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Vom Spielbilderbuch zum VideospielAbenteuer im Pop-Up-Format

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Christian Bachmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kinder- und Jugendbuchabteilung an der Staatsbibliothek zu Berlin, zeichnet im Interview mit dem SPKmagazin die Verbindung von Spielbilderbüchern des 19. Jahrhunderts und modernen Videospielen nach. Das von ihm geleitete Forschungsprojekt und die Sonderausstellung Play it Again – Vom Spielbilderbuch zum Videospiel im Stabi Kulturwerk bringen dabei erstaunliche Erkenntnisse und Querverbindungen ans Licht.

Was genau sind Spielbilderbücher? Wann kamen sie auf und an wen richten sie sich?

Christian Bachmann: Mit dem Sammelbegriff Spielbilderbuch ist eine umfangreiche Gruppe von Büchern gemeint, die sich durch besondere Papiermechanismen von anderen Büchern unterscheiden. Wo wir bei einem gewöhnlichen Buch nur blättern, wollen in Spielbilderbüchern zum Beispiel Drehscheiben und Ziehlaschen bewegt und Bilder aufgestellt werden. Oder die Bilder stellen sich selbst auf, wie in den beliebten Pop-up-Büchern und bilden dann bewegte dreidimensionale Szenen. Letztere gibt es unter dieser Bezeichnung seit den 1930er Jahren, Spielbilderbücher erleben ihre erste Blüte aber bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie bilden eine Schnittstelle zwischen dem Spielzeug, dem Kinderbuch – beide werden im 19. Jahrhundert als Konsumgut eingeführt – und den vielfältigen optischen Apparaten und Bilderzeugungsverfahren, für die sich Groß und Klein in dieser Zeit begeisterten.

 

Sie forschen zu Comics und Bildergeschichten in Zeitungen, haben einen eigenen Wissenschaftsverlag. Was führte Sie persönlich zum Spielbilderbuch?

Als Doktorand, zehn Jahre ist das inzwischen her, war ich an einem Forschungsprojekt zur Beziehung von Literatur und Künstlerbuch beteiligt. Künstlerbücher gibt es in den unterschiedlichsten Formen, aber vielen ist gemeinsam, dass sie das Buch als Medium in irgendeiner Weise überschreiten, transformieren, auch in Frage stellen. Da gibt es Bücher, die nicht gelesen werden können, Bücher aus Blei, die sich nicht bewegen lassen, riesige Bücher, winzige Bücher, Bücher jedenfalls, die nicht auf herkömmliche Weise rezipiert werden können. In diesem Zusammenhang wurde ich auf Pop-up-Bücher aufmerksam. Und auch zum Comic gab es eine unmittelbare Verbindung, denn in dieser Zeit sind Sam Itas Comic-Pop-up-Adaptionen von Klassikern der Weltliteratur erschienen, darunter Frankenstein, die Odyssee und Moby Dick sowie Comic-Künstlerbücher wie Chris Wares Building Stories.

Pop-Up-Buch, aufgeklappt
Leopold Chimani: "Bunte Scenerien aus dem Menschenleben: Ein Bilderbuch ganz neuer Art zum Nutzen und Vergnügen der Jugend", 1836. © Staatsbibliothek zu Berlin - PK, 2023
Aufgeschlagene Spielbilderbuchseite, Theaterbühne aus Papier
Franz Bonn: "Theater-Bilderbuch. 4 Scenen für d. Kinderherz mit ganz neuen Decorationen u. Text in Versen", 1882. © Staatsbibliothek zu Berlin - PK, 2023
Aufgeschlagene Seite eines Spielbilderbuchs, Szene eines Haushalts
"La Maison des poupées", ca. 1880. © Staatsbibliothek zu Berlin - PK, 2023
Pop-Up-Buch einer Mondrakete
Vojtěch Kubašta: "Moon Rocket", 1986. © Staatsbibliothek zu Berlin - PK, 2023

Ihr von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördertes zwölfmonatiges Forschungsprojekt an der Staatsbibliothek zu Berlin stellt unter anderem die Frage: „Wie viel Spielbilderbuch steckt im Videospiel?“ Lässt sich diese nun kurz vor dem Abschluss des Projekts und der Ausstellung im Stabi Kulturwerk eindeutig beantworten?

