Für die Kuratorin Andrea Scholz ist klar: Ohne die Zusammenarbeit mit den Menschen überall auf der Welt ist das Ethnologische Museum nicht denkbar
Der Vorhang hebt sich, und Andrea Scholz ist zufrieden: Die prächtigen Federkopfreifen, die Hocker in Vogelform, die körpergroßen Masken – die meisten Objekte aus der Südamerika-Sammlung des Ethnologischen Museum waren nie zuvor in einer Ausstellung zu sehen. Jetzt füllen sie einen ganzen Saal im Ostflügel des Humboldt Forums, 2. Stock, sorgfältig restauriert, mit Bedacht ausgewählt, ausführlich erklärt. Andrea Scholz ist Kuratorin der Amazonien-Ausstellung, und nicht nur das: Sie ist auch Referentin für die transkulturelle Zusammenarbeit des Museums. Immer wieder reist sie nach Brasilien, Venezuela und Kolumbien, knüpft Kontakte, organisiert Workshops – und lernt. Und natürlich waren ihre Partner*innen auch in Berlin, haben die Objekte in den Depots begutachtet, haben erklärt, gefragt, sich oft auch gewundert. „Was wir jetzt hier im Humboldt Forum zeigen, das ist ein Gemeinschaftswerk“, sagt Andrea Scholz. „Ohne das Wissen und Zutun der Menschen überall auf der Welt wären diese Ausstellungen undenkbar.“
Ansicht des Ausstellungsbereichs „Ein Rundhaus als Spiegel der Welt. Vom Ursprung und Leben der Dinge in Amazonien" des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum. © Staatliche Museen zu Berlin / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss / Alexander Schippel
Was sie damit meint, das wird schnell klar, wenn man die Objekte im Saal betrachtet: Da ist zum Beispiel das Schild aus den Fasern einer Liane, das der Forscher Theodor Koch-Grünberg 1907 bei einer Expedition zum oberen Rio Negro erworben hat. Ein „Tanzschild“ sei das, so stand es jahrzehntelang in der Museumsdokumentation – bis die kolumbianischen Projektpartner*innen des Museums vor einiger Zeit darauf hinwiesen, dass das so nicht stimme. Das Schild sei bei bestimmten Zeremonien genutzt worden, korrigierten sie, es habe eine mythische Bedeutung und diene dem Schutz der Gemeinschaft. Und genau das können die Besucher*innen des Humboldt Forums jetzt auch an der Vitrine lesen: Ganz bewusst hat Andrea Scholz beides mit aufgenommen, die alte und die neue Beschreibung, und wie sie mit Hilfe der Partner*innen aus Kolumbien richtiggestellt wurde. So macht sie Wissen transparent – und ermöglicht den Besucher*innen neue Einblicke.
Die engagierte Wissenschaftlerin und ihre Kolleg*innen gehen ihren eigenen Weg. Für sie sind die Sammlungen des Ethnologischen Museums nicht nur koloniale Last, sondern auch eine Chance – um die Beziehungen zu den Menschen in den Regionen wiederaufzunehmen, aus denen die Objekte stammen. Andrea Scholz tastet sich vor, probiert aus: Sie zeigt eine neu erworbene venezolanische Korbschale aus Pflanzenfasern, ausgestellt neben anderen, historischen Korbschalen. Die indigene Organisation Kuyujani hat sie extra für das Humboldt-Forum angekauft – damit die Besucher*innen in Berlin sehen: gestern und heute, das ist manchmal ganz nah. Immer wieder werden in der Ausstellung Bezüge hergestellt: Was bedeutet ein bestimmtes Objekt heute für die Menschen? Was bedeutet es für die Beziehung – zwischen Berlin und den Herkunftsländern überall auf der Welt?
Auch viele zeitgenössische Kunstwerke tragen dazu bei, diese Brücke zu bauen. Und auch Filme: Um zum Beispiel zu erklären, was es mit einem Sitzhocker in Jaguarform auf sich hat, der im Jahre 1913 von Theodor Koch-Grünberg am oberen Caura-Fluss eingetauscht und nach Berlin gebracht wurde, hat der indigene Filmemacher Saul Lopez einen inzwischen verstorbenen Ältesten der Ye‘kwana befragt: Der Film zeigt, wie und warum sich Schamanen – einem Mythos der Ye’kwana zufolge – in Jaguare verwandeln können. Der Film wurde extra für die Berliner Ausstellung gedreht. Er fasziniert. Und macht den Hocker in der Vitrine erst richtig lebendig.
