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ForschungsFRAGEN: Haute Couture im Wollwaschgang

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Fast Fashion im Museum? Politische Statements auf dem Shirt? Plastik im Pullover? Kunsthistorikerin Katrin Lindemann vom Kunstgewerbemuseum beantwortet hier Ihre Fragen rund um Mode.

Kunsthistorikerin und Damenschneiderin Katrin Lindemann betreut die Sammlung Mode, Textil und Schmuck am Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin. Am liebsten schaut sie sich den Aufbau der Couturekleider, ihre Schnitte und Materialien ganz genau an, aber auch Flachware, z.B. historische Stoffstücke aus der Vorbildersammlung, liegen ihr sehr am Herzen. Derzeit beschäftigt sie sich mit neuen (digitalen) Vermittlungsformen von Mode.

Frau Lindemann, wieso zeigt man eigentlich Mode im Museum? Wie entscheiden Sie, was sammlungswürdig ist? Nur Haute Couture oder auch ein T-Shirt vom H&M?

Katrin Lindemann: Mode zu sammeln ist tatsächlich eine recht junge Disziplin in Deutschland. Während die Vorgängerinstitution unseres Museums, die Vorbildersammlung der Kunstgewerbeschule bereits ab den 1860er Jahren große Mengen an sogenannter Flachware, zweidimensionale Stoffstücke aus sämtlichen Kulturkreisen, zur Inspiration von Entwerfern gesammelt hat, war Kleidung immer eher Beiwerk, zusätzliche Objekte, die mit anderen Gattungen in größeren Konvoluten an das Haus kamen. Erst in den 1980er Jahren begann die damalige Direktorin damit, Modeausstellungen zu zeigen und damit auch Mode gezielt zu sammeln.

Durch Mode erfährt man auf vielfältige Weise etwas über die Zeit, in der sie hergestellt wurde, über die Designer*innen, über die*den Träger*in, über Herstellungstechniken, Tragepraktiken, Körpermodifikationen, Materialien… Man kann sogar sagen, Mode ist Kulturgut. Denken Sie nur mal an Ihre Jugend: Welche Musik haben Sie gehört? Haben Sie sich einer bestimmten Gruppe zugehörig gefühlt und dies in Ihrer Kleidung ausgedrückt? Waren Sie auf Bällen, in der Oper und haben sich dafür ein ganz besonderes Kleidungsstück zugelegt? Unsere Modegalerie ist bestückt mit Mode, die genau solche Geschichten erzählt. Von Frauen , die über den Atlantik reisten, nur um sich von namhaften Pariser Designer*innen für die nächsten gesellschaftlichen Anlässe ausstatten zu lassen. Oder von Männern, deren paillettenbestickte Anzüge  durch die zahlreichen Kerzen, die den Raum erhellten, beim Tanz zu glitzern begannen.

Ballkleid auf Schneiderpuppe
Das Ballkleid aus rosa Seidentaft von Cristóbal Balenciaga wurde 1955 individuell für die amerikanische Society Lady Elizabeth Parke Firestone gefertigt. Während der 1950er Jahre galt sie als eine der „Best Dressed Women in the World“. Paris, 1955. Foto: SMB, Kunstgewerbemuseum / Stephan Klonk
Samtanzug auf Schneiderpuppe
Der dreiteilige grüne Samtanzug ist vollständig mit versilberten Metallpailletten bestickt und wurde vermutlich bei einem Empfang am Französischen Hof getragen. Frankreich, um 1785. Foto: SMB, Kunstgewerbemuseum / Stephan Klonk

Als Kunstgewerbemuseum betrachten wir Mode aber nicht nur als zeitgeistiges Relikt, sondern schauen auch darauf, wer sie gemacht hat, welche Designidee hinter dem Kleidungsstück steht, welche handwerklichen Techniken das Stück zu einem außergewöhnlichen Teil machen.

Alles das sind – neben dem Erhaltungszustand – Aspekte, die bei der Entscheidung, was in die Sammlung aufgenommen wird, berücksichtigt werden. Heute übernehmen Fast Fashion-Retailer wie H&M, Zara oder Shein diese Ideen und setzen sie mit vereinfachten Schnitten, günstigen Materialen und schlechten Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeitenden manchmal sogar schneller um, als die Mode der Couturehäuser in den Läden hängt. Aus diesen Gründen haben wir es uns zum Ziel gemacht, die Designidee vielmehr als die Kopie zu sammeln. Dennoch befinden sich auch Stücke von H&M in unserer Sammlung. So besitzen wir Teile aus den Kooperationen zwischen Couturehäusern mit Modeunternehmen, wie Versace for H&M oder aus der Kooperation von H&M mit Alber Elbaz und Lanvin. Es wird also bei jedem Schenkungsangebot individuell abgewogen, ob und wie es in unsere Sammlung passt.

ForschungsFRAGEN

Wie restauriert man eigentlich Papier? Woran erkennt man, ob ein Gemälde echt ist? Und wie spielt man denn nun Beethoven richtig? Mit den ForschungsFRAGEN geben wir Ihnen die Gelegenheit, uns Ihre Fragen zu stellen. In jeder Ausgabe des Forschungsnewsletters beantwortet ein*e Wissenschaftler*in aus der SPK ausgewählte Fragen aus der Community zu einem speziellen Thema.

Wie bilden sich gesellschaftliche Phänomene oder Diskurse in der Mode ab?

