Objekte in einer Museumsvitrine

Mit Bildern über die Grenzen hinweg

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Den Azteken auf der Spur: Das Stabi Kulturwerk führt mit „Manuscripta americana“ in die frühe Kolonialzeit und würdigt die indigenen Kulturen Lateinamerikas. Kernstück sind die Bilderhandschriften, die Alexander von Humboldt aus Mexiko mitbrachte

Was ist ein Comic? Nun ja, eine Ausdrucksform, die im 20. Jahrhundert populär wurde, würde man auf die Schnelle antworten. Natürlich wurden schon in früheren Epochen Bild und Text zusammengefügt und damit Geschichten erzählt, aber erst mit den Disney- und Marvel-Comics wurde diese narrative Methode endgültig populär: Donald Duck eroberte die Welt.

Objekte in einer Museumsvitrine

Im Stabi Kulturwerk, der wunderbaren Schatzkammer der Staatsbibliothek, kann man sich jetzt freilich davon überzeugen, dass es sogar hinsichtlich dieses Kunstgenres eine lange Entwicklung gibt und wir Menschen der Gegenwart gar nicht so innovativ sind, wie wir es gern denken. Denn eine Art von Comic existierte in Lateinamerika bereits im 16. Jahrhundert.

Foto: Ausstellungsansicht: Der Gott Quetzalcoatl, Grünfederschlange und Erfinder der Schrift, verschmilzt hier mit Ehecatl, Wind (links). Daneben ein Affe aus Alabaster aus der Teotihuacan-Kultur (rechts). © Staatsbibliothek zu Berlin-PK

Die Sonderausstellung „Manuscripta americana. Den Azteken auf der Spur“ beweist das mit kostbaren Exponaten vor allem aus der Sammlung Alexander von Humboldts – „ein paar unserer Filetstücke“, wie sich die Kuratorin Angelika Danielewski nicht genug freuen kann. Diese „Humboldt-Fragmente“ sind ein sehr heterogener Bestand, der neben originalen Handschriften der indigenen Bevölkerung auch Abschriften enthält. Sie stammen aus Gemeinden in Zentral- und Südmexiko und waren die Grundlage für die europäische wissenschaftliche Beschäftigung mit deren Kosmos. Humboldt hatte auf seiner amerikanischen Forschungsreise 1803 – 1804 in Mexiko Station gemacht und war voll Neugier wie Bewunderung für das, was er dort an einheimischer Kunst und Kultur vorfand. Er erkannte darin ein Menschheitserbe, das es zu verstehen und zu bewahren galt. Dies unterschied ihn von den meisten spanischen Kolonialbeamten vor Ort, die von der aztekischen Zivilisation nichts hielten, sie als „barbarisch“ abqualifizierten und ihr dementsprechend abweisend bis verächtlich begegneten. Der systemische Kulturkampf findet sich als strukturelles Element in vielen der Fragmente, die die Berliner Schau präsentiert.

Das Entstehen dieser „Comic-Frühform“ hat einen ganz praktischen Grund: Weil in Lateinamerika zahlreiche ethnische Gruppen eng miteinander lebten, benutzten die Azteken, sich dabei auf die Errungenschaften der Mixteken (mexikanische Ureinwohner aus der Mixteca-Region) stützend, eine Bilderschrift. Sie basierte auf allgemein verständlichen Bildern, Symbolen und Hieroglyphen, wie den seit Jahrhunderten in großen Teilen Mexikos gebräuchlichen Kalenderzeichen, und ermöglichte die schnelle Kommunikation über Sprachgrenzen hinweg. Die Schriftstücke wurden oft zu Leporellos gefaltet, an die bei Bedarf neue Seiten angeklebt wurden. Sie können von oben nach unten wie von links nach rechts gelesen werden, oder im Zick-Zack (Boustrophedon). Inhaltlich lassen sie sich Hauptthemen wie Ausbeutung und Widerstand, Landbesitz, Katasterblätter, Kampf der indigenen Elite um ihre soziale und politische Stellung, Klageschriften vor Gericht und Christianisierung zuordnen.
Erstmals in ihrer Gesamtheit öffentlich zugänglich

