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Surrealismus in LateinamerikaZeitschriften und Künstlerbücher im Ibero-Amerikanischen Institut

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Zum hundertsten Jahrestag des surrealistischen Manifests zeigt das Ibero-Amerikanische Institut (IAI) anhand seltener Bestände, wie sich die subversive poetische und künstlerische Bewegung in Lateinamerika ausbreitete. Die Kurator*innen der Ausstellung, Susanne Klengel, Professorin für Literaturen und Kulturen Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, und Marcos Alves Medeiros de Araujo, Masterstudent am Lateinamerika-Institut der FU, erzählen im Gespräch von ihren Entdeckungen.

Wie ist die Idee zu einer Ausstellung von surrealistischen Zeitschriften und Künstlerbüchern entstanden?

Susanne Klengel: Beim Thema Surrealismus denkt man ja erstmal eher an Kunst- oder Fotomuseen und weniger an eine Bibliothek. Anlässlich des 100-jährigen Bestehens dieser höchst eindrucksvollen Avantgarde-Bewegung gab es in den letzten Jahren schon mehrere große Kunstausstellungen. Derzeit pilgert man, wenn es irgendwie geht, nach Paris zu der großen Schau im Centre Pompidou oder man fährt nach München zum Lenbachhaus, wo es um die Verbindung von Surrealismus und Antifaschismus geht. Auch in Berlin ist gerade eine wunderschöne Ausstellung der Kunstbibliothek über Max Ernst im Museum für Fotografie am Bahnhof Zoo zu sehen.

Die Idee für eine Ausstellung von Büchern und Zeitschriften im Ibero-Amerikanischen Institut kam relativ spontan, aber nicht unvorbereitet, da ich mich während meiner gesamten akademischen Laufbahn immer wieder mit dem Surrealismus beschäftigt habe und die einschlägigen Bestände des IAI gut kenne. Dem IAI bin ich nicht nur als Wissenschaftlerin, sondern auch als Gründungsmitglied des Förderkreises schon lange eng verbunden. Während der Vorbereitung der Ausstellung haben Marcos Medeiros und ich viele Stunden im Lesesaal verbracht. Am Ende hatten wir einen ganzen Bücherwagen mit surrealistischen Schätzen gefüllt. Die Kolleg*innen im IAI haben unser Projekt von Anfang an begleitet und freuten sich wie wir selbst, als unsere Suche nach dem Surrealismus in den Beständen der Bibliothek nach und nach Form annahm und immer verheißungsvoller wurde.

Welche Entdeckungen haben Sie in den Beständen des IAI gemacht?

Susanne Klengel: Der Ausgangspunkt für unsere Ausstellung ist die Tatsache, dass das IAI eine überraschend große Anzahl von Objekten, d.h. Bücher, Zeitschriften und andere Printmedien, besitzt, in denen die Geschichte des Surrealismus in Lateinamerika aufleuchtet. Und wenn ich sage „aufleuchtet“, dann meine ich damit durchaus etwas wie „Aura“. Es gibt nämlich nicht nur viele Originaldokumente, darunter etliche seltene Erstausgaben, sondern auch Hinweise auf persönliche Beziehungen und Freundschaften, die aus einzelnen Dokumenten sprechen. So findet man in den Vitrinen eine ganze Reihe persönlicher Widmungsexemplare.  

Das ist umso erstaunlicher, als der Surrealismus kein systematisches Sammelgebiet des IAI darstellte. Vielmehr sind die Objekte auf den üblichen bibliothekarischen Erwerbswegen und vermutlich über Schenkungen in die Bibliothek gekommen, manche z.B. im argentinischen Nachlass von Ernesto Quesada, der Anfang der 1930er Jahre den Grundstein für die Bibliothek des IAI legte. Doch wann, wie, woher und unter welchen Umständen diese Publikationen im Einzelfall in Berlin eintrafen, das wäre ein Thema für ein spannendes Forschungsprojekt! Auch hier zeigen sich die vielfältigen Verbindungen des IAI und die Bedeutung, die dem Institut und seinen Beständen in Lateinamerika beigemessen wird.   

