Zur diesjährigen Langen Nacht der Wissenschaften öffnete die Staatsbibliothek im Haus Unter den Linden ihre Sammlung für das interessierte Publikum. Passend zum Wissenschaftsjahr 2023 stand der Abend unter dem Thema „Das Universum in den Sammlungen der Staatsbibliothek“: Zu sehen waren Sternenkarten, astrologische und astronomische Schriften, Musikhandschriften und vieles mehr. Über diese Kostbarkeiten konnte man viel von Expert*innen und den ganz besonderen Exponaten selbst lernen.
Das Schöne an der alljährlich stattfindenden Langen Nacht der Wissenschaften ist ja, dass sie vergleichsweise kurz ist. Sowohl gefühlt, aufgrund der Vielzahl von Programmpunkten, die es zu sehen gibt, als auch von der tatsächlichen „Kürze“ der Nacht her – in unmittelbarer kalendarischen Nähe zur Sommersonnenwende. Beim nächtlichen Besuch in der Staatsbibliothek ist dies jedoch fast schon schade: Will man doch im Laufe dieses Abends immer wieder heraustreten in eine Nacht voller Sterne, die wir als Städter*innen ja sowieso selten zu Gesicht bekommen, um die Perspektiven jener Autor*innen zumindest in Ansätzen nachvollziehen zu können, deren kostbare literarische Schätze in den Sammlungen der Staatsbibliothek liegen und die an diesem Abend zu sehen sind.
Aber der Reihe nach: Los geht es, noch im Taghellen ganz ohne Sternenhimmel, im Eingangsportal zum wunderschönen Hof des Hauses Unter den Linden. Dort haben sich fünf Musiker*innen versammelt. Dieses ungewöhnliche Ensemble hat eine Vielzahl von Instrumenten dabei. Einige kommen einem bekannt vor, andere begegnen uns heutzutage eher selten, wie Schalmei, Dulzian oder Laute. Der ungewohnte aber wohlklingende Sound der Capella de la Torre, die sich ganz der Musik der Renaissance verschrieben hat, wird abgerundet durch DJ Deniz Mahir Kartel, der mit Loops und Beats der Performance einen modernen, elektronischen, fast schon spacigen Twist verleiht. Viele Passant*innen bleiben verwundert stehen, lauschen, zücken ihre Handys und filmen. Einige wandern anschließend weiter durch den Hof hinein in das altehrwürdige Gebäude.
Im Erdgeschoss befindet sich das Stabi Kulturwerk, in welchem rund 300 besondere Exponate aus den Beständen der Staatsbibliothek zu sehen sind, darunter Kostbarkeiten wie die Gutenberg-Bibel. An diesem Abend sind im Foyer des Kulturwerks jedoch zusätzlich Leinwand, Konsole und Computer aufgebaut. Groß und Klein spielen gegeneinander und werden auf das Weltraumthema eingestimmt: In Lunar Lander manövrieren die Spieler*innen Raumfähren. Besonders beliebt ist das Spiel SpeedRunners, bei dem Teams der Staatsbibliothek und des Computerspielemuseums sowie Besucher*innen gegeneinander antreten.
Hier trifft man auch Christian Bachmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kinder- und Jugendbuchabteilung und Kurator der aktuellen Sonderausstellung Play it Again – Vom Spielbilderbuch zum Videospiel im Stabi Kulturwerk. Heute Abend hält er Vorträge und gibt Führungen durch die Ausstellung, die verschiedene Spielszenen nebeneinanderstellt – von Spielbüchern aus dem 19. bis hin zu Videospielen des 21. Jahrhunderts.
