Nach einer 16-monatigen Umbauphase sind die Rieckhallen des Hamburger Bahnhofs – Nationalgalerie der Gegenwart endlich wieder dauerhaft für das Publikum geöffnet. Dank des Ankaufs durch das Land Berlin wurden sie 2022 vor dem Abriss bewahrt. Nun sind die Rieckhallen zurück: Auf 3.000 Quadratmeter bieten sie viel Platz für raumfüllende Installationen, Sonderausstellungen und neue Vermittlungsformate.
Als Mark Bradford anlässlich der Eröffnung seiner ersten institutionellen Einzelausstellung in den Rieckhallen ans Mikrofon tritt, wird er für einen Moment ernst: „Jemand fragte mich kürzlich, was ich machen würde, wenn die Welt sich immer mehr zum Negativen entwickelt. Meine Antwort war simpel: Ich werde auch weiterhin das machen, was ich mache, und ich werde vor allem weiterlaufen (‚I’m going to keep walking’).“ Damit bezieht er sich nicht nur auf den Titel seiner Ausstellung „Keep Walking“, sondern touchiert auch ein Thema, mit dem sich Kunstinstitutionen aktuell immer stärker konfrontiert sehen: Wie umgehen mit einer immer mehr von Spannungen und Zerwürfnissen dominierten Welt – stillstehen und regungslos der Veränderungen harren oder weitergehen und aktiv gesellschaftlich mitgestalten? In den neueröffneten Rieckhallen hat sich der Hamburger Bahnhof klar für letzteres entschieden.
Durch eine innovative Dreiteilung wird die langgezogene Architektur der ehemaligen Güterbahnhofshallen aufgebrochen. Im vorderen Teil auf etwa 1.300 Quadratmetern ist ausreichend Platz für wechselnde Sonderausstellungen. Mark Bradfords Schau bildet den Auftakt. Im hinteren Gebäudetrakt ist zudem die Präsentation raumgreifender Werke aus der Sammlung möglich. Ein Vermittlungsbereich verbindet beide Ausstellungsteile. Bewusst mittendrin platziert, richtet sich das sogenannte „Rieckhallenatelier“ insbesondere an große Gruppen wie Schulklassen, die sich hier interaktiv mit der Kunst auseinandersetzen können. Die offene Struktur des Ateliers spiegelt die Vision vom Museum als demokratische Institution wieder, die sich aktiv gesellschaftlich einbringt.
Knotenpunkt für Begegnungen, Abschiede und Wiedersehen
Architektur und ausgestellte Werke scheinen immer wieder zu korrespondieren. Gleich im ersten Raum der Ausstellung „Keep Walking“ begibt sich der Künstler Mark Bradford auf eine Reise in die Vergangenheit mit zwei großformatigen Werken, die an alte Bahnfahrpläne erinnern. Er reflektiert hier die Zeit der Great Migration im frühen 20. Jahrhundert, als schwarze Menschen aus dem Süden der USA in den Norden migrierten, um Rassismus und Verfolgung zu entkommen. „Der Zug war damals das Fortbewegungsmittel der Befreiung“, erklärt Sam Bardaouil, Co-Direktor des Hamburger Bahnhofs, in seiner Eröffnungsrede, „und der Bahnhof ein hochemotionaler Ort.“
Auch das heutige Museum mit dem „Bahnhof“ im Namen war einst ein Knotenpunkt für Begegnungen, Abschiede und Wiedersehen. Bardaouil verweist aber auch auf die grauenhafte Rolle von Zügen während des Zweiten Weltkriegs: Sie waren Züge in den Tod für europäische Jüdinnen und Juden, das Haupttransportmittel für Deportationen in die nationalsozialistischen Vernichtungslager. Das dürfe auch heute nicht vergessen werden in einer Welt, in der sich Menschen immer wieder unfreiwilliger Flucht und sogar Tod ausgesetzt sehen. Gerade jetzt sei es umso wichtiger, in Bewegung zu bleiben und sich den großen gesellschaftlichen Debatten zu stellen, betont Bardaouil. Mit dem Appell „Keep on walking forward!“ beendet er seine Rede. Die in die Rieckhallen strömenden Besucher*innen nehmen ihn beim Wort: In Mark Bradfords Arbeit „Float“ laufen sie über lange Streifen aus Plakaten, Flyern und Schnüren und werden so Teil des Kunstwerks. Doch das Durchqueren der etwa 20 Meter langen Halle ist gar nicht so einfach. Der Boden ist uneben, man fühlt sich wackelig und unsicher beim Voranschreiten. „Keep Walking“, trotz aller Widrigkeiten, die das Leben mit sich bringt, das ist eine wahre Herausforderung.
Moment der Dankbarkeit und Chance
Die Rettung der Rieckhallen ist nicht nur ein Sieg für die Kunst, sondern auch Symbol für das Potenzial, das politische und kulturelle Akteur*innen mit gemeinsamen Anstrengungen erreichen können. Noch vor wenigen Jahren drohte dem Hamburger Bahnhof der Verlust dieses bedeutenden Ausstellungskomplexes. Doch der Ankauf des Gebäudes durch das Land Berlin im November 2022 konnte einen wichtigen öffentlichen Raum im immer dichter bebauten Herzen Berlins bewahren.
Für das Direktorenduo Sam Bardaouil und Till Fellrath ist die Rettung der Rieckhallen damit nicht nur ein Moment der Dankbarkeit, sondern auch eine Chance, sie anders auszugestalten. In der aktuellen Sammlungspräsentation „Museum in Bewegung. Eine Sammlung für das 21. Jahrhundert“ wird der neue Fokus des Hauses besonders deutlich. Große, raumgreifende Arbeiten reflektieren sowohl gesellschaftliche als auch institutionelle Veränderungen.
Ein besonders markantes Werk ist die erst kürzlich erworbene Skulptur des Künstlerduos Elmgreen & Dragset, die aus dem Boden der Rieckhallen herauszuwachsen scheint. Sie zeigt den Schriftzug „Contemporary Art“ – wobei das „Con“ teilweise verdeckt und lediglich „Temporary Art“ sichtbar ist. Diese subtile Verschiebung spielt mit der Vergänglichkeit und Veränderlichkeit von Kunst und Museen, wie sie auch die Rieckhallen selbst durchlebten. Es war eine emotionale Achterbahnfahrt, die sich vielleicht auch in Jeremy Shaws Videoinstallation „Phase Shifting Index“ nacherleben lässt. Die Videos verdichten Bewegung, Unruhe und Transformation zu einem rhythmischen Tanz, der auf einen Höhepunkt zusteuert. Die Euphorie und Ekstase der Tänzer*innen in Shaws Videos lassen auch die Ausstellungsbesucher*innen nicht unberührt. Vielen sind die Freude und Erleichterung angesichts der Rieckhallen-Rettung anzusehen.
Die Wiedereröffnung der Rieckhallen markiert den Beginn eines neuen Kapitels für den Hamburger Bahnhof. Nach Jahren der Unsicherheit kann das dortige Team nun selbstbewusster agieren und das Haus als lebendigen Ort für zeitgenössische Kunst weiter ausgestalten – mit gesellschaftlichem Auftrag. Die Rieckhallen stehen nicht nur für Kontinuität, sondern auch für ständigen Wandel und Erneuerung – ein Zeichen der Hoffnung für die Kunstwelt und für Berlin. Der Hamburger Bahnhof beweist einmal mehr, dass er eine flexible Institution ist, die auf die Herausforderungen und die Schnelllebigkeit unserer Zeit reagieren kann.