Andreas Scholl, Direktor der Berliner Antikensammlung, über Götter im Dialog und die wegweisende Partnerschaft mit dem indischen Museum CSMVS
Herr Scholl, eines der wichtigsten Museen Indiens ist das CSMVS in Mumbai. Dort ist gerade eine internationale Ausstellung eröffnet worden, in der auch Skulpturen aus der Berliner Antikensammlung zu sehen sind. Sie waren dabei. Wie war es?
Scholl: Einfach großartig. Vor allem hat mich die Neugierde und der Wissensdurst der jungen Leute beeindruckt. Das CSMVS hat ja jährlich rund eine Million Besucherinnen und Besucher, das ist eine ganze Menge, die Hälfte davon sind Schüler und Studenten. Für sie ist die Ausstellung Teil eines breit angelegten Bildungsprogramms, das sogar in den Schulunterricht integriert wird. Moderne Busse ausgestattet mit reichhaltigem Anschauungsmaterial fahren im Großraum der 22-Millionen-Metropole von Schule zu Schule. Ich selbst war zu Gast in einer Grundschule in der Nähe von Mumbai, in dem Ort Alibag. Und konnte darüber sprechen, warum uns antike Skulpturen bis heute berühren.
Die Ausstellung ist in vielfacher Hinsicht beeindruckend…
Und ob! Sie ist ein Experiment, ein Wagnis, sie ist das wunderbare Ergebnis einer multinationalen, interkulturellen Zusammenarbeit. Partner des CSMVS und mehrerer indischer Institutionen sind das British Museum in London, das Getty Museum in Los Angeles und wir als Berliner Antikensammlung. Das ist wirklich einzigartig. Spiritus rector ist Neil McGregor, der frühere Direktor des British Museum, den ich von seiner Zeit am Humboldt Forum kenne. Er hat große Freude daran, verschiedene Partner zusammen zu bringen und neue Erkenntnisse, neue Einsichten möglich zu machen. Das Getty hat das Ausstellung großzügig finanziell unterstützt.
Worum geht es eigentlich?
Es geht im Grunde genommen darum zu zeigen, wie nah sich Indien, der Mittlere Osten und der Mittelmeerraum sind, wie sehr sie sich gegenseitig beeinflusst haben – und das schon seit der Antike, also seit rund 3000 Jahren. Der Titel der Ausstellung lautet ja: „Antike Skulpturen im Dialog: Indien, Ägypten, Assyrien, Griechenland, Rom.“ Die indischen Kuratorinnen und Kuratoren haben Objekte ausgewählt, die in den indischen Erzählungen zur frühen Geschichte des Landes eine wichtige Rolle spielen und teilweise Entsprechungen in den Mythen des antiken Mittelmeerraumes finden. So können schon die Schülerinnen und Schüler lernen, dass ihre eigene Kultur im engen Austausch mit anderen Weltregionen und Gesellschaften entstanden ist, dass es viel Verbindendes gibt. Von Berlin, von Europa aus, mag der indischen Subkontinent zwar weit entfernt erscheinen, aber wenn man da ist, merkt man, wie sehr wir seit je vernetzt sind.
Woran denken Sie?
Schon im fünften Jahrhundert vor Christus hat der berühmte griechische Historiker Herodot Facetten des Lebens in Indien vom Hörensagen beschrieben, die Art wie Menschen dort aßen, oder wie sie Gold schürften. Das zeigt: Auch wenn Herodot selbst sicher nie in Indien war, so gab es doch bereits Interesse an dem Leben dort. Später marschierte dann Alexander der Große mit seinem makedonischen Heer bis ins Industal. Städte wurden gegründet oder hellenisiert. Und dann kamen die Römer, sie betrieben regen Handel: mit Gewürzen, Seide, Elfenbein und Halbedelsteinen. Die Kunst und Kultur des Mittelmeeres verschmolz so mit indischen Traditionen und ließen etwas Neues entstehen – sichtbar wird das besonders anschaulich in der graeco-buddhistischen Gandhara-Kultur. In den Ghandara-Reliefs etwa spiegeln sich griechische Götterbilder. Europa und Indien haben Waren ausgetauscht, aber auch Wissen und ihre Ideen. Sie haben sich gegenseitig bereichert. Wussten Sie, dass im antiken Mythos Dionysos aus Indien kommend in Griechenland triumphal Einzug hielt?
Wie genau ist das in der Ausstellung zu sehen?
