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Das Beste aus beiden WeltenDie hybride Bibliothek

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Julia Maas leitet die Benutzungsabteilung der Stabi. Und weiß, was ihre Kundschaft wünscht: die hybride Bibliothek, analog und digital, einen Ort der Demokratie

Da endet unser Rundgang: vor den Arbeitskabinen rund um den großen Lesesaal, den „carrels“. So steht es an den eleganten, gläsernen Türen auf englisch. „Die Kabinen sind vor allem für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die bei uns sehr konzentriert arbeiten wollen und die oft von weither kommen“, sagt Julia Maas, die seit zweieinhalb Jahren die Benutzungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin leitet. Und die darum ganz genau wissen will, was das Publikum der Bibliothek wünscht.

Zum Beispiel ein großartiges Angebot wie dieses, eine Platzbuchung per Internet, egal ob von New York, Paris oder Königs Wusterhausen aus, einfach und kostenlos, für ein „carrel“ in der vor zwei Jahren wiedereröffneten historischen Forschungsbibliothek, dem neobarocken Bücherpalast in Berlin-Mitte, dem Bibliotheksstandort Unter den Linden. „In Berlin angekommen, können sich die Nutzerinnen und Nutzer dann in den Arbeitskabinen so richtig einrichten. Sie können die Bibliothek zu ihrem eigenen Raum machen“, sagt Maas. Denn die Bibliothek der Zukunft ist auf Beteiligung der Nutzer ausgelegt – und sie ist hybrid. Das heißt, sie verbindet die Möglichkeiten der analogen und der digitalen Wissensräume.

Frau spricht auf einer Bühne in ein Mikrofon

Julia Maas beim Jahresempfang der SPK 2023.

Foto: SPK / Marco Urban

Julia Maas gehört mit ihren 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu denen, die die altehrwürdige Bücherwelt mit den neuen E-Möglichkeiten verzahnen, die die Transformation aktiv gestalten. Und mit 38 Jahren ist sie dafür genau die richtige. „Mir geht es dabei nicht um ein Entweder-Oder, sondern um das Beste aus beiden Welten. Das muss der Besucher bei uns bekommen, und zwar möglichst bruchlos.“ Die Bibliothek müsse lebendig bleiben, sagt sie, sie dürfe sich nicht zum Museum für alte Bücher entwickeln oder stilisieren lassen. Und die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Immer weniger Bücher werden ausgeliehen, stattdessen wird mehr geklickt. Es ist eine Entwicklung, die durch die Corona-Pandemie einen enormen Schub bekommen hat.

Die historischen Häuser haben ihre Anziehungskraft jedoch nicht verloren. Sie werden gebraucht. Julia Maas kennt sich aus im Labyrinth der versteckten Treppen, geht schnellen Schritts über die großzügigen Galerien des von H.G. Merz neu gestalteten Lesesaals Unter den Linden, öffnet mit ihrer Speicherkarte eine Tür nach der anderen, grüßt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, spricht leise: im großen Lesesaal ist es still, trotz der vielen Menschen, die dort vor ihren Laptops und Büchern sitzen. Und die inzwischen auch ihre Trinkflaschen mitnehmen und ihre Jacken anbehalten dürfen – ein Detail nur, aber auch das ein Zeichen des Wandels, das Julia Maas schmunzelnd erwähnt.

Umfragen haben ergeben: Rund ein Drittel der Nutzenden schätzen die Stabi als Arbeitsplatz und Büroersatz, als einen Ort, um zu lernen und sich auf Prüfungen vorzubereiten. Dafür ist es nicht mehr entscheidend, dass man in einer Bibliothek auch Literatur ausleihen kann. In der Staatsbibliothek zu Berlin wären das übrigens rund 12 Millionen Bücher – und 100.000 kommen jedes Jahr hinzu. Von all den Musikautographen, Karten und Inkunabeln ganz zu schweigen.

Klar ist: Die Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer verändern sich. Und Julia Maas beobachtet das genau. „Wir müssen uns überlegen, wie wir auf die Nutzenden zugehen“, sagt sie. Und da korrigiert sie sich schon: Nutzerinnen und Nutzer, oder auch: Benutzungsabteilung, das seien doch anachronistische Bezeichnungen. Denn die Menschen, die heute zu ihnen in die beiden Häuser kämen, das seien ihre Partner, das seien Beteiligte, die seien aktiv, die wollten Wissen nicht nur empfangen, sondern auch spenden, mitmachen, diskutieren - weshalb es seit Frühjahr vergangenen Jahres auch den Stabi-Nutzendenrat gibt, ein 15-köpfiges, ganz bunt zusammengesetztes Gremium, ein sounding-board für Veränderungen. Und weshalb zur Stabi längst nicht nur moderne Lesesäle gehören, sondern auch das Stabi Lab sowie Kommunikationszonen, Räume für (Video-)Konferenzen und Workshops, für Leserinnen und Leser, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus ihrer digitalen Studierstube zuhause ausbrechen, den Rechner einmal schließen und sich austauschen wollen, von Angesicht zu Angesicht.

