Portrait eines Mannes der durch runterhängende Textbögen guckt

Von einem, der auszog, mehr über die Urfassungen zu lernenGrimm-Forscher Holger Ehrhardt im Interview

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Holger Ehrhardt ist Germanistik-Professor mit dem Lehr- und Forschungsschwerpunkt „Werk und Wirkung der Brüder Grimm“ an der Universität Kassel. Dabei bringen ihn seine Forschungen immer wieder nach Berlin, denn hier befindet sich der Nachlass der beiden Märchengrößen Jacob und Wilhelm Grimm. Im Interview verrät Ehrhardt, der 2023 den Europäischen Märchenpreis verliehen bekam, was ihn an Grimms Märchen fasziniert und warum noch längst nicht alles über die geheimnisvollen Urfassungen der Erzählungen bekannt ist.

Ölgemälde zweier älterer Herren

Die beiden Brüder Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) waren Deutschlands berühmteste Märchen- und Sagensammler.

Doppelporträt von Elisabeth Jerichau-Baumann aus dem Jahr 1855. Foto: bpk / Nationalgalerie, SMB / Andres Kilger

Zunächst einmal bemerkenswert, dass es in Kassel so eine spezialisierte Professur gibt. Wie sind Sie dort gelandet?

Holger Ehrhardt: In Kassel haben die Brüder Grimm lange Jahre gewirkt und die Stadt fühlt sich diesem Erbe sehr verbunden. Irgendwann hat eine bürgerschaftliche Initiative beschlossen, eine Stiftungsprofessur zu schaffen – die ich dann antrat. Diese wurde verstetigt und so bin ich jetzt an der Uni Kassel ganz normal in das Institut für Germanistik inkorporiert.

 

Was fasziniert Sie an den Brüdern Grimm?

Ich kam vor vielen Jahren zufällig zu dem Thema, wie das halt so ist in der Forschung. Aber mein Großvater hieß Grimm, meine Mutter ist eine geborene Grimm. Das mag vielleicht unterbewusst auch dazu beigetragen haben.

 

Gibt es da eine verwandtschaftliche Beziehung?

Nein, das habe ich natürlich schon überprüft (lacht). Aber mein Großvater las mir stets die Märchen vor und hat mir auch erzählt, er sei mit den Brüdern Grimm verwandt. Schon als Kind habe ich dann irgendwann selbst erkannt, dass das nicht stimmen konnte. Trotzdem ist da eine besondere Verbindung. Im Germanistikstudium bin ich dann wieder bei den Grimms gelandet.

reichthaltig illustriertes Titelblatt eines Buches
Titelblatt der Kleinen Ausgabe der "Kinder- und Hausmärchen" (1833).
Foto: bpk
Illustration, welche eine Hexe und zwei kleine Kinder zeigt
Illustration zum Märchen "Hänsel und Gretel" um 1950.
Foto: bpk / Dietmar Katz
Illustration einer fliehenden jungen Frau vor einer Treppe
Edmond Dulac: Aschenputtel flieht barfuß aus dem Schloss (um 1910).
Foto: bpk / Kunstbibliothek, SMB / Knud Petersen
Bild einer jungen Frau die Heu schleppt zu einem hämisch grinsenden älteren Mann
Illustration zum Märchen "Rumpelstilzchen".
Foto: bpk / Dietmar Katz

Sie haben intensiv im schriftlichen Nachlass der Brüder in Berlin recherchiert. Was macht Berlin so wichtig für die Grimm-Forschung?

Der schriftliche Nachlass der Brüder Grimm kam an die Staatsbibliothek zu Berlin bzw. deren Vorläuferin, die Königliche Bibliothek (die Grimms verbrachten ihre letzten Lebensjahre in Berlin und sind auch hier bestattet, Anm. der Redaktion). Die private Handbibliothek der beiden wurde von der Berliner Universität übernommen und gehört heute zum Bestand der Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. Auch in Kassel und Marburg befinden sich Teile des Grimm’schen Nachlasses, aber der Großteil ist in Berlin. Und wenn man zu den Märchen der Grimms forscht, kommt man an diesem Nachlass nicht vorbei. Dort liegen viele Handschriften, die die Vorläufer der Märchen darstellen – auch (teilweise) nicht publizierte Märchenvorlagen. Und um die geht es in meinem Forschungsprojekt. Ich versuche alle handschriftlichen Vorfassungen der späteren Druckfassungen zusammenzustellen. Etwa die Hälfte davon ist noch nicht veröffentlicht.

