In der Ausstellung Droste Digital im Stabi Kulturwerk kommen Besucher*innen Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) wohl näher als je zuvor. Neben Original-Manuskripten, interaktiven Stationen und einer seltsamen Brille sind es vor allem fünf künstlerische Beiträge, die helfen, das Werk der berühmten Dichterin aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts neu zu entdecken.
Gleich im ersten Raum der Ausstellung im Stabi Kulturwerk fällt ein unerwartetes Detail auf: eine Brille auf einer der Ausstellungsvitrinen. Setzt man sie auf, verschwimmt die Umgebung vor den Augen. „Schlechtsichtbrille“ nennt Ausstellungskurator Oliver Pawlak diese ungewöhnliche Sehhilfe, die verdeutlicht, wie stark eine enorme Myopie die Schriftstellerin Anette von Droste-Hülshoff von Geburt an in ihrer Wahrnehmung eingeschränkte. Vor allem für Menschen ohne schwerwiegende Sehbeeinträchtigung eine ungewohnte Erfahrung. Mit der Brille zu lesen wird zu einer wahren Herausforderung: Die Buchstaben treten erst dann ins Sichtfeld, wenn man wenige Zentimeter über einen Text gebeugt ist.
Für den symbolischen Preis von 1 DM
Das kleine Selbstexperiment erklärt teilweise auch, warum die Manuskriptseiten der Schriftstellerin so aussehen, wie sie aussehen: Dicht gedrängt und verschachtelt reihte die 1797 auf Burg Hülshoff in eine westfälische Adelsfamilie geborene Schriftstellerin Satz an Satz. Für die heutigen Besuchenden kaum lesbar und doch faszinierend sind die sich im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin befindlichen Manuskripte. 1967 für den symbolischen Preis von 1 DM an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben, werden die ca. 1.500 Textseiten als Dauerleihgabe im Westfälischen Literaturarchiv verwahrt.
Nun sind einige der wichtigsten Originale in Berlin zu Gast und wollen entdeckt werden – wissenschaftlich, aber auch künstlerisch. Gleich fünf Kunstinstallationen kommentieren und ergänzen die Manuskriptseiten der Schriftstellerin, beginnend im ersten Raum mit dem Berliner Videokünstler Roman Hagenbrock. 2022 bestrahlte er die Fassade der Burg Hülshoff mit einer Videoarbeit zum Arbeitsmanuskript von Drostes Werk „Die Unbesungenen“. Da sich eine Burg naturgemäß schlecht in einen Ausstellungsraum zwängen lässt, können Besuchende die Projektion auf einem maßstabsgetreuen Modell erleben. Kleine (und große) Kinder dürften sich an ihre Playmobil-Gespenster-Burg erinnert fühlen – hat das flackernde Licht der Projektion etwas Geisterhaftes an sich. Passend, denn für Droste-Hülshoff waren Geistererscheinungen nicht nur Teil ihres literarischen Werks, sondern auch Teil ihres Alltags. „Ihr eingeschränktes Sichtfeld begünstigte vermutlich übernatürliche Erfahrungen“, sagt Jörg Albrecht, Geschäftsführer der Droste-Stiftung, und spielt mit dem Gedanken, diesen Aspekt in einer künftigen Ausstellung in den Fokus zu rücken.
„Eine Sammlung hermetischer Zeichen“
Im zweiten Ausstellungsraum nährt sich das Künstlerinnenkollektiv Anna Kpok Droste-Hülshoffs Gedichtzyklus „Klänge aus dem Orient“, die im Orientdiskurs des 19. Jahrhunderts zu verorten sind. Die Schriftstellerin war eine faszinierte Leserin der Geschichtensammlungen „Tausendundeine Nacht“. Anna Kpok setzt sich kritisch mit Drostes Orientalismus auseinander, der exotisierende Elemente aufweist, und lädt gleichzeitig in einer interaktiven Station zum „Nachzeichnen“ der schwerlesbaren Handschrift ein, die eine magische Faszination auf die beiden Künstlerinnen ausübt: „Ihre Handschrift ist für uns eine Sammlung hermetischer Zeichen geworden, Linien, geometrische Formen [und] Zauberformeln.“
Die Lyrikerin und Performerin Nora Gomringer reinszeniert Drostes Kinder- und Jugendzimmer als Mix aus Droste-Hülshoff-Memorabilia und Elementen Ihrer eigenen Jugend in den 1980er-Jahren. Mit dabei sind die Original-Chaiselongue aus der Burg Hülshoff, ein Goethe-Fanposter im Stile der 80er-Jahre und in Einweckgläsern abgepackter Kunstschnee – eine Referenz zu Drostes unvollendetem Trauerspiel „Bertha oder die Alpen“. Natürliche Elemente sind ebenfalls von zentraler Bedeutung in der Installation des Designstudios Hyphen-Labs – allerdings dadurch, dass sie fehlen. Ein futuristisch-anmutendes Spiegelkabinett wirft, neben dem Arbeitsmanuskript und Reinschriften zum Gedichtzyklus „Die Elemente“, in dem Mensch und Natur zu verschmelzen scheinen, den Blick auf die Besuchenden als einzige Repräsentant*innen der Natur im Raum.
Schriftstellerin vor 200 Jahren vs. heute
Auch im letzten Teil der Ausstellung bleibt es kreativ-interaktiv: Die Schriftstellerin Dorothee Elmiger setzt sich in ihrer Installation mit den Arbeitsprozessen ihrer Berufsgenoss*innen auseinander. Arbeitete eine Schriftstellerin vor 200 Jahren wie eine Schriftstellerin heute? Einen PC besaß Droste noch nicht. Aber, das Recherchieren und Zusammentragen von Motiven während des Schreibprozesses ähnelt in Grundzügen der Arbeit ihrer heutigen Kolleg*innen. Wie eine moderne Droste wohl vorgehen würde, lässt sich anhand der Motivsammlung zu Drostes wohl berühmtesten Werk „Die Judenbuche“ (1842) nachspielen. Besucher*innen können sich an einen Schreibtisch setzen, am Computer die Motiv-Digitalisate entdecken und ihre Transkriptionen mit den Passagen aus dem Werk verknüpfen.
Annette von Droste-Hülshoff und ihre geheimnisvolle Handschrift, diese „Sammlung hermetischer Zeichen“, bleiben natürlich auch nach dem Ausstellungsbesuch im Stabi Kulturwerk Enigmen. Aber Einblicke in ihren Schreibprozess, ihre Lebensumstände und die Art und Weise, wie sie die Welt wahrnahm, eröffnen kreative Wege, Leben und Wirken dieser literarischen Legende zu imaginieren – auch dank der „Schlechtsichtbrille“.