Blick in eine Ausstellung, an der Wand steht "Klaviatur – Tastatur – Interface"

Heute schon getastet?

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Vom Cembalo über die Schreibmaschine bis zum Computer: Das Musikinstrumenten-Museum zeigt in einer inklusiven Ausstellung, wie ein leichter Fingerdruck unsere Welt verändern kann

Menschen sitzen auf Stuhlreihen, auf einem Podest in einem Musikinstrumenten-Museum musizieren drei Personen.

Die Frage „Heute schon getastet?“ wird wohl kaum jemand verneinen können: Haushaltsgeräte, Computer, Tablets werden per Tasten betätigt. Kein Tag vergeht, ohne sie zu benutzen, vom Kaffee aus der Maschine am Morgen bis zu den Nachrichten aus dem Fernseher am Abend. Tatsächlich waren es Musikinstrumente, auf denen diese spezielle Technik beruht.

Foto: Feierliche Eröffnung im Musikinstrumenten-Museum. © Jörg Joachim Riehle

Wer das Cembalo oder das Klavier spielen wollte, musste entsprechend geschultes motorisches Geschick mitbringen. Und konnte sich darauf verlassen, dass die normierten Tasten in immer der gleichen Reihenfolge angeordnet waren und die immer gleichen Töne hervorbringen würden. Könnte man dieses serielle Prinzip nicht auch für andere Funktionen verwenden? Vielleicht, um Buchstaben auf Papier zu bringen? So geschah es bereits um 1808, als der italienische Erfinder Pellegrino Turri für eine erblindete Gräfin die wohl erste funktionierende Schreibmaschine erzeugte. Und damit kamen das „Schreibclavier“, das „Cembalo Scrivano“ oder „Das literarische Piano“ in die Welt.

Den Spuren dieser Entwicklungslinien folgt im Musikinstrumenten-Museum jetzt die Spotlight-Ausstellung „Klaviatur – Tastatur – Interface“. Für die Kuratorin Mireya Salinas ist sie nicht nur ein Streifzug durch die Kulturgeschichte des Tastens, sondern überdies ein wunderbarer Weg zur Inklusion: „Von Anfang an war diese Ausstellung als Vermittlungsprojekt für blinde, sehbehinderte und sehende Menschen gedacht. Wie können wir unser Haus wirklich für alle öffnen? Aufgrund dieser Frage haben wir die Zugänglichkeit des Musikinstrumenten-Museums noch einmal gründlich geprüft, ebenso die Kriterien der Barrierefreiheit.“ Und man hat sich als professionellen Ansprechpartner an den Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. gewandt, der mit einer Expert*innengruppe um Reiner Delgado das Projekt begleitete. Gelungen ist so eine Ausstellung auf der Höhe der Zeit, die unter Einsatz modernster Technik heterogene Erfahrungshorizonte verschmilzt und auf interessant-charmante Weise zur Teilhabe verhilft. Diese ist sowohl im konkreten Raum des Museums wie über eine spezielle digitale Besuchstour möglich. Ob vor Ort im Bezirk Tiergarten oder vom heimischen Sofa aus, beides hat seine Reize. Wer jedoch direkt ins Museum kommt, hat den Vorteil, hier vieles berühren und ausprobieren zu können.

Blick in eine Ausstellung, an der Wand steht "Klaviatur – Tastatur – Interface"
Am 22.10.2022 wurde die Spotlight-Austellung "Klaviatur – Tastatur – Interface" im Musikinstrumenten-Museum eröffnet. © Jörg Joachim Riehle
Menschen betrachten Objekte in einer Ausstellung von Musikinstrumenten
Anfassen erlaubt! Die Spotligh-Ausstellung "Klaviatur – Tastatur – Interface" im Musikinstrumenten-Museum. © Jörg Joachim Riehle
Menschen stehen in einer Ausstellung an einem Modul
Wer aktuell ins Musikinstrumenten-Museum kommt, hat den Vorteil, hier vieles berühren und ausprobieren zu können. © Jörg Joachim Riehle

Spotlight-Ausstellung "Klaviatur – Tastatur – Interface"

Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung
Tiergartenstraße 1, Eingang Ben-Gurion-Straße, 10785 Berlin
Laufzeit: 22.10. bis 31.12.2022
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr 9-17 Uhr, Do 9-20 Uhr, Sa+So 10-17 Uhr
Tel. +49 30 25481 178
kasse@mimpk.de

Inklusion bringt sogar die Glasharmonika wieder zum Klingen

Objekte im Museum anfassen – ist das nicht ein Tabu? „Natürlich ist es das und soll es auch bleiben“, lacht Mireya Salinas: „Aber wir haben uns etwas Neues einfallen lassen: Wir haben fünf ausgewählte Instrumente – Glasharmonika, Clavichord, Drehleier, Regal, Mellotron – mit eigenen Interaktionssäulen ausgestattet. Dort befinden sich Klaviaturen, auf denen man die Töne der historischen Instrumente, die in Sichtweite stehen, nachspielen kann. Die hört man sonst ja nicht! Also wurden extra Samples aufgenommen, die nun individuell abgerufen werden können. Wer mag, kann aus diesen Originalklängen gleich vor Ort ein kleines Musikstück komponieren. Und zu Hause erst recht, da kann man sich die Samples nämlich kostenfrei herunterladen.“ Keine schlechte Idee, weil sich dadurch der Zugang zu völlig anderem Klangmaterial als in einer normalen digitalen Soundbibliothek erschließt.