Eindeutig lässt ich sagen, dass Spielbilderbücher Videospielen immer wieder Anregungen gegeben haben. Schon 1997 erscheint mit Yoshi’s Story ein Spiel, das sich als Pop-up-Buch inszeniert. In jüngerer Zeit finden wir zwar nicht viele Spiele, aber doch einige, die diesen Gedanken weiterverfolgen. Am markantesten ist vielleicht das Beispiel Book of Demons des polnischen Studios Thing Trunk. Book of Demons gibt sich ganz bewusst als Remake des Hack-and-Slay-Klassikers Diablo (1996), präsentiert sich aber selbst als Pop-up-Buch, in dem Papierfiguren durch Papierlandschaften bewegt werden müssen. Anders gesagt: Book of Demons transformiert Diablo in ein Pop-up-Buch-Videospiel. Dabei will es Thing Trunk aber nicht belassen: Man arbeitet bereits an Book of Aliens, das auf einem anderen Genreklassiker, namentlich UFO: Enemy Unknown (1994) basiert. In dieser Hinsicht steckt viel Spielbilderbuch im Videospiel.

Man kann aber auch fragen, ob und inwiefern die Interaktion mit und der Konsum von apparativen Medien wie Spielbilderbüchern als Teil umfassender gesellschaftlicher Tendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts das Spielen an Heimspielkonsolen und Computern vorbereitet haben kann. So findet im Laufe des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung eine Wendung nach innen statt: Kinder spielen zunehmend nicht mehr draußen auf der Straße, sondern erhalten eigens eingerichtete Kinderzimmer. Für ihre Ausstattung mussten geeignete Spielzeuge und Medien für drinnen gefunden werden, die ihre Verlängerung in den Videospielkonsolen haben. Diesen Zusammenhang eingehend darzustellen, benötigt jedoch etwas mehr Zeit.

 

Auch innerhalb moderner Videospiele tauchen Spielbilderbücher auf. Welche Rollen nehmen Sie dort ein?

In den beiden genannten Beispielen Yoshi’s Story und Book of Demons wird in erster Linie die Papierästhetik des Spielbilderbuchs auf Videospiele übertragen. In anderen Spielen finden Spielbilderbücher Verwendung als Dekoration oder als Rätsel. In einzelnen Fällen werden vor allem Pop-up-Bücher zu Landschaften, durch die die Figuren bewegt werden wollen. Hindernisse müssen durch das Ziehen an Laschen beseitigt werden und neue Spielräume entfalten sich beim Umblättern der virtuellen Buchseiten.

Innenansicht eines Ausstellungsraums
Einblick in die Ausstellung "Play it again - Vom Spielbilderbuch zum Videospiel" im Stabi Kulturwerk. © SBB-PK / Anka Bardeleben-Zennström
Mann hält Vortrag vor Leinwand.
Christian Bachmann hält einen Vortrag über Comics und Weltall während der Langen Nacht der Wissenschaften 2023. © SBB-PK / Anka Bardeleben-Zennström
Controller aus Papier
Artis Design: Klappkarte „Controller“, 2023. © Staatsbibliothek zu Berlin - PK, 2023
Animation eines riesigen Drachens vor Schloss
Keyart des Spiels "Book of Demons". © Think Trunk 2016
Screenshot eines Computerspiels, Kämpfer mit Schwert
Screenshot aus dem Spiel "Book of Demons". © Thing Trunk 2016

Interessanterweise gibt es auch die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung: Spielbilderbücher begleitend zu Videospielen. Was erwartet die Nutzer*innen hier?

