Am Tag des offenen Denkmals bekamen Besucher*innen einen seltenen Einblick in den zwar nicht geheimen, aber dennoch öffentlich nicht zugänglichen Aktenmagazinstandort des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (kurz: GStA PK) im Industrieensemble Westhafen.
Wer sich bei der Fahrt mit der Ringbahn schon immer einmal gefragt hatte, was sich wohl in dem hochaufragenden Eisenklinker-Bau mit der Aufschrift „BEHALA Westhafen“ verbirgt, bekam am Tag des offenen Denkmals 2023 die seltene Möglichkeit, bestehende Neugier zu befriedigen. In dem ehemaligen Getreidespeicher des Berliner Westhafens lagern heute ca. 25.000 laufende Meter – in anderen Worten 25 Kilometer (!) – Archivgut des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Wie es zu der kuriosen Transformation vom Getreide- zum Aktenspeicher kam und welche Schätze in diesem versteckt liegenden Magazinstandort lagern, darüber wissen die Mitarbeiter*innen des GStA PK an diesem Tag des offenen Denkmals Spannendes zu berichten.
Zunächst galt es für alle Interessierten, das Gebäude vom Haupteingang der BEHALA (Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft mbH) in der Westhafenstraße aus zu finden. Bei strahlender Septembersonne ging es über das 430.000 Quadratmeter große Gelände, einer Spur aus Schildern und Luftballons folgend, um das Hafenbecken herum bis zum Getreidespeicher, diesem wuchtig-dunklen, nicht nur aus der Ferne beeindruckendem Industriebau. An der vergleichsweise kleinen Eingangstür hat sich ein GStA PK-Empfangskomitee versammelt. Unter Anleitung der Archivar*innen geht es hinein in die Tiefen des „Aktenspeichers“.
Eine kurze Geschichte des Westhafens
1914 – 1923: Bau des Westhafens nach Aufforderung durch die Berliner Kaufmannschaft an den Berliner Magistrat (Vorgänger des Senats), mit Unterbrechung während des Ersten Weltkrieges
1923: Gründung der „Berliner Hafen- und Lagerhaus AG, Generaldirektion der Berliner Häfen“ (BEHALA)
1937: Überführung in städtischen Eigenbetrieb
1993 – 1994: Rückführung der Merseburger Archivbestände des GStA PK in 58 Waggonladungen nach Berlin und anschließende Unterbringung im Berliner Westhafen
1994: Überführung des Westhafens in eine Anstalt des öffentlichen Rechts nachdem 1992 bereits die Eigenbetriebe Osthafen und BEHALA zusammengeführt wurden
1995: Historische Bauten im Westhafen werden unter Denkmalschutz gestellt
2003: Umwandlung in eine GmbH
Die Tour führt vom Erdgeschoss in das fünfte Stockwerk (von insgesamt zehn nutzbaren Etagen) und wieder zurück – vorbei an Regalmeter für Regalmeter voller Akten. Dabei geht es auch einmal quer durch die sehr wechselhafte Geschichte des Westhafens. Beginnend bei der Berliner Kaufmannschaft, die das Areal vom evangelischen Johannesstift kaufte und den Westhafen nach neunjähriger, durch den Ersten Weltkrieg unterbrochenen Bauzeit 1923 fertigstellte (dieses Jahr feierte man bei der BEHALA 100jähriges Jubiläum). Die treibende Kraft hinter dem Projekt Westhafen war Stadtbaurat Friedrich Krause. Dieser sah sein Schicksal so eng mit dem BEHALA-Gelände verknüpft, dass er seine Urne 1925 posthum in das Verwaltungsgebäude einmauern ließ. Der Getreidespeicher wurde noch bis 1993 vom Senat als ebensolcher genutzt. Zusätzlich lagerte hier die Senatsreserve für Lebensmittel (Grundnahrungsmittel, Gebrauchsgüter, Medikamente und Kohle). Stabile Decken aus Stahlbeton erlaubten die für diese Massen nötige, besondere Gewichtsbelastung.
Im Jahr 1993 beginnt auch die Geschichte des GStA PK an diesem Ort. Nach der Wende und mit der Zusammenführung der Aktenbestände, die während der Teilung Deutschlands ebenso in Ost und West geteilt waren, benötigte das GStA PK viel Platz, denn aus dem Zentralen Staatsarchiv der DDR in Merseburg kehrten rund zwei Drittel seines Aktenbestandes zurück nach Berlin. Der ursprüngliche Magazinstandort Dahlem war im Zweiten Weltkrieg zu zwei Dritteln zerstört worden. Später zog in den wiederaufgebauten Magazinflügel das Museum für Volkskunde (heute: Museum Europäischer Kulturen). Und so sollten die 25.000 Regalmeter Akten aus den Beständen in Merseburg vorerst im Westhafen ihre neue Heimat finden. Der Prozess des Zusammenwachsens in 58 Waggonladungen (der Transport der Akten aus Merseburg erfolgte per Zug) war dramatisch und erforderte von beteiligten GStA PK-Mitarbeiter*innen einen enormen Krafteinsatz „mit Helmen und Gummistiefeln“.
