leicht vergilbtes, aufgefaltetes Papier

Selbstversuch FamilienforschungAuf Ahnensuche im Geheimen Staatsarchiv

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„Woher komme ich eigentlich wirklich? Und was haben meine Vorfahr*innen denn so gemacht?“ Fragen wie diese beschäftigen wohl fast jede*n an irgendeinem Punkt im Leben. Bei manchen ist der Wissensdurst so groß, dass sie sich durch Onlinedatenbanken wühlen, Speichelproben an DNA-Testlabore schicken und Cousins dritten Grades in Amerika kontaktieren. Will man jedoch fundierter in die Materie eintauchen, so ist ein Gang in die Archive unerlässlich – beispielsweise in das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, das dieses Jahr seinen Hundertjährigen Archivzweckbau in Dahlem feiert. Unser Redakteur Louis Killisch hat den Selbstversuch gewagt.

Ahnenforschung boomt – das zeigt das Hervorsprießen zahlreicher Internetportale wie MyHeritage, Ancestry oder Family Search, die eine DIY-Wurzelrecherche schnell und greifbar machen. Mehrere Milliarden Personendaten sind hier digital verfügbar und können systematisch durchkämmt werden. Darüber hinaus ermöglichen viele Anbieter mittels eines DNA-Tests die eigene Herkunft genau zu lokalisieren, weltweit potentielle Verwandte zu finden und mit ihnen in Kontakt zu treten. Auch wenn DNA-Tests aus Gründen des Datenschutzes mit Vorsicht zu genießen sind, scheint es, als könnten wir bequem von zu Hause die Geheimnisse unserer Herkunft lüften, Stammbäume erstellen und mit bisher unbekannten Familienmitgliedern in Kontakt treten.

Doch leider ist das nicht immer so einfach. In Europa brachten zwei Weltkriege und Fluchtgeschichten zusätzliche Zäsuren mit sich, die die Suche nach Vorfahr*innen deutlich erschweren. Viele historische Dokumente sind verloren gegangen oder liegen über ganz Europa verstreut in Archiven. Das merkte auch ich im Zuge der eigenen Familienrecherche sehr schnell. Zwar wusste ich, dass meine Familie väterlicherseits aus einem winzigen Dorf in Ostpreußen stammt – ich konnte sogar den Todestag meiner Ururgroßeltern bestimmen. Suchte ich jedoch nach genaueren Informationen zu meinen Vorfahr*innen, so fanden sich in den beschriebenen Portalen keine oder nur wenige digital verfügbare Daten.

Gebäudefassade hinter Vorgarten
Das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK). Foto: © Geheimes Staatsarchiv PK / Vinia Rutkowski
Forschungssaal
Der Forschungssaal des Geheimen Staatsarchivs. © SPK / Thomas Meyer, Ostkreuz

Auf in die Archive!

Beflissenen Familienforschenden scheint somit nur der Gang in die Archive zu bleiben, um endlich etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Recherchiert man zu Vorfahr*innen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, so gibt es eine Vielzahl von Anlaufstellen. Eine davon ist das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK). Neben Unmengen an Verwaltungsschriftgut von Behörden finden sich hier auch Schriftwechsel und Unterlagen zu Einzelpersonen. Bereits eine kurze Internetrecherche in der Archivdatenbank stimmte mich hoffnungsvoll: Mein doch recht seltener Familienname tauchte hier gleich mehrfach auf. Ob und wie vielversprechend diese Treffer tatsächlich sind, konnte ich zunächst nicht einschätzen. Und so suchte ich mir Unterstützung bei der Archivarin Michaela Utpatel, einer der dienstältesten Mitarbeitenden im Haus und unter anderem zuständig für die Bestände des Historischen Staatsarchivs Königsberg (ehemals Ostpreußen).

