Vom 5. bis 7. Juli 2024 wurde das Mies van der Rohe Haus zum Architekturbüro für Kinder und Jugendliche. Inspiration fanden sie in vier bedeutenden Institutionen der SPK: dem Alten Museum und der Friedrichswerderschen Kirche, der Neuen Nationalgalerie und dem Kupferstichkabinett
Massive Tische stehen in den Zimmern des Hauses – im Salon, dem Schlafraum und dem Esszimmer. Auf ihnen sind die Grundwerkzeuge der Architektur ausgebreitet: Bleistift und Skizzenheft, Zollstock und Lineal, Kleber und Modellbaupappen.
Das berühmte Haus Lemke, idyllisch am Obersee im Osten von Berlin gelegen, hat sich an diesem sommerlichen Wochenende in ein ganz besonderes Architekturbüro verwandelt, ein Entwurfsstudio für Kinder und Jugendliche. „Architekt – Das ist ein so cooler Beruf. Den würde ich schon in Erwägung ziehen, denn ich zeichne gern und interessiere mich schon lang für Kunst“, sagt Marlene, die dreizehn Jahre alt ist und gerade an ihrem eigenen Modell bastelt.
Das wohl jüngste Berliner Architekturbüro
Hier, wo Mies van der Rohe 1933 eines seiner Schlüsselwerke ganz im Sinne des Neuen Bauens schuf, zeichnen, basteln und sprechen nun mehr als zwanzig Kinder und Jugendliche über ihre ganz eigenen Architekturversionen, die zugleich nachhaltig und ästhetisch, innovativ und in der Realität umsetzbar sein sollen.
„MiSchi“ ist der Name dieses jungen Architekturbüros inmitten von Berlin und zugleich der Titel des Workshops, der Kinder und Jugendliche an die Architektur heranführen und für den Beruf des Architekten begeistern soll. MiSchi steht dabei für Ludwig Mies van der Rohe und Karl Friedrich Schinkel – den beiden Großmeistern der deutschen und internationalen Architektur, die beide Gebäude und Räume schufen, die ganz grundlegend das Stadtbild von Berlin und vielen anderen Städten auf der Welt prägen.
Lernen von den Großmeistern
Schon am Freitag hat der Workshop in vier bedeutenden Institutionen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz begonnen, die jede für sich für ein Stück deutsche und europäische Architekturgeschichte stehen: das Alte Museum und die Friedrichswerdersche Kirche, die Neue Nationalgalerie und das Kupferstichkabinett. Allesamt sind das Orte, mit denen die beiden Architekten bis heute identifiziert werden: Schinkel mit seinem von Ästhetik und der Reduktion auf das Wesentliche geprägten Klassizismus und Mies van der Rohe mit seinen minimalistischen Fassaden und imposanten Räumen, mit denen er die moderne Gegenwartsarchitektur bis heute dominiert.
In diese Reihe gehört natürlich auch das Haus Lemke – das mittlerweile als Ausstellungspavillon für Moderne Kunst dient und Anziehungspunkt für Liebhaber der Architektur Mies van der Rohes ist. Für Wita Noack, die das Haus seit 1992 leitet, ist die Vermittlung von Architekturkenntnissen an ein junges Publikum besonders wichtig, denn „Architektur prägt unsere Umwelt und damit unser eigenes Empfinden“, sagt sie.
Kinder und Jugendlichen haben einen ganz eigenen Blick auf ihre Umwelt und die Architektur
Wita Noack
An die Arbeit!
Nach diesem erlebnisreichen Tag, der mit Skizzenbuch und Bleistift begleitet wurde, begann die Entwurfsphase im jungen MiSchi-Architekturbüro im Haus Lemke. Die Kinder und Jugendlichen arbeiten mit namhaften Architektinnen und Architekten zusammen, die ihnen das Grundhandwerk der Architektur beibringen und ihnen bei der Umsetzung ihrer Ideen zur Hand gehen. Dabei sollen sie ein Gefühl für Räume zu entwickeln, das Sichtbare und Erdachte durch eine Skizze auf das Papier bringen und damit visualisieren, aber auch lernen, über Architektur zu sprechen und die eigenen Ideen, Bedürfnisse und Wünsche an eine zeitgemäße Baukunst zu artikulieren. Zu den namhaften Architekten, die die einzelnen Gruppen leiten, gehören Miriam Plünnecke (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung), Alexander Schwarz (David Chipperfield Architects), Ursula Steinhilber (SESA Architekten), Paul Kahlfeldt (Kahlfeldt Architekten) und Jörn Köppler (Köppler Türck Architekten).