Christian Bachmanns Vortrag „Von Außerirdischen und Teleskopen, oder: Wie die Comics das Weltall entdeckten“ ist eine von drei Präsentationen am heutigen Abend zum Thema Universum und der (schriftlichen) Auseinandersetzung des Menschen mit selbigem. Bachmann skizziert einen kurzen Abriss der Beschäftigung des Comics mit dem Weltall. Dabei fokussiert er sich insbesondere auf die Anfangszeit des Mediums im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die allgemeine Faszination mit dem All und den Himmelsgestirnen war in dieser Zeit groß: Jules Verne schrieb seine Reise um den Mond, 1877 entdeckte Giovanni Schiaparelli die Marskanäle, Kurt Lasswitz und H.G. Wells beschäftigten sich mit anderen Welten und Lukians Wahre Geschichten, das erste bekannte Sci-Fi Werk überhaupt (aus dem 2. Jahrhundert n.Chr.), inspirierte Illustrator*innen wie William Strang zu fantastischen Zeichnungen der in dem Werk auftretenden Riesenspinnen.
An diesem Diskurs nahm auch die sich gerade entfaltende Kunst des Comiczeichnens mit teils ernsten, teils humorvollen Kreationen, wie dem skurrilen Außerirdischen Mr. Skygack von A.D. Condo, teil. Dabei wurden ästhetische Entscheidungen getroffen, die sich noch heute in unseren Lese- bzw. Sehgewohnheiten wiederfinden, wie der Blick durchs runde Okular eines Teleskops, der in den Comicstrips mit einem runden statt eckigen Rahmen visualisiert wurde. Die ersten Comics, so scheint es, blickten fasziniert ins All, nutzten es als Projektionsfläche ihrer Technologiebegeisterung und malten sich Außerirdische in den unglaublichsten Formen aus – meist gigantisch groß. Und so wundert es nicht, dass Lukians Riesenspinnen 1941 in „Tim und Struppi und der geheimnisvolle Stern“ wiederauftauchten.
Katrin Böhme, wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Handschriften und Historische Drucke, reist in ihrem Vortrag noch ein Stück weiter zurück in die Geschichte und blickt auf Manuskripte aus der Renaissance, eine Zeit, in der Astronomie und Astrologie noch eng miteinander verknüpft waren. Und da Menschen schon immer nach Antworten im Himmel gesucht haben, verwundert es nicht, mit welcher Kunstfertigkeit und welchem Aufwand versucht wurde, das eigene Schicksal anhand der Gestirne mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln zu deuten. Besonders beeindruckend ist ein 1575 hergestelltes papiernes Astrolabium (ein scheibenförmiges astronomisches Rechen- und Messinstrument) des Schweizer Gelehrten Leonhard Thurneysser zum Anfertigen eines präzisen Geburtshoroskops durch das Nachstellen der Nativität (Stand der Gestirne am Tag der Geburt). Wie es genau funktioniert, ist trotz beiliegender umfangreicher Anleitung Thurneyssers heute nicht mehr nachvollziehbar. Das Astrolabium kann, wie auch andere in Katrin Böhmes Vortrag erwähnte Exponate, direkt im Anschluss im Rara-Lesesaal genauer studiert werden.
Hier befinden sich Seltenheiten, wie ein historischer Druck von Nikolaus Kopernikus‘ De revolutionibus orbium coelestium („Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären“), eine Schlüsselschrift für die sogenannte Kopernikanische Wende, mit der sich der Vortrag von Wolfgang Crom, Leiter der Kartenabteilung an der Staatsbibliothek, auseinandersetzt. Kopernikus, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 550. Mal jährt, nahm aufgrund astronomischer Beobachtungen Abstand vom geozentrischen Weltbild seiner Zeit und rückte stattdessen die Sonne in den Mittelpunkt unseres Planetensystems – eine Idee, die bereits in der Antike von Aristarch von Samos vertreten wurde. Crom berichtet vom langen Zögern Kopernikus‘, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen. Aus Sorge ins Kreuzfeuer von Wissenschaft und Kirche zu geraten. Mit einem weit verbreiteten Mythos über die Zeit vor Kopernikus räumt Crom jedoch auf: Im Mittelalter war durchaus schon bekannt, dass die Erde rund war und nicht, wie oft suggeriert, eine Scheibe.
Am Ende des Abends tritt man hinaus in eine inzwischen wirklich dunkle Sommernacht. Sterne sind über Berlin-Mitte leider nicht zu sehen, dafür sind die Besucher*innen vollgesogen mit neuem Wissen und voller Neugierde auf die Schätze, die die Staatsbibliothek sonst noch so bereithält.