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Digitalisierung im FokusBibliotheksbestände aus kolonialen Kontexten

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Ob bei Karl May, Karten von „Deutsch-Südwest-Afrika“ oder rassistische Metadaten – koloniale Kontexte sind überall zu finden, selbstverständlich auch in den Beständen von Bibliotheken. Um sich der richtigen und wichtigen Auseinandersetzung damit zu stellen, hat die Staatsbibliothek zu Berlin 2023 das Projekt „IN_CONTEXT. Colonial Histories and Digital Collections“ ins Leben gerufen. Worum es dabei geht und worauf es ankommt, erzählt Larissa Schmid. 

Frau Schmid, bei ihrem Projekt IN_CONTEXT geht es um Bestände aus kolonialen Kontexten in Bibliotheken. Was bedeutet das genau: Geht es um die Herkunft der Bücher oder Schriften oder deren Inhalte? Also was sind eigentlich Bibliotheksbestände aus kolonialen Kontexten?

Larissa Schmid: Mit dem Begriff „Koloniale Kontexte“ greifen wir eine Debatte auf, die ja in Kulturerbeeinrichtungen wie den Museen schon länger etabliert ist. Der Begriff umfasst sowohl formale Kolonialherrschaft als auch informelle Verhältnisse – und ist damit sehr breit angelegt und weder zeitlich noch regional genau festgelegt. Wenn wir nun also mit dieser Brille kolonialer Kontexte auf die Bibliotheksbestände schauen – insbesondere die Bestände der Staatsbibliothek – nehmen wir zum einen historische Drucke in den Blick, einem Sammelschwerpunkt der Stabi zwischen 1871 und 1912. Dann gibt es Sondermaterialien wie Karten, Nachlässe, Kinder- und Jugendliteratur oder Materialien aus der Musikabteilung, die spannend sind. Auch in den Regionalabteilungen finden wir Materialien, wie Handschriften aus Ostasien, dem islamischen und südasiatischen Raum etc. – genau diese Bestände könnte man im Zusammenhang des kolonialen Kontexts erforschen. In unserem Projekt steht derzeit somit eine Bestandssichtung im Zentrum, um dann in einem weiteren Schritt die Digitalisierung von Beständen in Kooperation mit der Forschung anzustoßen. 


Sie haben bereits erwähnt, dass man die Frage nach dem kolonialen Kontext eigentlich eher aus den Museen kennt. Sind Sie also Vorreiter oder gibt es in anderen Bibliotheken ähnliche Initiativen oder Projekte?

Schmid: Wir sind im Moment in der guten Situation, durch ein Vorprojekt, das uns für 24 Monate zwei wissenschaftliche Mitarbeitende finanziert, tatsächlich Kapazitäten und Ressourcen zur Verfügung stellen zu können, um dieses Thema anzugehen. Es gibt sicherlich Vorarbeiten und etablierte Kommunikation zwischen den Kulturerbeeinrichtungen, auch in Bibliotheken. Zu nennen wäre das Netzwerk Koloniale Kontexte, das sich auch unter der Beteiligung von Fachinformationsdiensten gegründet hat. Und natürlich gab es in anderen Bibliotheken bereits größere Digitalisierungsprojekte zu kolonialen Beständen, beispielsweise an den Universitätsbibliotheken in Frankfurt und Bremen (DSDK) sowie ein kleineres Projekt am Institut für Auslandsbeziehungen. Wir sind also nicht ganz Vorreiter, aber wichtiger ist sowieso, dass wir uns um einen starkem Austausch mit allen anderen Partner*innen aus anderen Bibliotheken bemühen, um dieses Thema gemeinsam zu bearbeiten.

Wie sieht denn die Zusammenarbeit mit anderen SPK-Einrichtungen aus? Da gibt es ja auch einiges zu bearbeiten?

Schmid: Genau. Wir sind im Austausch mit den Kolleg*innen von der postkolonialen Provenienzforschung, aber auch mit Kolleg*innen aus dem Ethnologischen Museum oder dem Museum für Vor- und Frühgeschichte sowie dem Geheimen Staatsarchiv. Es gibt sehr viele historische Sammlungsbezüge in Form von Akteuren und Praktiken, so dass ein Austausch zwischen den Einrichtungen wirklich sinnvoll ist.

Werden auch Vertreter*innen des Globalen Südens mit einbezogen?

Schmid: Wir haben Anfang November 2023 – und in der Hinsicht sind wir wohl doch Vorreiter – erstmalig einen größeren Workshop mit dem Titel „Bibliotheksbestände aus kolonialen Kontexten“ durchgeführt. Da waren insgesamt ca. 60 Vertreter*innen aus Forschung und Bibliothek zugegen, um das Thema allumfassend gemeinsam zu diskutieren. Wir hatten für diese Veranstaltung Kontakt aufgenommen mit Kolleg*innen aus Herkunftsgesellschaften wie Kamerun, Sri Lanka, Liberia, Kenia, Namibia, die dann für Videostatements zugeschaltet waren. Das hat unter anderem die Relevanz unserer Arbeit deutlich gemacht. Natürlich reicht es uns nicht, nur Videostatements einzuholen. Wir planen weitere Aktivitäten, wie eine größere internationale Konferenz, um dieses Thema gemeinsam mit Vertreter*innen aus dem Globalen Süden zu bearbeiten. Im Zentrum des Workshops stand die Frage, ob es einen Leitfaden für Bibliotheken geben soll, ähnlich wie der für Museen. Der Wunsch nach einem Äquivalent für Bibliotheken wird immer lauter.
 
