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Plünderware aus dem Boxerkrieg?„Wir tragen dazu bei, die deutsche Kolonialgeschichte in China aufzuarbeiten“

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„Wir tragen dazu bei, die deutsche Kolonialgeschichte in China aufzuarbeiten“: Provenienzforscherin Christine Howald forscht über die problematische Herkunft von Porzellan, Bildrollen und Bronzen in deutschen Museen

Es ist eine Aufgabe, für die viel Fingerspitzengefühl und politisches Interesse nötig ist: die Spuren zu erforschen, die vom „Boxerkrieg“ in deutsche Museen und Sammlungen führen. Eine Aufgabe, wie geschaffen für Christine Howald. Kaum einer weiß so gut wie sie, was es mit den tausenden von Kunstwerken auf sich hat, die um 1900 von deutschen Soldaten aus Peking und Nordchina geplündert wurden: Porzellan, Bronzen, Bildrollen.

Ihr Weg in deutsche Sammlung ist bisher kaum erforscht, die problematische Herkunft nur in wenigen Fällen bekannt. „Wir tragen dazu bei, die deutsche Kolonialgeschichte aufzuarbeiten, und wir hinterfragen das Verhalten unserer Vorfahren“, sagt Christine Howald, stellvertretende Direktorin des Zentralarchivs, das die Provenienzforschung der Staatlichen Museen leitet und koordiniert. Sie und ihr Team wollen die Wege der Kunst rekonstruieren. Und für das heikle Thema sensibilisieren.

Und das mit Erfolg. Als sich im März dutzende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland - aber auch London, Wien und Basel - zu einem ersten Workshop trafen, da sei der Saal im Humboldt Forum proppenvoll gewesen, erzählt Howald. Auch viele kleine Museen waren vertreten. Sie können sich schon auf den Leitfaden freuen, der auf so manche Frage erste Antworten gibt: Wie können Museen und Sammlungen feststellen, ob auch sie Objekte besitzen, die von den Plünderungen damals stammen? Und wie ist das dann einzuordnen und aufzuarbeiten? Was sind die rechtlichen Grundlagen? Und schließlich: Wo gibt es Forschungsgelder? Oft fehlt den Einrichtungen das Wissen - über diese Zeit und erst recht über Provenienzforschung. Auch viele private Sammler ahnen nicht, woher die Schätze eigentlich genau stammen, die sie im Kunsthandel erworben haben oder die vielleicht ein Verwandter einst aus China mitbrachte.

Ein Magazintitel zeit einen preussischen Soldaten, der vor dem Himmelstor steht, das von einem Mann in chinesischer Tracht bewacht wird. Der Soldat trägt an seinem Gürtel die blutigen Köpfe mehrerer chinesischer Männer.
Auch in der zeitgenössischen preußischen Presse, wie dem Magazin "Simplicissimus", wurde über den Boxeraufstand umfangreich berichtet. Thomas Theodor Heine: "Am Himmelsthor" aus: "Simplicissimus", Nr. 46, 1901 © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek / Knud Petersen
Das Titelblatt eines Magazins zeigt zwei stereotypische chinesische Männer, die im Begriff sind, eine Kanone abzufeuern.
Thomas Theodor Heine: "Quittung" - Karikatur zum Boxerkrieg aus: "Simplicissimus" vom 14.08.1900, Jg. 5, Heft 21 © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek / Knud Petersen
Ein Magazintitel zeigt eine Gruppe preußischer Soldaten, die vor einem kleinen chinbesischen Mann steht, der ihnen eine lange Nase zeigt.
Thomas Theodor Heine: „Der Sühneprinz" aus: "Simplicissimus", Nr. 27, 1901 © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek

Sogar für die zwei prächtigen Ölportraits ist das immer noch zu klären, die im Wang-Shu-Raum des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt-Forum ausgestellt sind, gleich links an der Wand, wenn man den Saal betritt: Sie gehören zu den 280 Porträts verdienter Offiziere und kaiserlicher Leibgarden, die zwischen 1760 und 1790 im Auftrag des Qianlong-Kaisers entstanden. Klar ist: Einst waren sie in der Halle des Purpurglanzes im Pekinger Winterpalast ausgestellt. Und klar ist wohl auch: Nach dem „Boxeraufstand“ waren sie nicht mehr dort. Aber wer hat sie wann genau mitgenommen und nach Deutschland gebracht? Auch für die zwei Schnittlackpaneele, die Hängerolle und den Dokumentenschrein wird das jetzt untersucht, die alle im Wang-Shu-Raum zu sehen sind. Erst einmal geht es also nur um die Herkunft und die Wege ausgewählter Objekte – in Berlin genauso wie in den anderen Museen in Hamburg, München, Leipzig und Frankfurt, die zusammen zu dem Verbundprojekt gehören. Insgesamt sind das rund siebzig Objekte von vermutlich vielen tausend, die in westlichen Sammlungen ausgestellt und aufbewahrt werden. Was zeigt: Das Forschungsprojekt soll erst der Anfang sein.

Porträt eines asiatischen Mannes in Kleidern des 18. Jahrhunderts vor blauem Hintergrund.