Marcos Medeiros: Zwei ganz besondere Entdeckungen waren der Ausstellungskatalog „Surrealismo en la Argentina“ von Aldo Pellegrini und “El mundo mágico de los mayas”, ein großformatiger Band, der den Entstehungsprozess eines eindrucksvollen Wandgemäldes von Leonora Carrington dokumentiert mitsamt ihren Vorstudien für diese surrealistisch-anthropologische Wandmalerei der Maya-Kosmologie – ein Auftragswerk für das Mexikanische Nationalmuseum für Anthropologie. Beide Werke haben wir natürlich für die Ausstellung ausgewählt. Das Wandgemälde und die Zeichnungen von Leonora Carrington sind außerdem auf einem der Bildschirme im Detail zu sehen.

Was sind die Besonderheiten des lateinamerikanischen Surrealismus, wie gelangten die Ideen von Europa über den Atlantik?

Susanne Klengel: Das erste surrealistische Manifest von André Breton erschien in Paris am 15. Oktober 1924. Schon wenig später findet man Berichte, Übersetzungen und erste surrealistische Texte in lateinamerikanischen Zeitschriften. Zum Beispiel war einer der wichtigsten lateinamerikanischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der peruanische Marxist José Carlos Mariátegui, am Surrealismus sehr interessiert: Er sah die subversiven poetischen Aktivitäten der Surrealisten als relevanten Bestandteil eines gesellschaftsverändernden, revolutionären Prozesses und öffnete die von ihm gegründete Zeitschrift Amauta weit für entsprechende Beiträge und Berichte. Ebenso gab es auch ein frühes Interesse in Argentinien, Brasilien und Mexiko, allerdings handelt es sich nicht um große Bewegungen, sondern um kleine Zirkel, in denen sich das surrealistische Gedankengut verbreitete.

Umgekehrt lernten die europäischen Surrealisten erst nach und nach die größere Welt jenseits von Frankreich kennen. Zunächst war Lateinamerika für sie noch ein Kontinent der Imagination, vor allem Mexiko und Peru. Doch dann machten einige von ihnen Reisen dorthin, später kam es zu Flucht und Exil. Außerdem entwickelten sich bald weltweite surrealistische Netzwerke. Heutige Forschungen bestätigen die schnelle Globalität dieser künstlerisch-poetischen und politischen Bewegung, die nicht nur dazu aufrief, im Sinne des Marxismus „die Welt zu verändern“, sondern auch von jedem einzelnen forderte, sein Leben zu verändern, indem man den verdrängten Kräften der Imagination wieder Raum gibt.  

Es gab also auch Rückwirkungen und Einflüsse der lateinamerikanischen Surrealist*innen auf die internationale Bewegung?

Susanne Klengel: Auf jeden Fall. Und zum Glück hat sich die Surrealismusforschung in den letzten Jahrzehnten von einer starken Fixierung auf die französische „Ursprungsgeschichte“, die auf vielen Ausschlüssen beruhte, gelöst und zu einer breiten internationalen, ja globalen Betrachtungsweise entwickelt, die den unzähligen surrealistischen Aktivitäten und Gruppenbildungen weltweit Aufmerksamkeit schenkt. Es gibt tatsächlich so etwas wie eine surrealistische Internationale, würde ich behaupten. Und wenn ich „weltweit“ sage, meine ich besonders die Welt des heute sogenannten Globalen Südens, die bereits ganz früh, eigentlich von Beginn an, Teil dieser künstlerisch-kulturellen und kulturpolitischen Bewegung war.

In der jüngeren Forschung wurden und werden immer mehr unglaubliche Werke und Energien sichtbar, man denke nur an die weiter zunehmende Entdeckung und Anerkennung von surrealistischen Künstlerinnen. Heute scheint es fast unglaublich: Aber erst ab den 1990er Jahren wurden Remedios Varo und Leonora Carrington, die in Mexiko längst einen großen Namen hatten, auch international wahrgenommen. Geradezu dramatisch spät, nämlich erst nach der Jahrtausendwende, wurde die wichtige Rolle von Suzanne Césaire aus Martinique, Ehefrau des berühmten Dichters Aimé Césaire, einem größeren Publikum bekannt. Sie gilt heute als eine der ersten Theoretikerinnen des Surrealismus in Lateinamerika überhaupt. In ihren Essays betont sie den emphatischen Freiheitsbegriff des Surrealismus mit Blick auf die Geschichte der karibischen Plantagengesellschaft und der Sklaverei. Heute gilt Suzanne Césaire als eine der Pionierinnen der aktuellen Strömung des Afrosurrealismus.