Während der intensiven Arbeitsphase herrscht eine bedächtige Stille in den Werkstattsälen, die immer wieder von kleinen Diskussionen in den Gruppen unterbrochen wird. Schnell wachsen die ersten Modelle empor und werden detailreiche Zeichnungen angefertigt. Dazwischen immer wieder Pausen – zum Reflektieren, Weiterdenken, Verwerfen und Neuanfangen. Wie eben in einem richtigen Architekturbüro.
Von der Idee zum Modell
Und was ist das Ergebnis des Workshops? – Kühne Entwürfe, die am letzten Tag präsentiert wurden.
Denn auch die Präsentation der Ergebnisse vor den Eltern ist ein Teil des Vermittlungsprozesses. An diesem außergewöhnlichen Sonntag sind die massiven Metalltische in den Garten gestellt. Auf ihnen stehen die Modelle und liegen die vielen Zeichnungen, die die Kinder und Jugendlichen in den letzten beiden Tagen angefertigt haben. Dabei fällt besonders die Unterschiedlichkeit der Materialien auf: Pappe und Holzklötzchen, Knete und Papier, Säulen aus Strohalmplastik und Räume aus Eierkartons.
„Hier wurde sehr nachhaltig Modellgebaut – teilweise auch mit Bauteilen, die wiederverwertet wurden“, sagt Miriam Plünnecke vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. Auch das sei im Sinne der beiden Vorbilder Schinkel und Mies, die stets das Wechselspiel von Natur und gebauter Umwelt reflektierten. Jedes entworfene Gebäude auf den Tischen ist hochgradig individuell, kühn und neuartig, attestiert Ursula Steinhilber.
Das ist ein Museum der Zukunft
Fanny
Ihre Gruppe beginnt die kleine Vorstellungsrunde der Bauprojekte. Elis und Fanny erzählen von der Idee eines Hauses, das die Träume und Visionen aller Gruppenmitglieder von einem idealen Gebäude zusammenbringen soll. Dabei zeigen sie auf die große Säulenhalle, die im Zentrum ihres Entwurfs steht und von Karl-Friedrich Schinkels Altem Museum und dessen Säulenfassade inspiriert ist. Im Auftrag von König Friedrich Wilhelms III. wurde das Museum von 1825–1830 von Schinkel erbaut. Bis heute zählt es zu den Hauptwerken des deutschen Klassizismus. Auch ein Museum ist in dem Entwurf der Gruppe untergebracht. „Weil uns die Führung am Freitag so beeindruckt und gefallen hat“, erzählt Fanny. Gebrochen wird die strenge der klassizistischen Säulenhalle durch eine Schaukel. „Auf der sich jede und jeder bewegen kann, wie er oder sie mag“, sagt die Gruppe. Auf dem Dach sind Bäume gepflanzt und durch das Gebäude hindurch zieht sich ein wasserspendender Bach, in dem man auch baden könne. „Das ist ein Museum der Zukunft“, sagt Fanny.
Alle sollen sich in dieser Schule wohlfühlen
Lea
Die Gruppe von Miriam Plünnecke hat sich ebenfalls der Zukunft verschrieben. Auf Pontons haben die Kinder und Jugendlichen im Modell eine innovative Schule entworfen, die mithilfe von Wasserkraft und Windrädern ihre Energie selbst produziert, offene und lichtdurchflutete Räume für den Kunst- und Astronomieunterricht enthält und von der aus man am dazugehörigen Strand im Meer baden gehen kann. „Besonders die leichte und moderne Architektur von Mies van der Rohe hat uns dazu inspiriert“, sagt Lea. Das gesamte Modell wurde aus recyceltem Material hergestellt. „Alle sollen sich in dieser Schule wohlfühlen“.