Die indischen Objekte und die Skulpturen aus den Museen in Berlin, London und Los Angeles stehen sich im Wortsinne von Angesicht zu Angesicht gegenüber, sie führen einen unmittelbaren Dialog. Ganges und Nil, personifiziert in Bildwerken, stehen Seite an Seite. Oder nehmen Sie die antike Marmorskulptur des Berliner Tritonen, die den Sohn des griechischen Meeresgottes Poseidon mit seinem wie nass wiedergegebenem Haar und einem Unterkörper in Gestalt eines Fischschwanzes zeigt. In Mumbai steht sie Varuna gegenüber, einer Hindu-Gottheit, die über die Ozeane und Himmel regiert. Ein anderes Beispiel ist die indische Frauenstatue eines Naturgeistes, Yakshi, die mit ihren großen Brüsten, der schmalen Taille und der breiten Hüfte für die ideale weibliche Schönheit in der frühklassischen Kunst Indiens steht. Gleich neben ihr können die Besucherinnen und Besucher eine römische Venus aus unserer Sammlung bewundern, deren Proportionen ein klassisches Schönheitsideal der Griechen spiegeln. In der Kunst drücken antike wie moderne Gesellschaften ihre Bedürfnisse, Gefühle und auch Narrative aus – es werden Identität und Kohäsion gestiftet.
Das alles klingt allerdings nicht nur nach Kunst, sondern auch nach Diplomatie.
Natürlich. Indien ist ja nicht irgendein Staat, sondern inzwischen das bevölkerungsreichste Land der Welt. Und längst ein globaler Player auf allen Feldern. Seine wirtschaftliche Macht und strategische Bedeutung wachsen ständig. In Anbetracht der vielen Krisen in der Welt hat die Ausstellung also durchaus auch einen politischen Anspruch: Sie spricht nicht von Konfrontation, sondern fruchtbarem Austausch einander zunächst fremder Kulturen. Ich finde, damit weist sie einen Weg in eine bessere Zukunft. Aber Kunst will zunächst einmal neugierig machen, begeistern. Der Zugang zum Verständnis der Ausstellung ist darum auch ein ganz breiter. Zu sehen sind ja nicht nur Objekte aus vier Sammlungen, sondern auch aus ganz unterschiedlichen Zeiten – so ist es möglich, ganz verschiedene Menschen auf ganz unterschiedliche Weise anzusprechen. Die einen interessieren sich für die Mythen, deren Verwandlung in ausdrucksstarke Bildwerke, die anderen haben vielleicht Freude daran, die faszinierende Schönheit der Skulpturen zu genießen.
Dahinter steckt sicher viel Arbeit?
Und jahrelange Vorbereitung: persönliche Treffen in Mumbai, London und Berlin, Stunden von Telefonkonferenzen und hunderte E-mails. Das CSMVS hat eine großartige Ausstellung organisiert. Ich bin unseren indischen Partnern dankbar dafür, dass sie so ausnahmslos freundlich und geduldig mit uns waren. CSMVS, Getty, British Museum und die Berliner Antikensammlung: Jeder der Partner musste so manche rechtliche und verwaltungstechnische Hürde überwinden. Dabei haben wir festgestellt, wie unterschiedlich unsere Mentalitäten doch oft sind. Sicher ist: Diese Partnerschaft könnte neue Standards der interkulturellen Zusammenarbeit setzen und vielleicht auch zu einem Modell für andere werden. Wir wollten beweisen: Museen des globalen Nordens arbeiten mit Museen des globalen Südens sehr erfolgreich zusammen, ohne Berührungsängste und vor allem respektvoll und auf Augenhöhe.
Was bedeutet das für Berlin?
Wir freuen uns, dass wir zum ersten Mal einige unserer Skulpturen in Indien einem großen und sehr interessierten Publikum zugänglich machen können. Für die Berliner Antikensammlung ist die Ausstellung in Mumbai ein großer, vielleicht wegweisender Erfolg.
Wie geht es weiter?
Wir hoffen, dass das erst der Anfang ist. Wenn die jetzt eröffnete erste Phase dieser multinationalen Ausstellungskooperation im kommenden Jahr endet, beginnt ein noch deutlich umfangreicheres Projekt, das auch Kulturen des Fernen Ostens einschließt, darunter China und Japan. Das CSMVS wird eine Galerie der antiken Zivilisationen gestalten, zu der die Berliner Antikensammlung zahlreiche Objekte beisteuern kann. Das zeigt auch: Als eine der bedeutendsten Sammlungen klassischer Antiken weltweit sind wir keineswegs nur in Berlin präsent, sondern durch Sonderausstellungen und Dauerleihgaben auch global. Hier auf der Museumsinsel sind wir mittlerweile an gleich vier Standorten vertreten, zugänglich für Gäste aus aller Welt. Wir stellen nicht nur aus, wir forschen auch, und können inzwischen auf 350 Jahre Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte zurückblicken. Forschung ist Teil unserer DNA, schon seit der Gründung der Sammlung. Das macht uns zu einem attraktiven Partner – der von anderen viel lernen und von Kooperationen sehr profitieren kann.
Ancient Sculptures: India Egypt Assyria Greece Rome
Zur Ausstellung
- 2. Dezember 2023 – 1. Oktober 2024
- Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya (CSMVS), Mumbai