Beginnen wir mit den Farben. Rund um die Universitätsgebäude in Berlin-Dahlem sieht es irgendwie immer so aus, als würde es regnen. Kein Schauer oder Schlagregen, sondern eher ein würdiger Schleier, der um die gestreckten Gebäude zieht. Sie wirken alle etwas eingesunken in ihre sechzig- oder hundertjährigen Fundamente, alte Villen, neue Sachlichkeit. Viel Grau, etwas Beige, mattes Baumgrün.
Die meisten von uns werden sich ans Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst erinnern. Der große Bornemann-Bau in der Lansstraße mit seinen freischwebenden Treppen hatte was Erhabenes. Ein leerer Raum, in dem sich planetenhaft die Exponate verteilten. Hintendran, im 20er-Jahre-Bruno-Paul-Bau, gab es noch das Museum Europäischer Kulturen, aber das wussten viele gar nicht oder dachten, es gehöre irgendwie zur Ethnologischen Sammlung.
Inzwischen sind die beiden vorderen Museen mit ihren Ausstellungen ins Humboldt Forum gezogen. Manchmal stehen noch Touristen vor den dunkel schweigenden Glasfassaden des Bornemann-Baus und fragen sich, wo die Museen sind, im grau-beigen Dahlem mit den mattgrünen Bäumen. Aber dann sticht ihnen ein junges, unverschämtes Grenadinerot entgegen. Endlich werden die Hinweisschilder gefunden, die den Weg ins Museum Europäischer Kulturen weisen, zum Haupteingang. Im Museum ist man stolz auf das Brand, Rot mit den drei weißen Buchstaben: MEK. Erinnert vom Design her ein bisschen ans MoMA in New York und ist genau so selbstbewusst.

Seit ein paar Jahren ist das MEK in Dahlem allein. Man wäre damals schon gern mitgezogen ins Humboldt Forum oder hätte wenigstens ein Fenster dort bekommen, zumal sich die europäische von der außereuropäischen Kultur nicht trennen lässt – andererseits steht das MEK jetzt für sich selbst und kann zeigen, was es draufhat. Außerdem ist Dahlem auch nicht weiter weg als Mitte. Hierher kommt zwar kein Laufpublikum, aber das, was im Museumsjargon „qualitätsvolle Besucher“ heißt.
Die Ausstellungen haben Esprit, ihr Design grenzt an Raumkunst. Wer sich zum Beispiel kein Stück fürs Flechten interessiert, sollte einfach mal die frisch inszenierte Ausstellung „ALL HANDS ON: Flechten“ besuchen. Hier wird deutlich, dass es um eine lebendige Tradition geht, ein immaterielles Kulturerbe, nicht um Vergangenheitssehnsucht.

