Detektivarbeit in Dahlem

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Abiturzeugnisse, Testamente, Lehensbriefe: Das „Brandenburg-Preußische Hausarchiv“ hat eine faszinierende Geschichte. Jetzt wird der Urkundenteil neu erschlossen.

Aus diesem Zögling musste ja etwas werden: „Sein Betragen war stets untadelhaft, und durch seinen Fleiß und sein reges wissenschaftliches Streben erwarb er sich die volle Zufriedenheit seiner Lehrer“. 18 Jahre war der künftige Wilhelm II. alt, als er im Januar 1877 sein Abitur machte. So beeindruckend seine „sittliche Aufführung und Fleiß“ auch waren, in Lateinisch, Griechisch, Deutsch und Mathematik bekam er nur die Note „befriedigend“, vom Turnunterricht war er befreit. Am Gymnasium in Kassel verabschiedete man den Kaiserenkel „unter den besten Segenswünschen“.

Wilhelms Reifezeugnis ist Teil eines Urkundenbestandes über Haus und Hof der Hohenzollern, der zum Brandenburg-Preußischen Hausarchiv gehört. Unter den rund tausend historischen Dokumenten sind große Schätze: die Testamente Friedrichs des Großen und anderer preußischer Monarchen, mittelalterliche Bündnisverträge, Schriftstücke über die Erbfolge in Brandenburg, aber auch Preziosen wie die Silvesterbetrachtungen Wilhelms I., verfasst in Versailles. Lehensbriefe, Bann- und Bestallungsurkunden gehören genauso dazu wie Verträge und Diplome oder die Auflistung der Bediensteten des kaiserlichen Hofs mit Namen und Gehalt. Die ältesten Stücke stammen aus dem 13. Jahrhundert – sie beschreiben die Versorgung der Witwen. Das jüngste Dokument ist von 1938 – eine Vollmacht, die Wilhelm II. im holländischen Exil für einen Generalbevollmächtigen ausstellte.

„Es ist faszinierend, so ein altes Schriftstück vor sich zu haben. Man muss sich nur vorstellen, wie es entstanden ist, welche Lebensumstände damals herrschten und wer das Dokument später alles in die Hand genommen hat“, sagt Stefanie Fraedrich-Nowag, die Bearbeiterin des Projekts im Geheimen Staatsarchiv in Dahlem, das durch eine Förderung der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) ermöglicht wurde. Sie ist so etwas wie eine Detektivin: Ihre Aufgabe ist es, den Urkundenbestand des Brandenburg-Preußischen Hausarchivs zu analysieren und damit neu zu erschließen. Das ist gar nicht so einfach. „Der Urkundenbestand des Brandenburg-Preußischen Hausarchivs ist ein einziges Durcheinander“, sagt die Projektbearbeiterin.

Das hat natürlich mit seiner Geschichte zu tun. Alles begann mit Friedrich Wilhelm IV.:  Schon als Kronprinz hatte er Spaß an historischen Studien und an der Geschichte des preußischen Königshauses. Beim Sammeln und Edieren ließ er sich von dem berühmten Historiker Rudolf von Stillfried-Rattowitz beraten.

Historische Wachs-Siegel
Für die Aufnahme in die Datenbank werden die Urkunden, ihr Inhalt und ihre Siegel genau untersucht. © GStA PK
Pappschachtel voller historischer Papiere
Abiturzeugnis des späteren Kaisers Wilhelm II. von 1877. © GStA PK
Pappschachtel voller historischer Papiere
Die Kisten und Kartons mit den Urkunden umfassen im Geheimen Staatsarchiv 25 Regalmeter. © Stefanie Fraedrich-Nowag / GStA PK
Historisches Dokument mit Siegel
Die Bestätigung der Dispositio Achillea (Erbfolgeregelung in der Mark Brandenburg) durch Kaiser Friedrich III. (1473) © GStA PK

Stillfried schlug seinem Auftraggeber schon bald vor, für die Quellen aus dem Haus Hohenzollern ein eigenes Archiv zu schaffen. Und dieses Archiv, ein Hausarchiv, kam dann tatsächlich zustande, und zwar nach der gescheiterten Revolution von 1848, was zeigt: Das Hausarchiv entstand auch aus politischem Interesse. „König Friedrich Wilhelm IV. wollte mit dem Hausarchiv seine Urkunden und damit seine Besitz- und Herrschschaftsansprüche sichern. Gerade nach 1848 wollte er die Kontrolle über seine Vermögensverhältnisse behalten“, erklärt Stefanie Fraedrich-Nowag.