Für mich erstaunlich: Es gibt nur wenige Beispiele für solche Bücher. Besonders markant finde ich Simon Arizpes Versuch im HearthStone Pop-up-Book das Spielerlebnis des gleichnamigen Videospiels, das selbst ein digitales Sammelkartenspiel ist, im Buch nacherlebbar zu machen. Dazu wählt er einzelne Szenen aus, die Spielenden in HearthStone begegnen, und versieht sie mit trickreichen Papiermechanismen, die es ihm erlauben, Buch und Kartenspiel aus Papier mit dem digitalen Videospiel zu verbinden.

 

Klappen, Drehen, Ziehen … die haptischen Interaktionen mit einem Spielbilderbuch aus Papier sind doch ganz anders als mit Controller, Tastatur und Joystick, oder?

Ja und Nein. Es gibt Bilderbücher mit digitalen Erweiterungen – zum Beispiel Lesestifte –, und es gibt Videospiele mit Beilagen aus Karton – zum Beispiel Dekodierscheiben als Kopierschutz, so dass sich materiell Videospiel und Spielbilderbuch schon lange überschneiden. Aber grundsätzlich stimmt es natürlich, dass ein Knopf elektrische Impulse erzeugt, während eine Drehscheibe mechanische Krafteinwirkung voraussetzt. Gemeinsam ist ihnen allenfalls die Interaktion mit den Händen. Wo sich Spielbilderbuch und Videospiel einander annähern, müssen sie zwischen diesen unterschiedlichen Kräften vermitteln. Das gelingt zum Beispiel bei Spielbilderbuch-Apps, die eine direktere Interaktion mit den Händen ermöglichen als Maus und Tastatur es erlauben.

Die Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin besitzt eine einzigartige Sammlung von Spielbilderbüchern. Wie halfen Ihnen diese Ressourcen bei der Forschung zu dem Projekt?  

Während digitale Spiele, auch ältere, über verschiedene Plattformen im Moment noch einigermaßen gut erreicht werden können, sind die wertvollen historischen Spielbilderbücher teils nur in wenigen Exemplaren erhalten. Diese fragilen Objekte an einem Ort versammelt vorzufinden, ist für die Forschung von unschätzbarem Nutzen. Bibliographien, Fotografien und Beschreibungen dieser Bücher geben oftmals nur ein unzureichendes Bild davon, wie sie funktionieren und was sie zeigen. Da es sich um komplexe Objekte mit intrikaten Mechanismen handelt, liegen sie bislang nicht in adäquater Form digitalisiert vor (mehr dazu hier). Bis es diese Digitalisate gibt, ist die persönliche Inaugenscheinnahme der einzige Weg, die Bücher zu verstehen. Zudem ist die Expertise in der Abteilung nicht zu überschätzen: Bücher lesen ist nicht schwer, Bücher finden zuweilen sehr.

 

Haben Sie im Zuge Ihrer Forschung ein neues Lieblingsspielbilderbuch/ein neues Lieblingscomputerspiel entdeckt?

Bei der Recherche bin ich gleich auf mehrere Spiele gestoßen, die ich noch nicht kannte. Spielmechanisch finde ich das 3D-Puzzle-Spiel Maquette (2021) fantastisch. Darin bewegen sich die Spielenden durch Räume und Miniaturen dieser Räume und Miniaturen der Miniaturen dieser Räume … Erzählerisch und emotional hat mich What Remains of Edith Finch (2017) sehr berührt. Hier erleben wir beim Gang durch ein seltsames Anwesen die seltsamen Lebensgeschichten oder vielmehr Sterbensgeschichten der Mitglieder einer ganzen Familie und durchblättern dabei Comichefte und Spielbilderbücher und spielen Videospiele im Videospiel. Die historischen Spielbilderbücher, von denen wir einige wenige in der Ausstellung „Play it again – vom Spielbilderbuch zum Videospiel“ im Stabi Kulturwerk noch bis zum 27. August zeigen, habe ich gerade durch den Vergleich mit den Videospielen auch noch einmal neu schätzen gelernt.


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