Flüssige Kultur
Früher wurde das MEK oft als folkloristisch wahrgenommen, aber das anspruchsvolle Konzept zielt auf das Gegenteil. Das MEK sammelt, erforscht und bewahrt Alltagskultur in Europa vom 18. Jahrhundert bis heute. „Alltag“ mag für manchen banal klingen, nach Bauernschränken statt Benin-Bronzen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Fokus auf das Lebensweltliche in den Kultur- und Geschichtswissenschaften schon lange ein Topos ist und nicht erst seit den 70er-Jahren, als Historiker versuchten, die Geschichtsschreibung zu demokratisieren, indem sie sich verstärkt dem Alltagsleben widmeten, den Minderheiten und Randgruppen.
Schon vor 1920 hatte der Soziologe Georg Simmel die Idee, Kultur mit der Allegorie eines Gebirgsbaches zu beschreiben. Er fließt dahin, zugleich wirft er Steine auf. Simmel spricht damit das Monumentale der Kultur an. Sie lässt sich nur als notwendiger Dualismus der beiden Aggregate erfassen, der aufragenden Werke und des flüssigen Lebens.
Dieses Flüssige, immer wieder Neue, fast Quecksilbrige der Kultur zu greifen und verstehbar zu machen ist die große Leistung des MEK. Es zeigt keine statischen Objekte, sondern die Dynamik zwischen ihnen, im raffinierten Zusammenspiel von historischem Kontext und aktuellen Beispielen. Und das stetig neu; die Archive enthalten 285.000 Objekte, das Netz der internationalen Kontakte wächst, im Rahmen der jährlichen Europäischen Kulturtage kommen immer neue Ideengeber zusammen. Man will up to date sein und ist das auch. In einer Zeit, in der allgemein eine Diskursverengung und Empörungserweiterung beklagt wird, ist das MEK politisch immer eins weiter, ohne aktionistisch zu werden.
Alle reden vom Rechtsruck – das MEK plant einen Themenschwerpunkt zur Franco-Diktatur. Alle reden von Rassismus – das MEK forscht zum kaum beachteten Rassismus gegenüber Osteuropa. Alle reden von Embodyment – das MEK macht eine beschwingte Ausstellung über Menstruation mit dem Titel „Läuft“ und fragt, ob die Frauen denn wirklich freier geworden sind. Wer möchte, kann historische Menstruationswäsche anprobieren, Tamponwerbung für Männer gucken oder die lange und teils skurrile Geschichte der Hygieneprodukte besichtigen. Die Ausstellung läuft seit einem Jahr so gut, dass sie verlängert wurde und sogar auf Reisen gehen soll.
Das MEK war politisch immer einen Schritt weiter, ohne aktionistisch zu werden.
Hybride Kultur
Alle reden von Kolonialismus – allein das MEK thematisiert den Kolonialismus innerhalb Europas am Beispiel der Samen. Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste fördert das Projekt, die zugehörige Präsentation „Áimmuin“ mit ihren teils restaurierten, teils neuen Objekten geriet zum Empowerment.
Plötzlich wurde öffentlichkeitswirksam die Nordpolitik der EU hinterfragt. Noch immer sehen sich die Samen in ihren Landrechten missachtet, Bergbauunternehmen und Windkraftanlagen in Sápmi bedrohen ihre Lebensweise, sie sprechen von „grüner Kolonialisierung“.

Und alle reden aufgebracht von kultureller Aneignung und sind natürlich dagegen – das MEK macht klar, dass Kultur aus Aneignung geradezu besteht. In der Dauerausstellung „Kulturkontakte“ kann man nicht nur eine venezianische Gondel oder Khediras Fußballtrikot bestaunen, sondern die unsichtbaren Verbindungen zwischen den Objekten. Wenn Kulturen aufeinandertreffen, beginnt ein spannender Prozess.
Es ist mehr als ein Austausch, eher eine Form der Synthese. Plötzlich landen venezianische Glasperlen und westafrikanische Kaurischneckengehäuse auf einem Trachtengewand aus Mordwinien. Man kann sich das vorstellen wie einen chemischen Vorgang, Elektronen verpaaren sich, die Strukturen werden komplexer, es entsteht ein neuer Stoff. Und dann wieder ein neuer.
In der Kultur gibt es keine reinen Elemente, nur Hybride, die sich zu immer neuen Hybriden formieren. Kultur ist grundsätzlich multikulturell, das ist ihr Wesen, und im MEK lässt sich beobachten, dass Objekte um ein Vielfaches toleranter sind als Menschen. Noch während diese miteinander fremdeln, sich bekämpfen oder vertreiben, gehen ihre Objekte fast magische Verbindungen ein. Diese Magie, es ist tatsächlich eine Magie der Toleranz, fängt das MEK immer wieder ein.
Vielleicht betreten wir inzwischen ein neues Zeitalter, eines ohne Objekte. Also ohne Magie. Walter Benjamin würde sagen: ohne Aura. Wir werden vom Digitalen ja mehr und mehr aufgesogen. Auch im MEK ist man ratlos, wie man jetzt weitersammeln soll, vom Zeitalter des Bildes gibt es nämlich kein Bild.
Genau genommen gibt es nichts. Beim Betrachten der musealen Objekte, ihrer abgeschabten oder splitternden Flächen, ihres zum Schimmern gepressten Staubes, kann man darüber nachdenken, ob das Geheimnis des Menschen vielleicht an der Oberfläche liegt, nicht, wie wir glaubten, als wir noch Romantiker waren, in seiner Tiefe. Sondern in seiner Patina. Und wie kostbar die Orte sind, die sein Geheimnis noch suchen.
