200 Jahre Museumsinsel: Der deutsch-britische Künstler Michael Müller zeigt im Neuen Museum sein Monumentalbild „Dioskuren: Der geschenkte Tag“, in dem er abstrakte Malerei und griechischen Mythos verknüpft, dabei den antiken Diskurs über Sterblichkeit und Liebe auf seine Art weitererzählt.
Da war dieser Junge, höchstens 16 Jahre alt, in Ingelheim am Rhein Mitte der 1980er-Jahre. Er war aufgeweckt, rebellisch und er wollte bildender Künstler werden. Sollten andere ruhig Rennfahrer oder Astronauten werden, er träumte von Gemälden, Skulpturen, Performances. Diese Vision seiner Zukunft in künstlerischen Gefilden überkam ihn immer wieder.
Zum Beispiel, als er für das Mittagessen Kartoffeln aus dem Keller holen sollte. „Und dann“, lacht Michael Müller, der sich noch gut an diese Szene erinnert, „habe ich 45 Minuten dafür gebraucht!“ Denn beim Hinabsteigen habe er sich überlegt, wie alt er werden müsse, damit er all die Bilder malen könne, die er schon im Kopf habe. Rasch überschlagen, ergab das ein Alter von 120 Jahren. Darauf wollte er trotz seiner jugendlich-übermütigen Planwirtschaft nicht vertrauen. Also musste die Liste gekürzt werden: „Deshalb war der Rückweg viel schwerer. Was sollte gestrichen werden? Welches Projekt ist nicht ganz so wichtig, für welches Bild hatte schon ein anderer Künstler eine gute Lösung gefunden?“ Hungrig, aber in Gedanken gestärkt, kehrte Michael Müller aus dem Keller zurück. Von jener Liste freilich zehrt er noch heute, weiß genau um die Konzepte und Ideen – und malt mitunter jetzt erst das, was er sich einst ausgedacht hat.
Ob auch sein neues Projekt „Dioskuren: Der geschenkte Tag“ dazu zählt? Wohl kaum, ist dieses Monumentalbild von etwa 86 x 6 Metern selbst für den deutsch-britischen Künstler, der häufig Großformate malt, von ungewohnten Dimensionen. 2022/2023 war es als raumgreifende Installation im Frankfurter Städel Museum zu sehen. Im Rahmen des 200. Jubiläums der Museumsinsel Berlin ist es nun wie ein Fries in die Treppenhalle des Neuen Museums integriert.
Thematisch widmet sich Michael Müller darin der griechischen Mythologie und dem Zwillingspaar Kastor und Polydeukes. Die Mutter von beiden ist Leda, der Vater von Kastor ist Tyndareos, König von Sparta und ihr Mann, wohingegen der Vater von Polydeukes Zeus ist, der Leda in Gestalt eines Schwans verführt hatte. Die Zwillinge sind unzertrennlich und voller Liebe füreinander. Als Kastor bei einem Streit getötet wird, bitte Polydeukes den Zeus, dass er ihm die Unsterblichkeit abnehme, die er als sein Sohn hat, damit er im Tod wieder mit Kastor vereint sein könne. Das lehnt Zeus ab, erlaubt jedoch, dass die beiden gemeinsam jeweils einen Tag im Olymp und den nächsten im Hades verbringen. Für jede der 24 Stunden eines Tages – egal, ob bei den Göttern oder bei den Toten – schuf Michael Müller eine Bildtafel, die sich alle nahtlos aneinanderreihen. Erweitert wurden sie im Neuen Museum durch die malerisch gestalteten Portale, die aus dem Treppenhaus in die Ausstellungssäle führen.
Am wichtigsten sind die richtigen Fragen
Steht man jetzt auf der Eingangsebene im Neuen Museum und hebt den Kopf, hat man den Eindruck, dass dieser Fries schon immer da gewesen ist, so überzeugend, ja überwältigend fügt er sich in die architektonische Struktur ein. Als abstraktes Kunstwerk verleiht er dem Raum eine leichtfüßige musikalische Komponente, die sich durch das Tageslicht an den zwei Schmalseiten noch verstärkt.
Kein Wunder, dass es seitens des Büros Chipperfield Architects, die das Neue Museum nicht nur wiederherstellten, sondern bis heute begleiten, viel Unterstützung für die Integration des raumgreifenden Gemäldes gab. Schließlich prägten bis zu ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg Kastor und Polydeukes die zentrale Treppenhalle des Neuen Museums: Auf dem Treppenabsatz standen zwei imposante, 5,50 Meter hohe Abgüsse der legendären Zwillinge von der Piazza di Monte Cavallo vor dem Quirinalspalast in Rom.
Kastor und Polydeukes absolvieren ja eine Art Schichtdienst zwischen zwei Welten: Hell und dunkel, bewusst und unbewusst.
Michael Müller
In nur drei Tagen konnte „Der geschenkte Tag“ mit Hilfe von alpinen Kletterern installiert werden. Als Michael Müller in dieser Zeit einmal allein im Treppenhaus war und sich sein Werk in der neuen Umgebung ansah, sprach er, wie er das manchmal tut, zu seinem Bild und sagte: „Wir sind zu Hause.“
Er hat sich das nicht träumen lassen, obwohl er das Neue Museum kannte. Schon seit Jahren lebt er in Berlin, hat mit seinem achtköpfigen Team gerade ein neues Atelier in Schöneberg bezogen und ist, wie er es sich in der Jugend vorgenommen hat, zum bildenden Künstler geworden. Er malte und zeichnete bereits damals viel, war dann das jüngste Mitglied in einem Kunstverein malender Amateure in seiner Heimatstadt, stellte seine Multimediawerke bereits mit 15 Jahren aus.