Porträt des mongolischen Fürsten Corgiyamz'an, Werkstatt des Giuseppe Panzi und Ignatius Sichelbarth, c. 1775. Provenienz: Erworben 1902, im Winterpalast Peking bis 1900, vermutlich während des sogenannten ‚Boxerkriegs‘ geplündert, ID 22155. © Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Foto: Claudia Obrocki

Und der ist nötig. Denn allzu wenig ist bisher darüber bekannt, was die ausländischen Truppen genau anrichteten, als sie im Frühsommer zuerst nach Nordchina, dann nach Peking kamen, um die Missionare, Gesandten, Kaufleute und deren Familien vor den aufständischen Chinesen zu schützen. Es war eine grausame Vergeltungsmaßnahme. „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht!“ – mit diesen Worten verabschiedete Kaiser Wilhelm II. das deutsche Ostasiatische Expeditionskorps am 27. Juli 1900 in seiner berühmten „Hunnenrede“. Die alliierten Truppen aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika machten reiche Beute: Sie plünderten in Peking kaiserliche Anlagen, Anwesen von Prinzen und Beamten, Lagerhäuser und Geschäfte, Tempel, rituelle Anlagen und Privathäuser. Die Raubzüge zogen sich über Monate hin, Angehörige aller acht fremden Armeen waren beteiligt, aber auch Diplomat:innen, Missionar:innen, Kaufleute und sogar lokale Anwohner. Rasch entstand mit dem Beutegut ein reger Handel. Und mit machten auch deutsche Museen: Das Berliner Völkerkundemuseum entsandte den Direktorialassistenten Wilhelm Karl Müller 1901 zu einer regelrechten Einkaufstour nach Peking. Denn: Chinoiserien waren begehrt. Es gab eine Ostasieneuphorie unter privaten und staatlichen Sammlern.

Sicher, anders als viele Länder Afrikas sei China nie voll kolonialisiert gewesen, erklärt Christine Howald. Doch standen Teile des Landes unter ausländischer Rechtsprechung, ausländische Wirtschafts- und Regierungsvertreter gewannen in ganz China zunehmend an Macht, so dass das Land schließlich in eine Krise geriet: politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Stützpunktkolonisierung nennen Historiker:innen das imperialistische Eindringen der westlichen Staaten in das Land. Ab 1899 reagierten die Chinesen darauf mit einem Aufstand, der „Boxerbewegung“. Für Christine Howald ist klar: „Der Boxerkrieg war ein kolonialer Kriegszug. Und wenn es darum geht, die koloniale Verantwortung Deutschlands aufzuarbeiten, sollten wir keinen Aufwand scheuen.“  

Seit vielen Jahren schon forscht sie intensiv über diese Zeit. Weltweit ist sie eine der wenigen Provenienzforscherinnen für asiatische Kunst. Schon als sie vierzehn Jahre alt war, fing sie an chinesisch zu lernen, später hat sie - nein, nicht Kunstwissenschaften, sondern - Geschichte studiert. Sieben Jahre lebte Christine Howald in Peking, hat an der deutschen Botschaft gearbeitet und als Gastwissenschaftlerin an der Tsinghua-Universität. Ein Pfund, mit dem sie wuchern kann: Denn bei diesem Projekt geht es auch und vor allem um Politik, es geht um das moderne China, die Weltmacht, die stolz ist auf ihre historischen Wurzeln und für die die Zeit der ausländischen Herrschaft ein „Jahrhundert der Demütigungen“ war.

Eine Gruppe von Soldaten verschiedener Länder in Uniformen des frühen 20. Jahrhunderts posiert für ein Foto.

Soldaten der Acht-Nationen-Allianz westlicher Mächte, die im „Boxerkrieg“ gegen die chinesischen Kräfte kämpften und an diversen Strafaktionen und Plünderungen beteiligt waren (1900). V.l.n.r.: Großbritannien, USA, Australien, Indien, Deutschland, Frankreich, Österreich-Ungarn, Italien, Japan © CC BY 2.0

Kein Wunder also, dass die geplünderten Kunstwerke für China immer mehr an Bedeutung gewinnen: Christine Howald berichtet, dass das chinesische Interesse an dem Projekt ständig gewachsen sei und das chinesische Team stetig größer werde. Arbeiteten die deutschen Forscherinnen und Forscher zunächst mit der Universität Schanghai zusammen, so ist – auf Veranlassung der Regierung - ihr Partner inzwischen das Palastmuseum in Peking. Herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind dort beschäftigt. Sie sind Expert:innen für die Hofkunst Chinas und interessierten sich deshalb vor allem für die prestigeträchtigen Objekte aus den kaiserlichen Sammlungen, Kunstwerke mit dem Symbol des Drachen in der gelben Farbe des Kaisers. Im Februar, beim nächsten Workshop in München, werden die Kolleginnen und Kollegen aus China mit dabei sein. Sie können helfen, die Wissenslücken über die Wege der Objekte zu füllen.

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Karteikarte zu einem mutmaßlich im Rahmen des „Boxerkrieges“ erbeuteten Objekt, das sich heute in der Sammlung des Museums für Asiatische Kunst befindet. Es ist noch viel Forschungsarbeit nötig, um die Aufklärung dieses internationalen Konfliktes voranzutreiben. © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv / Kerstin Pannhorst

Sieben deutsche Museen und das politische Schwergewicht China als Verbundpartner – das ist ein Mammutprojekt, das nur zu stemmen ist, weil die Provenienzforschung in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz so groß und zentral angelegt ist. Davon ist Christine Howald überzeugt. Sie rechnet mit Rückgabeforderungen. Und lässt sich nicht Bange machen. Im Gegenteil. Es bringt Ihr Spaß, an den großen Linien des globalen Sammelns zu arbeiten, an den globalen Verflechtungen des Kulturtransfers. Nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern auch mit Twitter-Account, Vorträgen und Veranstaltungen, die sich an ein breites Publikum richten. Was Ihr größter Wunsch ist? Sie muss nicht lange überlegen: Christine Howald wünscht sich, dass sich die verschiedenen Player aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zu dem Thema in Deutschland noch besser verzahnen, noch mehr austauschen. Denn bei der Forschung zum „Boxerkrieg“ geht es um viel mehr als nur um Kunst.


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