Seit 1979 befinden sich die verbliebenen Königsberger Archivalien im GStA PK in Berlin. Das führt dazu, dass seit den 1980er-Jahren eine Vielzahl von Hobby-Familienforschenden nach Dahlem kommen. Unter den ersten waren auch noch gebürtige Ostpreuß*innen, ältere Menschen mit genügend Zeit für Nachforschungen über ihre alte Heimat. „Wir hatten früher viel mehr Benutzer*innen im Forschungssaal,“ bestätigt Archivarin Michaela Utpatel, „unter anderem auch mehr Familienforschende. Tatsächlich waren das dann häufig Vertriebene selbst oder deren Nachkommen.“ Und fügt hinzu: „Das hat aber sehr nachgelassen.“ Das ist einerseits erklärbar durch das Voranschreiten der Zeit und dem damit einhergehenden Generationenwechsel und andererseits auch den neuen digitalen Möglichkeiten geschuldet.

 

Stammbaumrekonstruktion: Ein Detektivspiel

Vorab: Die händische Recherche vor Ort ist auf jeden Fall zeitaufwendiger und bedarf einiges an Vorbereitung. Aber so viel sei verraten: Es ist ein unvergleichliches Erlebnis, jahrhundertealte Dokumente in den Händen zu halten oder sogar die Handschrift der Vorfahr*innen betrachten zu können. Aus der einschlägigen Literatur zur Familienforschung erfahre ich, dass man sich am besten peu à peu, über seine Eltern und Großeltern zurückgehend, durch den Stammbaum arbeitet – idealerweise anhand von Kirchenbüchern oder den gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Personenstandsregistern. So kann man anhand biografischer Eckdaten ein Grundgerüst (Namen, Zeiträume und Orte) erstellen. In meinem Fall konnte ich meinen Stammbaum väterlicherseits bis zum Tod meiner Ur-Ur-Großeltern recherchieren. Von Vorteil war auch, dass meine Familie aus einem kleinen ostpreußischen Dorf im Kreis Sensburg in Masuren (heute: Mazury, Polen) mit dem Namen Aweyden (heute: Nawiady) stammt. Das erleichterte meine Suche immens. Trotzdem konnte ich mir kaum vorstellen, im 700 Kilometer entfernten Berlin brauchbare Zeugnisse zu finden.

Abbildung einer Landkarte Polens und Teilen von Deutschlands

Entfernung Berlin-Aweyden in Masuren (heute: Nawiady, Polen). Die nach Westen verlagerten Bestände der XX. Hauptabteilung des Historischen Staatsarchiv Königsberg enthalten auch Präsentationstabellen und Grundbücher des kleinen Dorfs. Screenshot: Open Street Map

Im Vorfeld meiner Recherche hilft mir Michaela Utpatel aus den Bestände des GStA PK die vielversprechendsten Akten anzufordern. Über die Website des Archivs lässt sich ein Arbeitsplatz im Dahlemer Forschungssaal reservieren und die benötigten Archivalien direkt vorbestellen. Und so begebe ich mich an einem kalten Februarmorgen gespannt und voller Erwartungen nach Dahlem. Ich fühle mich sogleich in meine Uni-Zeit zurückversetzt: Nach dem Betreten des eindrucksvollen Archivbaus von 1924 schließe ich meine Sachen im Spind ein und begebe mich bewaffnet mit Laptop, Stift und Notizblock die geschwungene Wendeltreppe zum Forschungssaal hinauf. Hinter einer großen Flügeltür herrscht emsiges Treiben: Es wird in Archivalien gestöbert, Findbücher werden durchblättert und Mikrofilme gelesen. An beiden Enden des Raums befinden sich je eine Theke mit Mitarbeitenden, die einen bei allen Fragen und Anliegen unterstützen. Zunächst fülle ich ein Antragsformular aus und dann bekomme ich einen Nutzungsausweis – mein Leben lang gültig. In der Aktenausgabe scanne ich den nagelneuen Ausweis und ein freundlicher Mitarbeiter überreicht mir drei prallgefüllte Kartons mit Akten.