Da er unbedingt in eine Großstadt wollte, bewarb er sich an der Universität der Künste in Berlin – und erhielt ein knallhartes Absageschreiben: „Darin stand, ich hätte weder ein Farb- noch ein Raumempfinden und man empfahl mir, einen anderen Berufsweg einzuschlagen.“ Aber Michael Müller ließ sich nicht unterkriegen: „Mit der gleichen Mappe bewarb ich mich dann an der Akademie in Düsseldorf – und wurde direkt zum Hauptstudium zugelassen, das Grundstudium durfte ich überspringen.“
Fast wäre er in der Klasse von Gerhard Richter gelandet, der allerdings ausschließlich Malerei unterrichtete, worauf sich der junge Müller nicht festlegen wollte, weil er eine breitere Ausbildung für seine interdisziplinären Projekte anstrebte. Bis heute weiß er nicht, ob aus einer seiner Ideen ein Text, ein Bild oder eine Skulptur werden wird.
Zwischen dem Gedanken und dessen Ausfertigung liegen manchmal Jahre, fertige Muster dafür hat er nicht parat, alles hat seine Zeit und findet dann seine Gestalt. Aufgrund dieser polyvalenten Ausrichtung nahmen ihn Nan Hoover (Video und Film) und Magdalena Jetelová (Bildhauerei) in Düsseldorf in ihre Klassen auf. Magdalena Jetelová sagte ihm offen, dass sie überhaupt nicht verstehe, was er mache, aber dass sie ihm helfen könne, die richtigen Fragen zu stellen. Das war eine der wichtigsten Dinge in seiner kurzen akademischen Ausbildung, die er nach drei Semestern abbrach.

Die Leerstellen laden zur Teilhabe ein
Michael Müller, der sich so gern den Zwängen und Anforderungen von außen widersetzt, was er seine aus der Kindheit gerettete Bockigkeit nennt, hatte in sich hineingehört und festgestellt: Die Universität ist nichts für ihn, und Europa erstmal auch nicht.
Ende der 1980er-Jahre begann er zu reisen und kam bis nach Indien, woher seine Großmutter stammte, die 1947 nach England übergesiedelt war, wo seine Mutter geboren wurde. Die lernte im Urlaub in Spanien den ebenfalls hier urlaubenden Deutschen kennen, der ihr Mann wurde. Gemeinsam lebten sie in Deutschland, wo Michael Müller 1970 geboren wurde.
Er wiederum wollte die Heimat seiner Großmutter kennenlernen und besuchte schließlich Ladakh im Himalaya. Dort mietete er ein Zimmer bei einer Familie, die ihn fürsorglich wie ein eigenes Kind pflegte, als ihn die Höhenkrankheit quälte. Die Landschaft, die Leute, die Gastfreundschaft, die Spiritualität, all das machte ihn so glücklich, dass er zehn Jahre in Indien blieb.
Das Geld für diese Aufenthalte verdiente er im Sommer in Europa. Als er erkannte, dass Buddhismus und europäisch definierte Künstlerschaft nicht zusammenpassen – einerseits die Überwindung des Egos, andererseits dessen zentrale Bedeutung für die Kreativität – , löste das erhebliche Turbulenzen in seinem Denken aus. Weil er wirklich und entschieden in die Kunst wollte, kehrte er schweren Herzens nach Deutschland zurück.
Es war kein einfacher Neubeginn, denn niemand kannte ihn mehr im Kunstbetrieb und er kannte niemanden: „Das Arbeiten ist ja nie das Problem, aber wie macht man daraus eine berufliche Existenz? Das war schon sehr schwierig.“ Müller blieb seiner Berufung treu, arbeitete mit allen Zweifeln und Skrupeln, die bei ihm damit verbunden sind, baute ein Netzwerk auf.

Im Jahr 2000 hatte er eine erste Einzelausstellung in Berlin, weitere Ausstellungen folgten, etwa in Düsseldorf, London, Mumbai. Von 2015 bis 2018 lehrte er als Professor an der Universität der Künste Berlin.
Und nun hat er sogar das Neue Museum erobert, in dem es eigentlich keine zeitgenössische Kunst gibt, sondern, im Gegenteil, historische Artefakte aus der ägyptischen Sammlung, der Antikensammlung, dem Museum für Vor- und Frühgeschichte.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit gefällt ihm sehr, ist es – neben der narrativen Ebene in Bezug auf die Dioskuren – vor allem das Phänomen der Zeit, das ihn bei diesem Werk interessierte: „Kastor und Polydeukes absolvieren ja eine Art Schichtdienst zwischen zwei Welten: Hell und dunkel, bewusst und unbewusst. Das kann ich sehr gut nachvollziehen – ein großer Bereich meiner Malerei kommt aus dem Bewussten, ein genauso großer Teil kommt jedoch aus dem Unbewussten. Und diese Doppelung, diese Entgrenzung ist etwas, das am Mythos von Kastor und Polydeukes so aufregend ist und so aktuell.“
Michael Müllers Kunst lebt nicht von Antworten, sondern von Fragen: „Wie es Umberto Eco gelehrt hat – jedes gute Kunstwerk hat eine Offenheit. Es besteht nicht nur aus Informationen, sondern auch aus Leerstellen. Diese laden die Besucher*innen ein, sie als individuelle Projektionsräume selbst zu erschließen.“
Man sollte sich auf keinen Fall die Möglichkeit entgehen lassen, dies nun im Neuen Museum zu tun – an einem Tag oder an zweien oder an dreien: Wenn man einmal damit angefangen hat, kann man nicht genug bekommen von dieser visuellen Erfüllung.
Dioskuren: Der geschenkte Tag
- Di-So 10-18 Uhr, Mo geschlossen
- Laufzeit bis 23.11.
- Neues Museum, Museumsinsel Berlin