Unsichtbares sichtbar machen

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Multispektrale Bildgebung hat großes Potenzial. An der Staatsbibliothek Berlin wird es von Andreas Janke erschlossen.

Und dann waren da diese seltsamen Abdrücke, rund, blau, an den Rändern bestimmter Blätter, sechs insgesamt. Sie konnten nur von Brillengläsern stammen, von Brillen, die ein Leser vielleicht vergessen hatte zwischen den alten Pergamentblättern, im sogenannten San-Lorenzo-Palimpsest. Andreas Janke hat das Dokument aus dem spätmittelalterlichen Florenz genau unter die Lupe genommen, oder besser: er hat es mit modernster multispektraler Bildgebung untersucht. Und dabei viele neue Erkenntnisse gewonnen. Er sagt: „Es ist nicht nur der Text, der uns an einer alten Handschrift interessiert, sondern auch das Material – und die Geschichte, die es erzählt.“

Multispektrale Bildgebungstechnologie ist der Schlüssel zu dieser verborgenen Geschichte: Mit Hilfe eines speziellen Kamerasetups, LED-Lampen und Filtern können so auch jene Wellenlängen des Lichts berücksichtigt werden, die für das bloße menschliche Auge unsichtbar sind – vor allem infrarot und ultraviolett. So wird Unsichtbares sichtbar. Besonders etabliert ist das Verfahren bei Palimpsesten, also bei Manuskripten, deren ursprünglicher Text abgeschabt und überschrieben wurde. Auch das kostbare Palimpsest aus Florenz gehört dazu. Auf ihm wird Kirchenbesitz beschrieben. Erst als Andreas Janke es mit der modernen Technik untersuchte, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen an der Universität Hamburg, da wurde klar, dass auf den Pergamentblättern ursprünglich etwas ganz anderes stand: wunderbare Musik, mehrstimmige weltliche Kompositionen des 14. Jahrhunderts. Ein spektakulärer Fund. Bei dem ganz nebenbei die Brillenabdrücke ans Licht kamen.

Porträt eines Mannes

Andreas Janke, Referendar an der Staatsbibliothek zu Berlin, untersuchte mittelalterliche Dokumente mit modernster multispektraler Bildgebung.

Foto: Masa Yuasa

Das Objekt ist lange bekannt, aber die Forschungsfragen sind neu: Wurden die Brillen vielleicht als Lesezeichen genutzt, an besonders wichtigen Stellen zwischen die Blätter gelegt? Stammen sie von einem der Optiker, von denen es in der Nachbarschaft der Kirche San Lorenzo gleich mehrere gab? Klar ist: MSI, die multispektrale Bildgebung, schafft neues Wissen über damalige Lesegewohnheiten, über die Bedeutung einzelner Textpassagen, darüber, wie regelmäßig das Buch genutzt wurde. Denn verschiedene Farben können verschiedene Texte auf einer Seite zeigen, sie können den Schreibprozess sichtbar machen, oder auch einen Tintenwechsel. „Wir visualisieren Informationen“, sagt Janke.

Scan eines historischen Schriftstücks
San Lorenzo Palimpsest (Florenz, Archivio del Capitolo di San Lorenzo, Ms. 2211), vor der Bearbeitung durch MSI
Scan eines historischen Schriftstücks, digital nachbearbeitet
San Lorenzo Palimpsest (Florenz, Archivio del Capitolo di San Lorenzo, Ms. 2211), nach der Bearbeitung durch MSI konnte die untere Schriftebene lesbar gemacht werden.
Scan eines historischen Schriftstücks, digital nachbearbeitet
San Lorenzo Palimpsest (Florenz, Archivio del Capitolo di San Lorenzo, Ms. 2211), durch MSI wurden auch versch. Abdrücke von Brillen sichtbar gemacht, die für einige Zeit im Buch gelegen haben