Besonders aufwändig ist das älteste Fragment, ein über vier Meter langes Register (Codex Humboldt-Fragment 1), das vermutlich vor 500 Jahren im einstigen Königreich Tlapan-Tlachinollan an der Pazifikküste von Guerrero geschaffen wurde. Es führt die Abgaben auf, die von 1504 bis 1522 an die Azteken zu entrichten waren, wie gewebte Kleidung, Goldstaub, gehämmerte Goldbleche verschiedener Größe und Form. Plastisch und allgemein verständlich werden die zu liefernden Waren und Mengen in mehreren Spalten mittels Piktogrammen veranschaulicht.

Eine weitere Tributliste aus der Provinz Tlapan fordert: 400 Kürbisschalen für Kakao, 10 ganze Goldbleche, 20 Schalen mit Goldstaub, 400 quergestreifte Blusen, 400 längsgestreifte Mäntel, 2 x 400 weiße Mäntel, ein Xipe-Kriegeranzug mit Schild, ein Jaguar-Kriegeranzug mit Schild. Vermerkt wurden zudem dynastische Ereignisse, die Ankunft aztekischer Beamter sowie Orte, die neu in die Tributprovinz eingegliedert wurden. Mit der spanischen Eroberung 1521 endeten diese Abgaben, weil damals die Kolonialzeit Mexikos anbrach, das plötzlich Neuspanien hieß und in dem die Azteken gegenüber den neuen Herren selbst zur Steuerpflicht gezwungen wurden.

Fragment einer historischen Handschrift
Der Kodex in typischer Leporellofaltung wurde vor rund 500 Jahren in Tlapan gemalt. Er verzeichnet Naturalabgaben an die Azteken zwischen 1504 und 1521 – in vorkolonialer Zeit: Goldstaub, gehämmerte Goldbleche verschiedener Größe und Form sowie gewebte Kleidung. © Staatsbibliothek zu Berlin-PK
Verschiedene Mineralien in Schälchen auf schwarzem Untergrund
Ausstellungsansicht: Mineralische Farbpigmente werden aus den Verwitterungsprodukten von Metallen gewonnen und können direkt nach Reinigung und Zerkleinerung im Mörser mit einem Bindemittel aufgetragen werden. Hierzu zählen farbenprächtige Eisenoxid-pigmente wie Hämatit und Goethit, Auripigment sowie kupferhaltige Sekundärmineralien wie Azurit und Malachit. © Staatsbibliothek zu Berlin-PK

Ein anderes schönes Beispiel für den Umgang mit Bild und Sprache ist der „Codex Vindobonensis Mexicanus 1“ (ein Faksimile, das Original liegt in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien). Er wurde von mixtekischen Künstlern in Südmexiko geschaffen, gelangte als Geschenk des aztekischen Herrschers Motecuzoma II nach Europa und behandelt die Geschichte des Gottes Quetzalcoatl, der bei den Mixtekten „Neun Wind“ hieß, nach dem Tageszeichen seiner Geburt. Farbenfroh prächtig und wunderbar detailliert ist auf einer Seite zu sehen, wie Quetzalcoatl auf die Erde herabkommt, auf der anderen, wie er den Himmel aus den Wasserfluten hebt.

Gelehrt wurde die Kunst der Bilderschrift in Schulen, die an die Tempel angeschlossen waren und vorwiegend von Söhnen der Adelsschicht besucht wurden, vereinzelt wohl auch von Mädchen.