Wer weiß denn auf Anhieb, wie eine Glasharmonika klingt, die oder der nicht sofort Mozarts Adagio in C-Dur für Glasharmonika im Ohr hat, oder seine letzte Kammermusik, das Quintett für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Viola und Cello? Beide Werke entstanden auf Bitten der blinden Virtuosin Marianne Kirchgeßner (1769-1808), die bei ihren Konzerten in ganz Europa gefeiert wurde. Jetzt kann man sich Kopfhörer aufsetzen und mit den vorbereiteten Samples auf einer Tastatur die Glasharmonika zum Leben erwecken, die daneben, stolze 120 Zentimeter lang, in ihrer Vitrine ruht.

Gewiss hat im Prinzip jede*r schon einmal ihre ätherischen Klänge vernommen, der über den Rand eines mit Wasser gefüllten Glases gestrichen hat. Bloß richtige, gestufte Melodien lassen sich erst hier erfinden – und es macht größten Spaß! Dieses Vergnügen teilen sich in dieser Ausstellung alle, egal, ob und wie gut sie sehen können – aber zu verdanken ist es in der Tat den blinden oder sehbehinderten Menschen, für die diese Interaktionsstationen ursprünglich geplant wurden und an denen sich nun jede*r erfreuen kann. „Inklusion hilft allen, das war eindeutig unser Fazit“, so Mireya Salinas: „Alle können bei uns ihre Sinne schärfen und weiterentwickeln. Deshalb werden die Stationen dauerhaft im Museum verbleiben und dem Publikum zur Verfügung stehen, selbst nachdem die Ausstellung wieder abgebaut worden ist.“ Das ist außerdem eine Form von Nachhaltigkeit im Museumsbetrieb, wozu auch gehört, dass die Podeste der ausgewählten Exponate aus wiederverwendbarem Material angefertigt wurden.

Mensch und Maschine finden in der Musik kreativ zusammen

Die pädagogische Konzeption insgesamt ist mustergültig: An jeder Station gibt es herausnehmbare inversive Erklärungstafeln, die also schwarz auf weiß wie weiß auf schwarz gedruckt sind, je nach den Bedürfnissen der Leser*innen, dazu die Übersetzung in Brailleschrift. Die digitale Tour leitet durch die Ausstellung und durch das Museum und erläutert die jeweiligen Exponate. Der eigens geschaffene Podcast „Tasten Talk“ erläutert das Projekt und einzelne Instrumente. Darüber hinaus wurden Mitarbeiter*innen als „Welcome Guides“ geschult, um bei Bedarf sehbehinderte oder blinde Gäste fachkundig herumzuführen.

Irgendwann versteht man auch, was eigentlich ein „Interface“ ist – nämlich eine Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Medien, etwa zwischen Mensch und Maschine, sei die ein Instrument oder ein Telefon. Ein Interface kann der Bogen sein, der es erlaubt, eine Geige zu spielen – oder die Computertastatur, mit der ein Walzer interpretiert werden kann. Wie könnte man, als Hommage an die historischen Vorläufer, heute ein taktiles und intuitiv nutzbares Musikinterface entwickeln? Das fragten sich Studierende aus dem Fach Kommunikationsdesign der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Als Antwort darauf entstand eine Interaktionsinsel, die natürlich zum freien Gebrauch und zu spontaner Kreativität einlädt.

Alte Instrumente und neue Klänge, neue Instrumente und alte Klänge – Musik kennt keine Grenzen, das lässt sich in diesem Modellprojekt niedrigschwellig und animierend, heiter und aufregend, sinnlich und überraschend erfahren. Und dann ist da noch die sagenumwobene Drehleier, die man digital ausprobieren kann, und mit der einst Bettler ebenso wie Adelige musizierten. Obwohl der Sänger in Franz Schuberts „Der Leiermann“ zum Abschluss des Liederzyklus‘ „Die Winterreise“ (1827) von einem Klavier begleitet wird, meint man doch sofort, in dessen melodisch-mechanischen Repetitionen eine traurige Drehleier zu erkennen, die von Verzweiflung und Todessehnsucht erzählt. So holt die Ausstellung die Vergangenheit anrührend in die Gegenwart und die Tradition wird zur lebendigen heutigen Praxis. Und wenn jemand fremd eingezogen ist, muss, ja soll niemand, wie es in der „Winterreise“ auch heißt, fremd wieder ausziehen: In diesem Universum aus Lauten, Klängen, Tönen, Noten ist Platz und Wärme für alle, mit viel Musik.


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