In seiner Arbeit an der Staatsbibliothek Berlin zeigt er, was das konkret bedeutet: „Digital Humanities“. Und auch: „Material Turn“, die Wende hin zum Material. Es ist ein kooperatives Arbeiten über Fächergrenzen hinweg. „Die multispektrale Bildgebung ist ein gutes Beispiel dafür, warum es so einen Mehrwert bringt, wenn Geisteswissenschaftler*innen und Naturwissenschaftler*innen immer enger zusammenarbeiten. Chemiker*innen und Materialanalytiker*innen, Bibliothekar*innen und Restaurator*innen – die gemischten, interdisziplinären Teams machen Forschung besonders erfolgreich“, sagt Janke, der bald sein Bibliotheksreferendariat abschließt. Er selbst ist Musikwissenschaftler, Handschriftenforscher, Italianist. Aber eben mehr als nur das: auch Naturwissenschaften und Technik faszinieren ihn.

Begeistert erzählt er von der Eisengallustinte, die tief ins Pergament eindringt, und darum später wieder sichtbar gemacht werden kann, auch wenn einmal der Versuch gemacht wurde, sie zu entfernen. Er kennt sich aus mit moderner Software, mit Algorithmen und Pixeln – und kann anschaulich erklären, was die moderne multispektrale Bildgebungstechnologie für den Umgang mit Datenmengen und Speicherkapazitäten bedeutet. „Mir geht es nicht darum, hübsche Bilder zu machen, sondern darum, Daten zu sammeln, aus denen dann neue Informationen gewonnen werden können. Und zu überlegen: Welche Forschungsfragen können damit beantwortet werden?“

Denn neu ist die „Palimpsestfotografie“ nicht – schon vor mehr als hundert Jahren wurde ultraviolettes Licht genutzt, um ausgelöschte Schriften sichtbar zu machen. Neu sind die Datenmengen, die bei moderner Multispektralbildgebung entstehen. Sie müssen aufbereitet und bereitgestellt werden. Soll man sie alle aufbewahren? Wie passen sie eigentlich in die gängigen Systeme, die Kataloge und Repositorien der Bibliothek? Wie werden die verschiedenen Datenarten kompatibel?

Klar ist: Die Digitalisierung ist längst auf einer neuen Stufe angekommen. Wurde bisher nur ein einziges Foto von einer Manuskriptseite erstellt, um es in den „Digitalisierten Sammlungen“ online zugänglich zu machen, so produziert die neue Aufnahmetechnik bis zu fünfzig Bilder – also sehr viel mehr Daten. Um sie zu erschließen, bräuchte man Personal mit Spezialexpertise, image scientists. Doch die sind rar. Andreas Janke arbeitet darum an einem Konzept. Was genau kann man eigentlich mit der Technik machen – und was nicht? Er wird Vorschläge erarbeiten und sie noch in diesem Sommer an der Staatsbibliothek zu Berlin präsentieren.

Denn anders als Bibliotheken in Göttingen oder München, in Cambridge oder Kopenhagen hat die Stabi bisher noch keine eigene Infrastruktur für multispektrale Bildgebung. Stattdessen sind regelmäßig mobile Forscherteams mit ihren Laboren zu Gast, bringen Multispektralkameras mit und zum Beispiel Röntgenfluoreszenzgeräte. Sie kommen, wenn es ein bestimmtes Forschungsinteresse an einem oder mehreren Schriftstücken gibt. Andreas Janke und seine Kolleginnen und Kollegen überlegen nun, wie es wohl wäre, wenn künftig alle interessanten Handschriften systematisch multispektral analysiert würden. Welches Team müsste man dafür haben, mit welchen Kompetenzen? Wie wird das koordiniert?