„Keine Messies“
Und so endete diese Aktenodyssee vorerst in Berlin-Moabit. Was ursprünglich als Zwischenlösung gedacht war, ist seit 30 Jahren zum Alltag für die Mitarbeiter*innen des GStA PK geworden – inklusive dem Pendeln von Menschen und Dokumenten zwischen den Standorten Dahlem-Westhafen. Auch wenn sie sich inzwischen notgedrungen an die Dauernotlösung Westhafen gewöhnt haben, bleibt das ursprünglich für Getreide vorhergesehene Gebäude kein Archivzweckbau. Die Leiterin der Restaurierungswerkstatt Ingrid Kohl beschreibt während der Führung, wie Klimaschwankungen in dem nicht klimatisierten Gebäude und der damit einhergehende „Stress“ das Papier der Akten schneller altern lassen können. Hinzu kommt, dass viele Akten aus dem enormen Konvolut noch unverpackt sind und daher eigentlich dringend sachgemäß gereinigt und verpackt werden müssten. Und auch die Digitalisierung der Akten sei noch lange nicht abgeschlossen und erfolgt on demand, bzw. peu à peu. Außerdem gehe von Papierfischchen und anderen Schädlingen eine nicht unerhebliche Gefahr für das wertvolle Kulturgut aus. Daher ist für neu hinzukommende Schriftstücke eine strenge Quarantäne vorhergesehen.
Welche Akten neu hinzukommen wird von Fall zu Fall nach Relevanz entschieden. „Wir sind keine Messies“ betont die Archivarin Diana Kittelmann und die Gruppe schmunzelt simultan. Nur ca. drei Prozent des behördlichen Schriftverkehrs gehen heute noch in die Archive. Hybride Aktenführung und die Einführung der E-Akte erleichtern diesen Prozess – oder erschweren ihn, je nach Perspektive. Auch bei Privatnachlässen wird streng entschieden, ob und inwieweit die Dokumente Relevanz für das GStA PK haben. Grundschulzeugnisse und Schwimmurkunden könnten also eventuell abgelehnt werden.
Ein besonderes Highlight der Führung ist sicherlich auch Heike Sommerfelds Vorführung der Sicherheitswerkbank für restauratorische Zwecke. Zwischen den Rollregalanlagen voller uralter Dokumente wirkt die Werkbank auf den ersten Blick leicht deplatziert. Restauratorin Sommerfeld erklärt jedoch, warum sie essentiell für den Erhalt des Archivguts ist. Denn dieses ist keineswegs immer in einem 1-A-Zustand: kriegsbedingte Wasserschäden führten in der Vergangenheit zu Schimmel. Auch durch unsachgemäße Lagerung kam es zu Schäden an den Dokumenten. Akten müssen daher immer noch einmal in Augenschein genommen werden, bevor sie zum ersten Mal an die Nutzer*innen des GStA PK in Dahlem herausgegeben werden.
Schwer beschädigte Dokumente können mit hauchdünnem Japanpapier stabilisiert werden und in der sporensicheren Werkbank kriegt man jeden Schimmelbefall in den Griff. Die Dunstabzugshaube der Werkbank erinnert vom Geräuschpegel an eine Großküche. Dieser Luftfilter sowie eine Glasverkleidung und OP-Handschuhe schützen die Mitarbeiter*innen während sie mit einem Industriestaubsauger mit eingebautem Schwebstofffilter Sporen absaugen, und mit einem Radierschwamm auch hartnäckigsten Befall entfernen. Es ist eine robuste, handwerkliche Arbeit, die Sommerfeld hier versiert vorführt und so die Gruppe in einträchtiges Staunen versetzt (einen detailierten Einblick in die Restaurierungspraxis am GStA PK gibt es hier).
Trotz dieser beeindruckenden Vorgänge scheint allen weiterhin eine Frage auf der Zunge zu brennen: Welche besonderen Schätze verbergen sich in den schier endlosen Gängen voller Archivgut? Bei der Begutachtung großer Planschränke kommt die Gruppe zwei historisch wertvollen Dokumente ganz nahe. Allein optisch sind es wahre Hingucker: Eine schlesische Provinzialurkunde aus Pergament mit Siegel sowie eine Aufschwörungstafel der Johanniter. Diese diente als Abstammungsnachweis für adlige Probanden, die in den Orden eintreten wollten. Früher verstaubten diese Dokumente zusammengerollt im Regal. Nun können die feinsäuberlich sortiert und geglätteten Schriftschätze den Nutzer*innen zu Forschungszwecken präsentiert werden.
Auch aus den Familienarchiven der Hohenzollern befinden sich so einige Kuriositäten im Standort Westhafen. Darunter nicht nur pikante Liebesbriefe, sondern auch Kinderzeichnungen von Wilhelm II. Sein Faible für Kriegsschiffe brachte er anscheinend schon in Kindheitstagen zum Ausdruck. Eine frühe Form des Hate Postings findet sich im Nachlass des Geheimen Oberregierungsrats Karl Ludwig Zitelmann, einem Mitarbeiter Otto von Bismarcks. Jenem wurde einmal eine deutliche Botschaft in Form eines Galgenstrickes zugesandt und erstaunlicherweise für aufbewahrenswert befunden. Ob man das nun kurios oder morbide finden mag, spannend ist es allemal. Selbst uralte Behördenakten ziehen das Interesse der Besucher*innen auf sich – früher noch fein säuberlich mit geschwungener Hand geschrieben, später dann im Stakkato der Schreibmaschine. Und doch blieb der Rotstift als finales Korrektiv bis heute bestehen.
Und so endet dieser seltene, unglaublich spannende Einblick in den nicht öffentlichen Magazinstandort Westhafen im Sinnieren über Akten. Das, was es zu sehen gab, ist zwar nicht wirklich geheim, aber nur wenige wissen was sich in dem dunklen Gebäude abseits Kanal und S-Bahnschienen wirklich verbirgt. Im abschließenden Spaziergang um die Hafenanlage fragt man sich, welche Schätze noch im Getreidespeicher am Westhafen darauf warten entdeckt zu werden. Der Fantasie beim Vorbeifahren in der S-Bahn sind also auch weiterhin keine Grenzen gesetzt.