 

Wie gehen Sie dabei vor?

Ich habe mich in den letzten Jahren intensiv mit den sogenannten Beiträger*innen befasst – also diejenigen Personen, die den Grimms Märchen und Sagen zusandten. Dabei untersuche ich unter anderem auch die Handschriften. Die Handschrift ist ein individuelles Merkmal und speichert viele Signale. Sie sagt mir, wer hat was geschrieben oder sogar, wann etwas geschrieben wurde – anhand der Veränderungen einer Handschrift. Es ist eine sehr spannende, aber auch eine sehr komplexe Arbeit, diese Texte von unterschiedlichen Schreiber*innen mit variierenden Bildungsgraden mit einem einheitlichen Ansatz zu edieren.

Die Urfassungen spiegeln über 40 Jahre Entwicklungsgeschichte der Kinder- und Hausmärchen wider. Teilweise muss ich Texte mit sehr komplizierten Verfahren verifizieren, z.B. mit der sogenannten Textkritik von Lachmann. Ich muss prüfen, ob die Texte wirklich Urfassungen sind oder ob sich die gedruckten Fassungen nicht doch noch auf andere Quellen berufen, und versuche dann, das in der Gesamtheit so zusammenzutragen. Deswegen nehme ich mir jetzt ein Forschungssemester und werde wieder nach Berlin kommen, um an diesem Korpus weiterzuarbeiten.

Schwarz-weiß Fotografie der Brüder Grimm
Daguerrotypie von Jacob und Wilhelm Grimm aus dem Jahr 1847.
Foto: bpk / Hermann Biow
Schwarz-weiß Foto von Gräbern auf einem Friedhof
Die Grabstätte der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm sowie der beiden Söhne von Wilhelm auf dem St-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg.
Foto: bpk / Liselotte und Armin Orgel-Köhne
Portrait eines Mannes der durch lange Papierbögen guckt
Grimm-Forscher Holger Ehrhardt.
Foto: Andreas Fischer

Wieso müssen Sie dafür extra nach Berlin reisen? Viele der Nachlassdokumente sind doch inzwischen digitalisiert.

Es ist für mich essentiell, vor Ort zu sein und Handschriften in die Hand zu nehmen. Dabei vermesse ich die Handschriften. Ich muss unter anderem auch Papierqualität und Wasserzeichen bestimmen. All diese Merkmale helfen mir, die Dokumente zeitlich zu bestimmen, denn die liegen ja nicht irgendwo geordnet an einer Stelle im Nachlass, sondern verstreut an verschiedenen Orten. Ich kann so über die Materialqualität Schlussfolgerungen über die zeitliche Einordnung der Texte ziehen.

Zum anderen muss ich diese Texte noch einmal Korrektur lesen – auch wenn es hochauflösende Digitalisate gibt. Sie gewähren z.B. nie sicheren Aufschluss über Satzzeichen: „Ist das dort ein Komma oder nicht?“ Dafür muss man vor Ort sein. Für die Edition, an der ich arbeite, muss ich vielleicht 300 bis 400 Seiten Handschriften noch einmal kollationieren (eine Abschrift/Text mit der Urschrift/Textvorlage prüfend vergleichen, Anm. der Redaktion). Das konnte ich als junger Mensch viel besser als jetzt. Jede*r kennt den Effekt: Man sieht ein Wort und erkennt es, ohne es genau gelesen zu haben. Und das darf mir nicht passieren beim Kollationieren! Ich muss jeden einzelnen Buchstaben erfassen und vergleichen. Das ist eine hoch anstrengende Arbeit, bei der ich mich sich sehr konzentrieren muss.

 

Welche unterschiedlichen Urfassungen der Märchen gibt es?