Wie wurden und werden die surrealistischen Werke in Lateinamerika aufgenommen?

Susanne Klengel: Der Surrealismus in Brasilien etwa ist ein Fall, der besondere Aufmerksamkeit verdient: Die brasilianischen Surrealisten vom Beginn der 1930er Jahre galten lange als seltsam, weil zu katholisch, daher zu konservativ, eben nicht „modernistisch“ oder „anthropophagisch“, also eher verdächtig. Diese Verdikte hängen damit zusammen, dass der brasilianische Modernismo und die Antropofagia, d.h. die Strömung der Kulturellen Anthropophagie, die danach strebte, sich die europäische Kultur „einzuverleiben“ und zu etwas Eigenem zu transformieren, den brasilianischen Avantgarde-Diskurs bis heute dominieren. Mit dem Plakat- und Flyermotiv der Ausstellung greifen wir bewusst eine surrealistische Fotomontage des 1953 verstorbenen brasilianischen Dichters und Künstlers Jorge de Lima auf. Bis heute gibt es in Brasilien eine kleine, aber sehr aktive surrealistische Bewegung. Einer der bekanntesten brasilianischen Surrealisten, Sérgio Lima, ist leider im Juli 2024 verstorben: Glücklicherweise können wir aus den Beständen des IAI einen Band seines Opus Magnum zur Geschichte des Surrealismus zeigen.

Interessant sind auch die Verbindungen zur mexikanischen Bewegung des Estridentismo der frühen 1920er Jahre, die sich im Kern auf einen revolutionären Futurismus berief. Diese Bewegung wurde in den 1970er Jahren von einigen Experten wiederentdeckt, darunter der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño. Er war von zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen Estridentismus und Surrealismus fasziniert. 1976 veröffentlichte er in der Zeitschrift Plural mehrere Artikel über die Geschichte des Estridentismus und verfasste im selben Jahr sein Infrarealistisches Manifest, in dem er auch auf den Surrealismus zurückgriff. Sein berühmter Roman Los detectives salvajes (Die wilden Detektive, 1998) ist eine grandiose Hommage an den Estridentismus und an den Surrealismus. In der Vitrine zeigen wir außerdem ein Buch des infrarealistischen und surrealistischen Dichters Mario Santiago Papasquiaro, den sein Freund Bolaño in der Figur des Ulysses Lima im Roman verewigt hat.

Es sind noch weitere große Erfolgsgeschichten des Surrealismus in Lateinamerika zu verzeichnen. Die schon erwähnten Künstlerinnen Leonora Carrington und Remedios Varo sowie die Französin Alice Rahon wurden in Mexiko, ihrem Exilland und ihrer Wahlheimat, schon früh als große Meisterinnen des Surrealismus anerkannt.

Wir haben versucht, auf den Ausstellungstafeln die Vielzahl von Namen, Gruppen, Ereignissen und Beziehungen in Kurzform zu erläutern, um die Exponate in ihre jeweiligen Kontexte einzuordnen. Ich denke, wir vermitteln auf diese Weise eine recht kohärente Erzählung, die einen Eindruck von der Präsenz des Surrealismus und seiner Vernetzung innerhalb und außerhalb des Kontinents gibt. Selbstverständlich ist die Ausstellung nicht vollständig, da sie zum einen vom kontingenten Bestand der Objekte in den Sammlungen der Bibliothek abhängt, zum anderen auch schlicht von den zeitlichen und räumlichen Kapazitäten. Gewiss hätten wir noch einiges zu der weniger bekannten Geschichte des Surrealismus in Venezuela, Kolumbien oder Puerto Rico in den Weiten der Magazine des IAI finden können… Doch hoffen wir, dass wir mit dieser Ausstellung insgesamt einiges an Wissen über den Surrealismus und seine Kontexte in Lateinamerika beigetragen und sichtbar gemacht haben.