Blick in einen modernen Lesesaal
Im Handschriftenlesesaal werden vor allem Autographe, Nachlässe und Archive, abendländische Handschriften, Inkunabeln benutzt. Foto: Staatsbibliothek zu Berlin – PK
Blick in einen Gruppenarbeitsraum hinter Glas
Zum ersten Mal gibt es im Haus Unter den Linden Gruppenarbeitsräume, hier die nahe dem Infozentrum gelegenen. Foto: Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Welches Profil also hat die Staatbibliothek eigentlich? Was macht sie aus? Für wen will sie da sein? Das sind Fragen, mit denen sich auch der Strategieprozess „Stabi 2030“ beschäftigt. Julia Maas macht einen Vorschlag: „Wir sollten uns fokussieren auf das, was kein anderer so gut kann wie wir.“ Und das sei unter anderem die Literatur vor 1912, also jene Zeit, in der die Stabi tatsächlich Nationalbibliothek war und in der dieses prächtige Gebäude Unter den Linden gebaut wurde, eine Blütezeit der Bibliothek. „Diese Bücher vor allem sollten wir weltweit zugänglich machen, also: digitalisieren.“

Julia Maas kennt sich aus: Schon im Deutschen Literaturarchiv Marbach hat sie die Benutzung der Spezialbibliothek verantwortet und sie zuletzt auch insgesamt geleitet. Davor war sie lange in der Schweiz, in der Nationalbibliothek und im Robert Walser Archiv, hat über die „materielle Kultur“ im Werk des Schweizer Schriftstellers geforscht, ist über ihn schließlich auf Michel Foucault gestoßen und seinen Begriff von der Heterotopie, der Idee von den Orten, an denen gesellschaftliche Verhältnisse widergespiegelt und gebrochen werden, den espaces autres, den anderen Räumen: Psychiatrien, Bordellen und eben auch Bibliotheken.

Blick in einen Bibliothekslesesaal
Berühmt für die offene, terrassierte Leselandschaft: Der Allgemeine Lesesaal nach den Plänen von Hans Scharoun. Foto: SBB-PK / C. Kösser
Blick in einen Bi8bliothekslesesaal
Berühmt für die offene, terrassierte Leselandschaft: Der Allgemeine Lesesaal nach den Plänen von Hans Scharoun. Foto: SBB-PK / C. Kösser

Sicher ist: Bibliotheken sind längst viel mehr als nur Dienstleister zur Informationsbereitstellung. Sie sind Aufenthaltsorte, die gesellschaftliche Unterschiede aufheben, kostenlos für jedermann, nicht kommerziell. Julia Maas sagt es so: „Bibliotheken sind Foren des öffentlichen Diskurses, Orte der Demokratie. Sie haben eine gesellschaftliche Verantwortung.“ Für die Stabi gilt das erst recht, mitten in Berlin, verwurzelt in der Geschichte, mit Nationalsozialismus und deutscher Teilung, bis heute sichtbar in den beiden Standorten.

So eine Bibliothek kann nicht überflüssig werden. Im Gegenteil: Sie hat einen Vertrauensvorschuss, ist ein Ort sicherer, vertrauenswürdiger Information, gerade in Zeiten von fake news. Die Bücher bewahren ihre Aura, ihren Geruch, ihr Gewicht, ihre Materialität. Die Atmosphäre in der Stabi inspiriert noch immer – was auch die prominenten Autorinnen und Autoren beweisen, die man hier manchmal sieht: etwa Judith Schalansky, die gerade erst dem Team der Sendung „lesenswert“ ihren Lieblingsort gezeigt hat, den weitläufigen Lesesaal im Sharoun-Bau an der Potsdamer Straße. Auch die jungen Studierenden wissen, warum sie sich lieber in die Stabi als ins Internetcafé setzen. Und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den „carrels“ sowieso.

Das Stabi Lab

Die Stabi verbessert Ihre Dienste und Datenschnittstellen immer mehr – und die Nutzerinnen und Nutzer können sich daran beteiligen. Darum gibt es ein Library Lab: das Stabi Lab. Dort finden sich freie Daten zum Download, Demos zum Ausprobieren, Events zum Mitmachen und verschiedene Kontaktmöglichkeiten. Die Nutzerinnen und Nutzer sind ausdrücklich dazu eingeladen, sich in diese kreative Umgebung einzubringen, sie zu verbessern und zu korrigieren. Denn die Digitalisierung des schriftlichen Erbguts bringt es mit sich, dass immer größere Datenmengen zur Verfügung stehen. Und diese Chancen gilt es zu nutzen.


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