Zwei Personen betrachten ein historisches Baumwolltuch, das auf einem großen Tisch ausgebreitet ist

Textiles Großprojekt: Der Umzug des Lienzo Seler II ins Humboldt Forum

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Kerstin Flemming und Thomas Arens sind Textilrestaurator*innen der Staatlichen Museen zu Berlin. Trotz ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Häusern und thematisch verschiedenen Fachgebieten arbeiten die beiden Restaurator*innen momentan im Team an einem gemeinsamen Großprojekt: Dem Lienzo Seler II. Es hing fast 50 Jahre lang unberührt in seiner Glasvitrine im Ethnologischen Museum in Dahlem – nun wird es auf seinen Umzug ins Humboldt Forum im kommenden Jahr vorbereitet.

Der kulturhistorisch wie konservatorisch vielschichtige Lienzo Seler II ist „kein Objekt für nur eine Person“, erzählt Kerstin Flemming vom Ethnologischen Museum gleich zu Beginn. Das historische mexikanische Baumwolltuch aus dem 16. Jahrhundert ist bemalt und besitzt Schrifteinträge. Zusammen mit ihrem Kollegen Thomas Arens vom Museum für Asiatische Kunst bereitet Flemming dieses Objekt mit einer Größe von 383 x 442 cm (16 m²) auf seinen Umzug ins Humboldt Forum im kommenden Jahr vor. Beide treffen alle Entscheidungen gemeinsam und holen sich zur eigenen Expertise zusätzlich das Expertenwissen von erfahrenen Fachkollegen, mit der Thematik befassten Kulturhistorikern und Naturwissenschaftlern hinzu und gingen in intensiven Austausch mit Restaurator*innen, die vergleichbare fachliche Problematiken bearbeitet haben. Zudem konnten auch Kolleg*innen im Ruhestand befragt werden, die den Lienzo Seler II Ende der 1960er Jahre restauriert hatten. Von besonderer Bedeutung ist außerdem die Zusammenarbeit mit dem Rathgen-Forschungslabor der Staatlichen Museen zu Berlin.

Zwei Personen betrachten ein historisches Baumwolltuch, das auf einem großen Tisch ausgebreitet ist

Die Textilrestaurator*innen Kerstin Flemming und Thomas Arens bereiten den Lienzo Seler II auf seinen Umzug ins Humboldt Forum vor. © SPK / Elena Then

Die Zeit drängt, denn schon Anfang 2021 wird das Tuch von freiberuflichen Restaurator*innen nach den Vorgaben von Arens und Flemming bearbeitet werden – dabei steht die Sicherheit des Objektes immer im Vordergrund. Vorausgehende qualitative und quantitative Analysen sind dafür unabdingbar und werden zurzeit noch erwartet.

Für die neue Präsentation im Humboldt Forum muss der Lienzo Seler II von dem Trägerstoff, auf dem es in den 1970er Jahren mit Tausenden von kleinen Stichen aufgenäht wurde, abgenommen werden. Arens und Flemming haben festgestellt, dass das leinen- und viskosehaltige Trägermaterial nach heutigen konservatorischen Maßstäben nicht nur bezüglich der Materialwahl ungeeignet ist, sondern dass durch die industrielle Imprägnierung zusätzlich Schadstoffemissionen das Objekt belasten. Aufgrund dieser im Sommer 2020 festgestellten vielschichtigen konservatorischen Problematiken muss eine umfassende konservatorisch-restauratorische Überarbeitung des Lienzo noch verschoben werden.

Arens und Flemming konzentrieren sich daher auf eine konservatorisch und optisch verbesserte Präsentation des Objektes im Humboldt Forum. Die wichtigsten Maßnahmen bestehen in der Ablösung des Lienzo von dem schädigenden Material und seine Übertragung auf ein noch speziell herzustellendes materialgerechtes sowie oddy-getestetes Trägergewebe.

Die einzelnen Nähstiche müssen dazu in präziser Handarbeit gelöst werden, um den Lienzo anschließend auf dem neuen Trägergewebe professionell zu fixieren. Nicht nur die zeitintensive Tätigkeit des Ablösens und Übertragens des Originals, sondern auch die Beschaffung des neuen Stützgewebes selbst stellt die Restaurator*innen vor Herausforderungen: Vor der Vergabe einer Beauftragung müssen Muster hergestellt werden, welche mithilfe des Oddy-Tests auf die konservatorische Eignung in Verbindung mit dem Objekt erfolgreich getestet werden – erst dann kann das neue Stützgewebe beauftragt und gefertigt werden.