Humboldt schenkte seine Sammlung 1806 der Königlichen Bibliothek zu Berlin, der Vorgängerin der Staatsbibliothek. Der Schatz wurde 1892, anlässlich des 400. Jahrestags der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus, erstmals ausgestellt. Er hat eine wechselvolle Reise hinter sich. Zuletzt wurde er teilweise, um ihn vor Beschädigungen zu schützen, während des Zweiten Weltkriegs wie viele andere Objekte in entfernte sichere Orte außerhalb der Hauptstadt evakuiert. Deshalb liegt ein Teil in der Biblioteka Jagiellońska in Kraków. Diese Manuscripta america wurden im Rahmen eines Projekts der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) restauriert, materialanalytisch untersucht und digitalisiert und können jetzt an einem Medientisch studiert werden. Damit sind sie hier erstmals in ihrer Gesamtheit als Kombination von digitaler und materieller Form für die Öffentlichkeit zugänglich.

Zusammenspiel von Materialforschung und Kulturgeschichte

Eine wichtige Rolle in diesem überaus verdienstvollen Prozess wurde der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) zuteil, die sich mit der Staatsbibliothek zu Berlin den Manuscripta americana mit folgender Fragestellung widmete: Wo genau stammen die Handschriften her, wie alt sind sie, welche Teile gehören in welcher Reihenfolge zusammen, können sie bestimmten Künstlern oder Werkstätten zugeordnet werden? Materialanalytische Begutachtungen leisteten bereits seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts einen wertvollen Beitrag zu einer weiteren Differenzierung und Entschlüsselung indigener Codices.

Mit den inzwischen enorm verbesserten Techniken ergänzte die materialbasierte naturwissenschaftliche Forschung die kulturhistorische und ermöglichte es, die vorhandenen Artefakte noch genauer und gründlicher zu betrachten. Auf diesem Weg wurde die Zusammengehörigkeit der Fragmente bestätigt. Durch die Materialanalysen konnten die unterschiedlichen Tinten und ihre Elementbeimischungen definiert werden, ebenso die Klebestoffe und Farbmittel.

In einer Teilabschrift des Codex Aubin etwa wurden – auf europäischem Papier – die Konturen mit Rußtusche ausgeführt, als Farbpigmente wurden Ocker, Zinnoberrot, Indigo und Zacatlaxcalli gebraucht. Die Schrift selbst wurde mit Eisengallustinte aufgetragen. Für die Humboldt-Fragmente und das Dorfbuch von San Martín Ocoyacac aus der Sammlung Uhde wurde hingegen Amate-Papier verwendet, das aus dem Rindenbast von Feigenbäumen – eingeweicht und unter Zugabe von Kalk und Asche gekocht – gewonnen wurde. Die Faserstränge der Rinde wurden gitterförmig ausgelegt und durch das Klopfen mit einem gerillten Stein miteinander verbunden. Die so entstandenen Bögen wurden dann an der Sonne getrocknet und gegebenenfalls mit Kalkwasser aufgehellt, ehe sie beschrieben oder bemalt werden konnten. Zum Verkleben als Faltbücher wurde eine stärkehaltige Masse aus den Wurzelknollen von Orchideen hergestellt.

Heute sind diese juristischen, wirtschaftlichen und erinnerungskulturellen Dokumente eine unschätzbare Hilfe beim Verständnis der sozialen und politischen Prozesse in der frühen Kolonialzeit ihrer Herkunftsländer. Sie öffnen die Augen im Sinne Alexander von Humboldts, der in sein Tagebuch schrieb, als er von 1799 bis 1804 große Teile der spanischen Kolonien in Süd- und Mittelamerika bereiste und in Peru zum ersten Mal den Pazifischen Ozean sah: „Stets fand sich irgendein Gebirge, das uns den Blick versperrte, obschon wir alle Anstrengungen unternahmen, um weiter hinauf zu kommen. All dies ist so, wie man sich in der moralischen oder geistigen Welt zu allgemeinen Ideen und Prinzipien erhebt, von denen alles auszugehen scheint; und doch stoßen wir immer wieder auf etwas, das unseren Blick einschränkt. Glücklich der Mensch, der seine Grenzen erkennt und nicht die Wolken für den Horizont hält, nach dem er sucht. In dieser Kenntnis besteht unsere ganze Philosophie.“


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