Aber wo genau hört der Staat auf und fängt das Private an? Was also gehört in ein Staatsarchiv und was in ein Familienarchiv? Also: Was ist eine preußische Staatsangelegenheit und was ist Privatsache der Hohenzollern? Die Frage war schon damals nicht leicht zu beantworten. Fest steht: Um das Hausarchiv einzurichten, mussten andere Archive in großem Umfang geplündert und auseinandergerissen werden, das Geheime Staats- und Kabinettsarchiv vor allem, aber auch außerpreußische Archive, denn die Hohenzollern hatten eine fränkische und eine schwäbische Linie, und die Dokumente waren in verschiedenen Ländern verteilt. Kein Wunder, dass damals viele Fachleute protestierten und der Direktor des Staatsarchivs zurücktrat.

Und kein Wunder auch, dass nach 1918 darüber nachgedacht wurde, das Hausarchiv wieder aufzulösen. Doch dafür war es zu spät. Längst hatte das Hausarchiv eine eigene Geschichte, war von einem eigenen historischen Wert. Ein „lebendiger Organismus“ sei entstanden, hieß es damals. Im sogenannten Vergleich von 1925 wurde verabredet, dass der preußische Staat und die Hohenzollern das Hausarchiv gemeinsam verwalten sollten. Die Bestände blieben weiter in ihrem neuen, prächtigen Gebäude am Luisenplatz vor dem Schloss in Charlottenburg – bis am Abend des 22. November 1943 schließlich mehr als die Hälfte der Schriftstücke bei einem Bombenangriff vernichtet wurden.

Stefanie Fraedrich-Nowag hat in ihrem Projekt den Auftrag, den Bestand des Archivs so rekonstruieren, wie er vor seiner Zerstörung 1943 war, sie soll – soweit möglich – auf der Grundlage der älteren Findmittel den Verbleib der damals rund 3500 Urkunden ermitteln und das Ergebnis online zugänglich machen. Seit vergangenem Herbst erfasst sie bis zu zwanzig Urkunden am Tag; dafür nutzt sie das Archivprogramm Augias. Sie will wissen: Was genau wurde damals zerstört und was gerettet? Welchen Weg haben die Dokumente genommen? Viel Recherche ist nötig. So manche Urkunde hat eine Odyssee hinter sich: Stationen waren das Johanniter-Ordensschloss Sonnenburg bei Küstrin, gegen Kriegsende dann das Salzbergwerk Staßfurt und, als der Übergang über die Elbe nicht mehr möglich war, ein Flakturm am Berliner Zoo. Aus der sowjetisch besetzen Zone wurden später Teile der Bestände in die Sowjetunion geschafft, dann peu à peu an die DDR zurückgegeben und nach Merseburg gebracht, wo sie zusammen mit Beständen des ehemaligen Preußischen Geheimen Staatsarchivs aufbewahrt wurden.

Und weil eben auch Archive politisch sind und weil die Ordnung, nach der alte Dokumente aufbewahrt werden, auch viel über ihre jeweiligen Besitzer verrät, gab es gerade auch in der DDR wieder Pläne, das monarchische Hausarchiv aufzulösen und seine Teile in das Staatsarchiv einzugliedern. Es blieb offenbar bei dem Versuch. Nach der Wiedervereinigung kamen die Merseburger Bestände dann nach Dahlem. Dort liegen sie nun neben jenen Urkunden des Hausarchivs, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Flakturm am Zoo ins Geheime Staatsarchiv gebracht wurden. In den achtziger Jahren kamen Neuerwerbungen hinzu, Urkunden wurden ersteigert oder angekauft. Und es ist noch komplizierter: In den siebziger Jahren wurden rund 500 Urkunden aus Merseburg an das heutige Brandenburgische Landeshauptarchiv in Potsdam abgegeben. Sie müssen jetzt ebenfalls identifiziert werden.

Im Geheimen Staatsarchiv liegen die Kisten und Kartons mit den Urkunden wohlverwahrt im Magazin, sie umfassen 25 Regelmeter. Obwohl die Stücke in einem erstaunlich guten Zustand sind, müssen sie vor der Benutzung jeweils konservatorisch und restauratorisch behandelt werden.

Stefanie Fraedrich-Nowag will die spannende Geschichte dieses besonderen Archivs verstehen. „Die genaue Analyse des Hausarchivs ist von großem Gewinn für die Forschung“, sagt sie. Schon jetzt ist klar: Die größten Lücken gibt es bei den Geburts-, Tauf- und Eheurkunden, aber auch bei den Lehensurkunden. Viele Teilbestände müssen als verloren gelten. Im Sommer will Stefanie Fraedrich-Nowag das neue Findbuch zum Hausarchiv fertig haben. Ein Fachartikel wird folgen. Sicher ist: Das Interesse daran wird groß sein.


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