Gab es noch andere Ergebnisse des Workshops?

Schmid: Wir haben den Workshop ja gemeinsam mit der dbv-Kommission Provenienzforschung und Provenienzerschließung und in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste organisiert. Darum haben wir uns einen halben Tag vornehmlich mit Provenienzgeschichte beschäftigt; uns gefragt: Wie gehen wir in Bibliotheken mit Objekten um, die im kolonialen Kontexten erworben wurden? Ansonsten ging es viel um Fragen der Digitalisierung und der Bestandspräsentation: Wie mit ethischen Fragen in der Digitalisierung umgehen? Sprich: Was machen wir mit sensiblen Materialien? Stellen wir diese einfach im Open Access zur Verfügung oder braucht es andere Formen des Zugangs?

Eine Erkenntnis war, dass wir Ressourcen brauchen, um das Thema angemessen bearbeiten zu können. Es wurde nämlich immer wieder deutlich, dass Forschung an einzelnen Sammlungen, sogar an einzelnen Manuskripten nötig ist, um wirklich etwas über die Provenienz eines Objekts aussagen zu können. Zum anderen braucht es Mittel, um diesen so vielfach geforderten Dialog mit Herkunftsgesellschaften auch führen zu können. Und da braucht es auch gute Formate wie Workshop und Austausch, um so etwas zu realisieren. Es wurden also viele Desiderate in diesem Workshop definiert. Die gemeinsame Erarbeitung eines Leitfadens wurde von vielen als sinnvoll erachtet.

Ein anderes großes Thema in der Bibliothek ist die Frage nach den Metadaten. Wie gehen wir heute mit rassistischen Klassifikationen um? Übernehmen wir diese in ihrer historischen Systematik oder gibt es innovative technische Lösungen, die eine umfassendere Bestandspräsentation ermöglichen, weil wir mit ihnen eine Reflexion einbauen können?

Bei IN_CONTEXT geht es ja erst einmal darum geht, die Finanzierung für das eigentliche Projekt zu organisieren, richtig?

Schmid: Genau, IN_CONTEXT ist ein Vorprojekt um Drittmittel einzuwerben. Unser erstes zentrales Ziel ist, für das Thema relevante Bestände in den Sammlungen der Staatsbibliothek zu identifizieren. Wir gucken hier vor allem auf den Zeitraum 1800 bis 1933. Hinzu kommen die ethischen Fragen der Digitalisierung, aber auch der digitalen Bestandspräsentation. Die sind ja nicht einfach zu lösen. Das ist stark konzeptionelle Arbeit und wir bemühen uns, hierzu aktiv mit der Forschungscommunity und mit „Communities of Interest“ zusammenzuarbeiten.

Aber auch der Austausch mit Kolleg*innen aus anderen internationalen Bibliotheken zu dem Thema ist extrem wichtig. Das Thema bewegt schließlich auch andere. Darum scheint IN_CONTEXT gerade zum richtigen Zeitpunkt zu kommen. Die perfekte Lösung, beispielsweise dieser virtuellen Forschungsumgebung, ist keine leichte. Und deswegen ist diese Netzwerkarbeit und dieser Austausch ein weiteres wichtiges Projektziel.

Es soll mehr werden als „Wir präsentieren Digitalisate"

Gibt es schon Ideen gibt für einen guten Umgang mit Beständen aus kolonialen Kontexten? Das wird dann im Leitfaden stehen, richtig?

Schmid: Hoffentlich. Die Frage von Zugang ist ganz zentral. Einmal geht es darum, z.B. auf der Website transparent zu zeigen, welche Sammlungen und Nachlässe für die Forschung zu dem Thema bereithalten, damit (international) Forschende schnell und gut erkennbar wird, welche Nachlässe etwa von zentralen kolonialen Akteuren beispielweise an der Stabi vorhanden sind? Wenn wir über die Digitalisierung sprechen, dann wird es komplexer. Die Digitalisierung von Materialien erlaubt einen weltweiten Zugriff und schafft somit Zugang. Wir wollen unsere Digitalisate auf einer Plattform im Open Access bereitstellen, gleichzeitig ist uns bewusst, dass es beispielsweise in ethnologischen Berichten auch Fotografien geben kann, die von bestimmten Gruppen als diskriminierend wahrgenommen werden. Wir sind da im Austausch und gucken auch, was in den Museen schon entwickelt wurde, um ethische Fragen in der Bestandspräsentation zu berücksichtigen.

Schließlich geht es darum, Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um idealerweise auch mit Communities of Interest an einer kritischen Aufarbeitung der Bestände zu arbeiten. Denn wir betreiben in dem Sinne im Projekt keine postkoloniale Provenienzforschung. Wenngleich es an der Staatsbibliothek in der Abteilung Historische Drucke und Handschriften ein Team gibt, das für die Provenienzforschung zuständig ist und sich perspektivisch auch stärker mit dem Thema koloniale Kontexte beschäftigen wird. Als Projektteam sehen wir uns eher als eine Plattform und auch als Vermittler. Wenn jemand beispielsweise plant, den Erwerbungskontext einer bestimmten Sammlung näher zu untersuchen, sind wir auf jeden Fall ein guter Ansprechpartner. Mit unserem Projektvorhaben wollen wir nicht nur einfach Digitalisate zeigen, sondern das Portal soll die Möglichkeit bieten, kollaborativ zu arbeiten oder beispielsweise Tools für Annotationen anzubieten. Es soll mehr werden als „Wir präsentieren Digitalisate".


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