Die meisten Dokumente sind Handschriften von Beiträger*innen, die postalisch oder persönlich zu den Grimms gelangten. Dann gibt es aber auch die Mitschriften. Die Brüder Grimm haben sich Märchen angehört und parallel mitgeschrieben. Das sieht man am Duktus und an der Schnelligkeit ihrer Schrift.

Gelegentlich haben wir nicht nur mündliche, sondern auch schriftliche Beiträge – also in der Literatur bereits abgedruckte Märchen, die eine Vorlage für die Kinder- und Hausmärchen sind. Auch da ist bisher noch nicht alles gefunden. Beispielsweise war ich vor einigen Tagen in Hildburghausen und habe ein Buch abfotografiert, das nur einmal auf der Welt existiert, um festzustellen, ob die Abschrift aus dem Nachlass auf dieses Buch zurückgeht. So komme ich in Deutschland ganz schön herum als Grimm-Forscher!

Das Märchen schwirrte jahrhundertelang irgendwo im Äther umher und landete schließlich bei den Grimms

Eine der bekanntesten Beiträgerinnen war die Märchenerzählerin Dorothea Viehmann. Was haben Sie über sie herausgefunden?

Bis heute weiß man von 37 Märchen, die sie erzählt hat. Die Grimms haben damals sofort erkannt, dass sie eine Ausnahmeerzählerin vor sich hatten. Trotzdem sind ihre Märchen heute nicht die populärsten. Die Gänsemagd ist vielleicht noch das bekannteste. Aber sie hat sehr gute Märchen erzählt und wir verdanken ihr wirklich einen Großteil der Geschichten des zweiten Bandes. Sie hat einen gewissen Ton gesetzt, eine sehr schöne Märchensprache. Zu ihr gibt es noch viel zu erforschen. Ich kann schon einmal verraten, dass es im Nachlass noch weitere Geschichten von ihr gibt, die bisher nicht veröffentlicht sind.

 

Was waren denn die überraschendsten Erkenntnisse aus ihren bisherigen Forschungen im Nachlass?

Zum einen, dass das Märchen Die weiße und die schwarze Braut von Dorothea Viehmann stammt. Das habe ich anhand sprachlicher Indizien festgestellt. Bisher wurde dieses Märchen in der Fachliteratur als Beitrag aus Mecklenburg und Paderborn angesehen. Aber das kann nicht stimmen. Man kann mit einer Vielzahl von Indizien zeigen, dass das Märchen von Dorothea Viehmann erzählt worden ist.

Ich habe auch noch eine weitere Handschrift gefunden, in der ein sehr altes Märchen erzählt wird, das es vorher nur als mittelhochdeutsches Gedicht gab. Das Gedicht ist 400 Jahre alt und es gibt danach keine weitere schriftliche Fixierung! Das ist total faszinierend: Sie erzählt Geschichten, die sie nicht gelesen haben kann. Es wird ja gerne behauptet, dass Märchen nur aus anderen literarischen Quellen schöpfen. Aber hier schwirrte ein Märchen jahrhundertelang irgendwo im Äther umher und landete schließlich bei den Grimms. Sie waren es, die viele solcher Geschichten zuerst gesammelt und zusammengetragen haben.

Zeichnung einer älteren Frau, am Tisch sitzend, lächelnd
Dorothea Viehmann (1755 - 1815) war Marktfrau und legendäre Märchenerzählerin. Zeichnung von Ludwig Emil Grimm, dem jüngeren Bruder von Jacob und Wilhelm, aus dem Jahr 1814.
Foto: bpk
Litografie mit zwei jungen Personen in einer grünen Kulturlandschaft
Illustration zum Märchen "Die Gänsemagd" nach einer Zeichnung von Ludwig Emil Grimm, um 1840.
Foto: bpk
Holzstich einer Gruppe Menschen in einem Raum, die einer Frau gebannt zuhören
Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm bei der Märchenerzählerin Dorothea Viehmann in Niederzwehren (aus Die Gartenlaube 1892).
Foto: bpk / Museum Europäischer Kulturen, SMB / Michael Mohr

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