Viele Geheimnisse gibt es zu entdecken: Im prächtigen Gerhart-Hauptmann-Saal der Staatsbibliothek Unter den Linden zeigt Andreas Janke zusammen mit der wissenschaftlichen Bibliothekarin Nicole Eichenberger das aus einem Nonnenkloster stammende Palimpsest mit der Signatur Ms. germ. oct. 48, ein Kunstwerk mit prächtigen Randverzierungen, Initialen und Miniaturen. Und da, scheint da auf einer Seite nicht eine untere Textebene durch? Wurde da nicht eine alte Schrift abgeschabt und neu überschrieben, vielleicht Jahrhunderte später? 27 Palimpseste der Staatsbibliothek findet man bei einer einfachen Suche im Handschriftenportal, dem zentralen Nachweisportal für europäische Buchhandschriften – wahrscheinlich gibt es aber viele weitere Palimpseste, die bislang nur noch nicht entdeckt wurden.

Historisches Gebetbuch
Gebetsbuch aus einem Nonnenkloster, um 1520 (Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Ms. germ. oct. 48)
Seite eines historischen Gebetbuches
Gebetsbuch, Das Pergament wurde recycelt – deutlich sind Spuren einer älteren Handschrift zu erkennen: einem liturgischen Manuskript mit musikalischer Notation aus dem 13./14. Jahrhundert
Seite eines historischen Gebetbuchs
Gebetsbuch, Hier sind die Spuren der älteren Handschrift mit dem bloßen Auge kaum noch erkennbar. Nur die Initiale blieb von der mittelalterlichen Handschrift übrig und wurde für den neuen Text im 16. Jahrhundert wiederverwendet.

Sicher ist: Es lohnt sich. Denn MSI ist nicht nur nützlich beim Verstehen alter Handschriften. Sie hilft auch zu erkennen, was in jüngeren Schriftträgern eventuell geschwärzt, gestrichen oder zensiert wurde. Sie macht Schriften sichtbar, die durch Schimmel, Wasser, Feuer oder zu viel Sonne unleserlich wurden. Andreas Janke wünscht sich, dass zukünftig immer häufiger Workshops stattfinden, die sich dem Umgang mit diesen komplexen Techniken und Daten widmen und an denen vor allem auch junge Handschriftenforscherinnen und -forscher mitmachen. Es ist ein wichtiges Ziel der gerade erschienenen „Strategie Stabi 2030“: die Forschung mit neuen technischen Verfahren voranzubringen.

So ist die Staatsbibliothek dabei, ihr Profil als serviceorientierte Forschungsbibliothek zu schärfen. Mit dem „Stabi Lab“ gibt es schon einen Ort, an dem bereits mit Digital-Humanities-Verfahren und Daten experimentiert und in fächerübergreifenden Kooperationen gearbeitet wird. Und vor allem: Auch andere Einrichtungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz haben bereits Erfahrungen mit der multispektralen Bildgebung gesammelt. Von einem stiftungsweiten Austausch können alle profitieren. Andreas Janke hat dazu schon Gespräche geführt, unter anderem mit Kolleg:innen aus dem Kupferstichkabinett, dem Geheimen Staatsarchiv und dem Rathgen-Forschungslabor. Und das ist erst der Anfang.

Henoch-Palimpsest

Verschiedene Geistes- und Naturwissenschaftler*innen haben auch das sogenannte Henoch-Palimpsest (Petermann II Nachtrag 24) untersucht, eine altäthiopische Handschrift, die in der Orientabteilung der Staatsbibliothek aufbewahrt wird. Mit Hilfe multispektraler Bildgebung konnte das internationale Team die ursprüngliche Schrift identifizieren, von der nur wenige Buchstaben mit dem bloßen Auge lesbar waren: Predigtsammlungen, Märtyrerberichte und liturgische Gesänge. Im Keller der Staatsbibliothek hatten die Forscher*innen eine Dunkelkammer eingerichtet. Die Handschrift wurde mit multispektraler Bildgebung und Röntgenfluoreszenzanalyse untersucht, um die wertvollen Palimpseste lesbar zu machen und um mehr über die Tinten zu erfahren.

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