Ein historisches Baumwolltuch
© Ethnologisches Museum / Staatliche Museen zu Berlin
Detailaufnahme eines historischen Baumwolltuchs
Die Zeit ging nicht spurlos am Lienzo vorbei: Mehrere Fehlstellen durchziehen das Baumwolltuch. © SPK / Elena Then
Eine Frau betrachtet einen Scan mit mehreren Markierungen
Digitale Scans erleichtern die Analyse. © SPK / Elena Then

Die Restaurator*innen haben in diesem besonderen Fall entschieden, das neue Stützgewebe in Objektbreite – 470 cm in einem Stück – speziell weben zu lassen, um in Zukunft Nahtabdrücke auf dem kostbaren Baumwolltuch zwingend zu vermeiden.

Mittelfristig stehen weitere Untersuchungen und Maßnahmen für den Lienzo Seler II an: Es kann gegenwärtig nicht erschöpfend geklärt werden, welche langzeitlichen Einflüsse die im Objekt vorhandenen Hinterlassenschaften aus den beiden Restaurierungsphasen (um 1930 und 1968-1970) in Form von Kaschier- und Festigungssubstanzen auf die originalen Farben, Bindemittel, Tuschen und auf das Grundgewebe selbst ausüben werden. Umfangreiche naturwissenschaftliche Untersuchungen sind dafür vonnöten. Es sind zu beantwortende Fragen, ob es realistische Möglichkeiten für eine zerstörungsfreie Reduzierung der eingebrachten Altrestaurierungssubstanzen auf dem Objekt gibt und ob dies in Zukunft erwogen werden muss. Konservatorische und kulturhistorische Aspekte sind hier eng verflochten und bilden zusammen vielschichtige Problemstellungen.

Neben restauratorischen Aspekten haben sich Arens und Flemming auch mit gestalterischen Gesichtspunkten befasst – stets unter Einbeziehung der konservatorischen Bedürfnisse des Lienzo. Für die Präsentation wurden digital verschiedene Möglichkeiten der Präsentation anschaulich graphisch visualisiert. Im Dialog mit fachlich zuständigen Kulturhistoriker*innen muss nun entschieden werden, wie mit den Fehlstellen auf der Karte umzugehen ist, ob diese offen sichtbar sein dürfen oder optisch nivelliert werden sollen.  Anhand der Webkanten und Nähte kann man die ursprünglichen Ausmaße des Objektes erkennen und daran entscheiden, ob und in welcher Form dies betont werden oder ob es eine untergeordnete Rolle spielen soll.

An dieser Stelle tritt die Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen anderer Fachgebiete noch einmal besonders hervor, denn schon allein die Farbgebung des Stützgewebes, welches die Textilrestaurator*innen anfertigen lassen, nimmt großen Einfluss auf die Ausstrahlung und Aussage des Objekts.

„Sinnvoll und zu wünschen wäre für die Zukunft ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, auch in Zusammenarbeit mit mexikanischen Fachkolleg*innen, welches grundlegende naturwissenschaftliche Untersuchungen, deren Auswertung und Anwendung eine verantwortungsvolle und umfassende Restaurierung ermöglicht und zur weiteren Ausschöpfung des kulturwissenschaftlichen Forschungspotenzials des Lienzo Seler II beitragen kann“, so Flemming. Fragen zur Herstellung, zur zeitlichen Einordnung der Entstehungsphasen der Karte sowie über die Anzahl der dokumentierenden Personen in der Verwendungsphase könnten ebenfalls weiterverfolgt und bearbeitet werden.

Der Lienzo Seler II

Der Lienzo Seler II (Coixtlahuaca II) aus der Sammlung des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin ist eines der beeindruckendsten Objekte, die im Humboldt Forum präsentiert werden. Mixtekische und Chocho-Autoren stellten das große 383 cm x 442 cm große Baumwolltuch im 16. Jahrhundert im Tal von Coixtlahuaca (Oaxaca, Mexiko) her, um darauf den Ursprung ihrer Herrscher und die Gründung ihrer Siedlungen in dem multiethnischen Tal zu dokumentieren. Sie hielten Ereignisse fest, die eine Periode von mehr als 500 Jahren bis in die frühe spanische Kolonialzeit umfassen und ihren Anspruch auf Macht, Land und Privilegien im Stil der vorspanischen Bilderschrift sichtbar machen. Das Dokument ist nach seinem Sammler Eduard Seler benannt, der es 1897 nach Berlin brachte. 2017 wurde der Lienzo erstmals in allen Details in zahlreichen Abbildungen farbig publiziert und von zehn internationalen Experten umfänglich nach neuesten Erkenntnissen interpretiert.

Der Oddy-Test

Mit Hilfe des Oddy-Tests kann man die Verträglichkeit von Materialien für Vitrinen, Schränke, Museumsräume oder auch Verpackungsmaterialien mit musealen Objekten überprüfen. Er folgt genauen und reproduzierbaren Arbeitsschritten, die von Andrew Oddy 1973 etabliert wurden. Mehr dazu finden Sie auf der Website des Rathgen-Forschungslabors


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