Sie haben die Ausstellung auch in Ihre Seminare zum Surrealismus integriert. Wie sind die Reaktionen der Studierenden?

Susanne Klengel: Ich gebe gerade zwei Seminare in verschiedenen Studiengängen zum Surrealismus, die auf großes Interesse bei den Studierenden stoßen. Es gibt dafür viele Gründe, doch ich glaube, dass es letztlich der andere Blick auf die vermeintlich vertraute Realität ist und die Bereitschaft, sich auf eine kreative, poetische Weise auf Dinge und Situationen einzulassen, was die Studierenden zunächst überrascht und dann zutiefst interessiert. Außerdem bin ich überzeugt, dass man den Surrealismus auch heutzutage nicht unbedingt im Digitalen findet (auch wenn dort vieles nach Surrealismus aussieht), sondern dass sich diese poetische Energie vor allem im Miteinander von Mensch und Umwelt und im Umgang mit analogen Erfahrungen und Materialien entfaltet. Auch wenn wir an der Uni mit dem Laptop arbeiten, lesen und studieren, versuche ich doch, immer wieder den Bezug zur physischen Welt der Objekte und der gedruckten Dingwelt des Surrealismus herzustellen, zum Beispiel auch dadurch, dass wir mal gemeinsam eine surrealistische Aktivität ausprobieren.

Marcos Medeiros: Ich selbst habe an einem Seminar teilgenommen. Ich habe dort einen Vortrag über unsere im IAI durchgeführten Recherchen gehalten und die Studierenden waren total begeistert. Man taucht in ein ganz neues Feld ein. Daraus entstand sogar die Idee, in einer eigenen Forschungsgruppe zu diesem Thema weiter zu recherchieren. Man merkt, die Studierenden liebäugeln mit diesem Forschungsgebiet. Ich glaube, das ist für die Zukunft sehr vielversprechend.

Susanne Klengel: Abschließend möchte ich gerne noch sagen, dass ich den Surrealismus tatsächlich nicht als eine historische, abgeschlossene Epoche betrachte. Eher halte ich es mit Octavio Paz, der einst schrieb, der Surrealismus sei eine „actitud del espíritu“, eine Geisteshaltung. Ich meine, dass wir uns auch heute noch etwas abschauen können von der kreativen, poetischen Offenheit für Alterität, für das Nicht-Gewohnte, für das Andere, die den Surrealismus auszeichnet.

Ausstellung: Surrealismus in Lateinamerika: Zeitschriften und Künstlerbücher

Ibero-Amerikanisches Institut Stiftung Preußischer Kulturbesitz
Potsdamer Str. 37, 10785 Berlin
Verlängert bis 1. März 2025
Öffnungszeiten: Mo-Fr 8–19 h / Sa 8–13 h

Informationen zur Ausstellung

Eine Kooperation des Ibero-Amerikanischen Instituts mit dem ZI Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und dem Förderkreis des Ibero-Amerikanischen Instituts

Abgebildete Publikationen

  • Oquendo de Amat, Carlos: 5 metros de poemas [1927]. 2. Aufl. (Facs.), Lima: Ed. Decantar, 1969, 25 ungez. Bl.
  • Surrealismo en la Argentina. Catálogo de Exposición, org. Aldo Pellegrini. Buenos Aires: Instituto Torcuato di Tella, Centro de Artes Visuales, 1967, 61 S.
  • El mundo mágico de los mayas. Interpretation von Leonora Carrington. Texte von Andrés Medina, Laurette Sejourné. Mexiko: Inst. Nacional de Antropología e Historia/Secretaría de Educación Pública, 1964, 53 S., Abb.
  • Lima, Jorge de: A Pintura em Pânico. Fotomontagens [1943]. Ausstellungskatalog, hrsg. von Simone Rodrigues. Rio de Janeiro: CAIXA Cultural, 2010. 136 S.

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