politik & Kultur, der Zeitung des Deutschen Kulturrates, beiliegt.