 

Illustre Verwandtschaft

Unter den Akten befinden sich Grundbücher und Prästationstabellen (Verzeichnisse von Steuer- und Abgabenleistungen der bäuerlichen Bevölkerung) der Ortschaft Aweyden aus dem 19. Jahrhundert. Des Weiteren größere Aktensammlungen des Heroldsamts zu einem Zweig meiner Familie, der Anfang des 19. Jahrhunderts aus Ostpreußen nach Berlin zog und Unmengen an Schriftverkehr zwischen Ämtern, einem Herzog und verschiedenen europäischen Behörden produzierte – alles feinsäuberlich abgeheftet und dokumentiert. Dreh- und Angelpunkt der Schriftwechsel waren fast ausschließlich das unrechtmäßige Führen von gekauften Adelstiteln – damals eine Straftat in Preußen. Die Schreiben zwischen den verschiedenen Behörden lesen sich wie ein Kriminalroman – nur das Verbrechen wirkt aus heutiger Sicht absurd. Eine direkte Verwandtschaft zu diesem illustren Zweig der Familie, nach dem im Berliner Bezirk Pankow eine Straße benannt ist, konnte ich in meiner oberflächlichen Suche nicht herausfinden. Spannend war die Lektüre der mit geschwungener Feder verfassten Briefen mit dicken Herzogssiegeln und Behördenpost im Schreibmaschinen-Stakkato trotzdem.

Abbildung eines farbenprächtigen Wappens mit Ritterhelmen
Illustration des Wappens der Familie Killisch von Horn zu Reuthen in den Akten des Heroldsamts. Foto: SPK / Killisch
ein aufgefaltetes, leicht vergilbtes Papier
Stammtafel der Berliner Familie Killisch von Horn in den Akten des Heroldsamts. Foto: SPK / Killisch
Einband eines alten Buchs, viele Notizen dadrauf
Aktensammlung des Heroldsamts zur Familie Killisch (1855-1920). Foto: SPK / Killisch
Collage aus Auszügen eines Briefs mit Siegel
Brief Ernst II. (Sachsen-Coburg und Gotha), in dem er der Verwendung des "von" zustimmt. Das galt aber nur für das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha, nicht aber für Preußen. Grafik: SPK / Killisch
Brief, abgeheftet auf altem Papier
Brief des Justizministeriums an das Amtsgericht Schöneberg aus dem Jahre 1920, in dem der Namensänderung eines Steuersekretärs Oskar Killisch in "Killisch von Winterfeld" durch Adoption abgelehnt wird. Foto: SPK / Killisch
ein alter Brief, abgeheftet in einem Buch
Ein überaus höflich formulierte Bitte um Auskunft über die Familie Killisch von Horn an das "hochwohllöbliche kaiserliche Heroldsamt". Foto: SPK / Killisch
Einband eines Buchs
Einband der Grundbücher des Kreises Sensburg (enthält u. a. das Dorf Aweyden, Beginn des 19. Jahrhunderts). Foto: SPK / Killisch
weißes Siegel auf vergilbtem Papier
Siegel der königlich-preußischen Regierung in dem Grundbuch des Dorfs Aweyden (Anfang 19. Jahrhundert) aus den Beständen der XX. Hauptabteilung des Historischen Staatsarchivs Königsberg. Foto: SPK / Killisch

Nur der Anfang

In den Grundbüchern und Prästationstabellen aus Aweyden stoße ich außerdem auf meinen Ur-Ur-Urgroßvater. Neben Einträgen zur Größe seines Grundbesitzes finde ich auf den ersten Blick leider nur wenig biografische Informationen. Gleichzeitig offenbart sich mir ein weiteres Hindernis: die Entzifferung der damals gebräuchlichen Kurrentschrift. Und so verfliegt die Zeit im Lesesaal schnell. Ich fotografiere fleißig für spätere Recherche- und Entzifferungsversuche und stehe am Ende mit über 400 Fotos von Akten, reichlich Notizen und dem motivierenden Gefühl da, nur an der Oberfläche gekratzt zu haben. Familienforschung ist ein zeitintensives Hobby, aber es gibt kaum ein spannenderes, detektivmäßigeres. Der Forschungssaal des GStA PK ist ein produktiver Ort, an dem man ungestört dieser Passion nachgehen kann und gleichzeitig das Gefühl vermittelt bekommt, der großen Geschichte auf der Spur zu sein. Für mich persönlich ist diese Recherche nur der Anfang.


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