Besonders stolz ist Andrea Scholz auf die Architektur der Amazonien-Ausstellung. Sie überrascht, fällt auf: Die Objekte im Raum bilden konzentrische Ringe, man könnte auch sagen: Sie stehen im Kreis. Inspiriert ist das von einem „öttö“, einem Versammlungshaus, einem Rundhaus der Ye‘kwana. Schon seit 2014 sind die Ye‘kwana dem Museum verbunden – entstanden ist eine intensive Partnerschaft, die viele Früchte trägt. „Das öttö soll zeigen: Es geht hier nicht um uns Deutsche, nicht darum, was Deutsche wie und warum gesammelt, gekauft und in vielen Fällen auch mit Gewalt geraubt haben. Wir Deutsche stehen hier nicht im Mittelpunkt“ erklärt die Kuratorin. „Es geht in dieser Ausstellung vor allem um die Perspektive der Menschen in Amazonien, um indigene Perspektiven.“
Das wünscht sich die promovierte Ethnologin: Dass die Museumsbesucher*innen etwas über die Welt erfahren, und andere Arten, sie zu erleben. „Ich möchte nicht, dass ein*e Besucher*in vor einer Vitrine steht und denkt: Das ist ja alles totes Material. Denn das ist es nicht“, sagt Andrea Scholz. Geschichten möchte sie erzählen, nicht nur über die Herkunft der Objekte und ihre Aneignung, sondern darüber, wie die Menschen heute leben, was Ihnen wichtig ist. Das gilt für alle Teile des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst, die jetzt vollständig im Ostflügel des Humboldt Forums zu sehen sind: für die monumentalen Cotzumalhuapa-Stelen aus dem heutigen Guatemala genauso wie die für Kunstwerke von der Westküste Kanadas oder natürlich die weltberühmten sogenannten Bronzen aus dem historischen Königreich Benin, von denen viele nach Nigeria zurückgegeben werden.
Und genau in diesem Sinne wird die Dauerausstellung des Museums auch von fünf Wechselausstellungen ergänzt: In einer Vitrine zu Tansania wird zum Beispiel eine postkoloniale Leere inszeniert, die Abwesenheit von Objekten, die im grausamen Maji-Maji-Krieg geraubt wurden und bald nach Tansania zurückkehren sollen. In einem anderen Raum geht es darum zu zeigen, wie bedeutsam Zedern für die Menschen in der kanadischen Provinz British Colombia sind, für Zeremonien, für Rituale.
Es geht um Austausch, um eine Kultur des Dialogs. „Wir müssen vor allem zuhören“, sagt Andrea Scholz. Dass sich Pläne und Projekte dadurch manchmal radikal ändern, erlebte sie selbst mit ihren Partner*innen in Südamerika – beim Versuch eine interaktive Datenbank für Museumsobjekte aufzubauen. Begonnen hat das Projekt an einer Indigenen Universität, tief im Herzen Venezuelas, an den Ufern des Flüsschens Tauca. Die Idee war, eine Möglichkeit zu schaffen, gemeinsam an den Dingen zu forschen, die das Ethnologische Museum aus der Region besitzt: all die Körbe, Federkronen, Masken und wertvollen Gefäße, die seit Jahrzehnten unberührt in den Depots schlummern. „Ich wollte, dass die indigenen Gemeinschaften vor Ort erfahren, was wir hier in Berlin haben, dass die Möglichkeit besteht, online darauf zuzugreifen und damit zu forschen“, sagt Scholz. Im Praxistest erwies sich die Datenbank aber als ungeeignet, zu einseitig war der Fokus auf den Museumsobjekten: So entstand das Konzept für eine neue Datenbank, in der „Pflanzen“, „Mythen“ und „Territorien“ ebenso wichtig sind, wie Objekte. Scholz erfuhr auch, was sich die Partner*innen vom Museum in Berlin erhoffen: vorerst keine Rückgabe der Objekte, sondern Unterstützung in der Bildung, bei der Weitergabe traditionellen Wissens von den Ältesten an die junge Generation.
„Mit unserer Arbeit stehen wir noch ganz am Anfang. Es ist ein Prozess – und ich empfinde es als Privileg, daran mitzuwirken“, sagt die Referentin für transkulturelle Zusammenarbeit. Andrea Scholz entwickelt Konzepte, organisiert Stipendien und Residencies, unterstützt alle Beteiligten. Immer zahlreicher werden die Kontakte: Von den Bootsbauern aus Fidschi, die in diesem Sommer in Berlin waren, über die Schulung angolanischer Restaurator*innen bis hin zu den jungen Musiker*innen aus Bolivien, die historische Musikaufnahmen des Ethnologischen Museums neu interpretieren.
Gemeinsam mit ihren Kolleg*innen will sie mutig sein, einen neuen Diskus wagen. Sie will neu, will global denken. Begeistert erzählt sie von den vergangenen Tagen, bevor der Ostflügel des Humboldt-Forums eröffnet wurde. Mehr als siebzig Gäste aus mehr als 20 Ländern waren zusammen nach Berlin gekommen: Indigene aus Amazonien saßen in workshops neben Community-Vertreter*innen und Kunstschaffenden aus Japan, Namibia, Tansania und Nepal. „Das war ein sehr besonderes Experiment. Menschen, die sich niemals im Leben begegnet wären, besuchen gemeinsam unsere Depots, sprechen miteinander über die Zukunft der Dinge, auch über Bildung oder globale Umweltkrisen, wie wir alle voneinander lernen. Wir waren uns einig: So soll unsere Zukunft in diesem Haus aussehen“, sagt Andrea Scholz. Eine Welt der Vielstimmigkeit sei da sichtbar geworden. Ein richtiges Forum war das. Ein Humboldt Forum eben.