So entstehen ein soziales Miteinander und Zusammenleben
Johanna
Auch die Gruppe von Alexander Schwarz hat ihre Entwürfe dem gemeinsamen Raumerleben gewidmet, so wie es Mies und Schinkel auch stets im Blick hatten. Dabei sind vier minimalistische Modellhäuser entstanden, die mithilfe von kleinen Eichenparkettsteinen zusammengebaut wurden. Jedes der pavillonartigen Häuser, die an die frühen Arbeiten von Mies van der Rohe erinnern, ist lichtdurchflutet und von kleinen Veranden und Eingangsportalen dominiert, die auf den gemeinsamen Vorplatz gerichtet sind. „Jeder schaut auf die anderen Häuser und auf die gemeinsame Fläche der kleinen Siedlung. So entstehen ein soziales Miteinander und Zusammenleben“, sagt Johanna. „Besonders die großen Fenster bei den Gebäuden von Schinkel und Mies haben uns dazu inspiriert“. Überall gäbe es bei den Gebäuden Licht, ob im Alten Museum oder der neuen Nationalgalerie.
Alles hier passierte genau nach Maß
Paul Kahlfeldt
Das kleine Architekturkollektiv von Paul Kahlfeldt analysierte hingegen das Haus Lemke bis auf die Grundrisse. Durch detailreiche technische Zeichnungen wurde die künstlerische Idee, der das Gebäude zugrunde liegt, aus der Betrachtung und Vermessung des Hauses extrahiert. „Alles hier passierte genau nach Maß“, sagt Paul Kahlfedt. Darauf basierend hat die Gruppe neue Elemente hinzugefügt – das Haus Lemke in eine utopische Zukunft übertragen, mit zusätzlichen Etagen für Programmräume für Kinder und Jugendliche, Rampen, Skulpturen, Bäumen und Grünflächen.
Beide haben Räume geschaffen, die die Welt reflektieren und zugleich eigene Welten bilden
Alma über Mies van der Rohe und Karl Friedrich Schinkel
Jörn Köpplers Gruppe setzte sich hingegen zunächst architekturtheoretisch und philosophisch mit der Frage auseinander, was die diskursiv aufgeladenen Begriffe Schönheit und Wahrheit in der Architektur sind und für den Entwurfsprozess bedeuten. „Mies van der Rohe und Karl Friedrich Schinkel haben jeder für sich eine eigene, ganz besondere Ästhetik und eine eigene Art von Schönheit in der Architektur entwickelt und geprägt. Dem wollten wir auf den Grund gehen“, sagt Köppler. „Beide haben Räume geschaffen, die die Welt reflektieren und zugleich eigene Welten bilden“, ergänzt Alma.
Berlin hat viele neue Schinkel- und Mies-Fans
Bei der Auseinandersetzung sind Modelle entstanden, die sich insbesondere mit dem Wechselspiel von Architektur und Natur auseinandersetzen. „Eine der wichtigsten Grundlagen von van der Rohes Arbeit“, sagt Mathilde. Wer durch die großen Fenster der kleinen Hausmodelle blickt, schaut auf weite Berglandschaften, orange-rotfarbene Sonnenuntergänge oder malerische Strände. „Mies und Schinkel liebten die Natur“, sagt Alma. Die Weite in der neuen Nationalgalerie und die durchsichtige Glasfassade hätten sie dazu inspiriert, bei Schinkel waren es die großen Fenster in der Friedrichswerderschen Kirche und im Alten Museum die massiven Säulen. „Beide holen die Welt in den Raum hinein und strahlen ihre eigenen Ideen und Geisteswelt zugleich nach außen“, sagt sie.
Die Zukunft der Architektur
An diesem sommerlichen Wochenende haben sich auch die lichtdurchfluteten Räume des Mies van der Rohe Hauses in Räume voller Ideen, Weltgedanken und Utopien verwandelt, ganz im Sinne der großen Vorbilder Mies van der Rohe und Karl Friedrich Schinkel. Bald soll es auch einen Katalog geben, in dem die Modelle des jüngsten Architekturbüros der Stadt veröffentlicht werden sollen. „Kinder und Jugendlichen haben einen ganz eigenen Blick auf ihre Umwelt und die Architektur“, sagt Wita Noack. Dieser Blick eröffne neue Welten auch für Erwachsene und ein neues Universum von Ideen und Utopien, das viel Hoffnung für die Zukunft der Architektur mache.