Katrin Lindemann: Vielen Dank für diese vielschichtige Frage, mit der sich Forschende vermehrt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen und seitdem zahlreiche Publikationen dazu erschienen sind.

Der deutsche Soziologe und Philosoph Georg Simmel (1858-1918) erarbeitete dazu in seiner „Philosophie der Mode“ von 1905 die Entstehung und Verbreitung von Mode und damit die zentralen Antriebskräfte dieses Modeprozesses heraus. Er formuliert darin das dualistische Prinzip der Differenzierung und Nachahmung. Daraus resultierte das später sogenannte Trickle-Down-Prinzip, was zum Verständnis des Modeprozesses als zyklische Bewegung führte. In seinem Essay beschreibt er die Verbreitung von Mode, die sich in Form einer tröpfchenweise erst schichten- und dann stände-übergreifenden Abwärtsbewegung vollzieht. Die Differenzierung richte sich dabei immer gegen die eigene und die nächst niedere soziale Stufe und die Nachahmung immer an die eigene und an die nächst höhere. In dem Moment jedoch, in dem die modische Person nicht mehr in ihrer Vorreiterposition alleine ist, sondern ihr modisches Verhalten von ihrem Umfeld kopiert wird, entwickelt sie abermals das Bedürfnis, ihre Individualität durch Differenzierung Ausdruck zu geben, und beginnt damit einen neuen Zyklus.

Deutlich wird dabei, dass Kleidung, egal in welcher Gesellschaftsschicht, als ein Medium verstanden wird, über das sich Menschen ausdrücken und – bewusst oder unbewusst – mit ihrer Umwelt kommunizieren und interagieren. Bevor jedoch modische Kleidung getragen werden kann, muss es jemanden geben, der sie entwirft und produziert. Charles Frederick Worth war der erste, den man nach der heutigen Begriffsdefinition als Designer bezeichnen kann. Mitte des 19. Jahrhunderts entwarf er Mode, die zweimal jährlich an lebenden Models in einer Präsentation vor einem Publikum gezeigt wurde – ein System, das uns heute völlig selbstverständlich vorkommt, damals aber eine absolute Innovation war und zur Begründung der Haute Couture beitrug. Zusätzlich kennzeichnete er seine Entwürfe mit einem kleinen Schildchen, heute Label genannt, auf dem sein Name eingestickt war und damit seine Autorenschaft kennzeichnet.

Seine Inspiration fand er – genauso wie es auch heute noch Designer*innen tun, in der Kunst und Kultur, auf Reisen, im Austausch mit anderen Menschen, in der Auseinandersetzung mit der Geschichte – sprich, auch anhand gesellschaftlicher Fragestellungen und Problemen. Ein bekanntes Beispiel ist dafür der von Christian Dior entworfene „New Look“. Der von einer amerikanischen Zeitschrift formulierte Begriff definiert das Innovative, das Dior seiner Mode nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren mitgab: Eine Fülle an Stoff an den weit schwingenden Röcken, eine Akzentuierung der Körperformen durch die runden Schultern, der Betonung des Busens und das Einschnüren der Taille. Die Gesellschaft der Nachkriegszeit besann sich zurück auf konservative Werte, die Aufgabe der Frauen waren oftmals beschränkt auf häusliche Aufgaben. Hatte man seit den 1920er Jahren geglaubt, dies bereits überwunden zu haben, war die Rolle der Frau nun wieder klar definiert, was sich auch in den betont zugeknöpften Modeentwürfen dieser Zeit wiederspiegelt.

In den 1960er Jahren begann sich die von Simmel geprägte Trickle-Down-Theorie umzuwandeln in einen Trickle-Up-Effekt, der besagt, dass neue Modeströmungen aus der Unterschicht bzw. Subkulturen kommen und sich vertikal über die Mittelschicht nach oben bis hin zur Oberschicht ausbreiten. Besonders deutlich wird dies in der Punkbewegung der 1970er Jahre. Punk entstand als eine Reaktion auf das, was in der Gesellschaft vor sich ging. Die Punk-Generation schuf sich eine eigene theatralische Kleiderordnung, aber vor allem ging es um politischen Protest. Man positionierte sich politisch links, Anarchie war das Stichwort der Stunde. Die frühen Punks adaptierten dafür Alltagskleidung und modifizierten sie. Zerrissene Kleidung wurde mit Sicherheitsnadeln oder mit Tape zusammengehalten, ganz normale Kleidung wurde bemalt, klassische Tartanmuster umgewidmet, Müllbeutel wurden als Kleider, Shirt oder Rock getragen, Sicherheitsnadeln oder Rasierklingen dienten als Schmuck. Daneben waren die bevorzugten Materialien Leder, Gummi oder Vinyl, die damals eher mit Fetisch-Praktiken in Verbindung gebracht wurden. Vivienne Westwood, selbst seit den 1970ern Punk und Besitzerin des Fetischladens „SEX“ auf der Londoner Kings Road, adaptierte wiederum die Kleidercodes dieser Subkultur und brachte sie auf den Laufsteg. Auf diese Weise wurden aus System- und Kapitalismuskritik in Form zerrissener Kleidung und Sicherheitsnadeln das, was Designer als „Signature Piece" bezeichnen würden und im Fall von Westwood schließlich als Couture verkauft wurde.

Der aktuelle Zeitgeist fordert ein starkes, weibliches Selbstverständnis – eine gesellschaftliche Entwicklung, die zuletzt sehr schnell von den Couture-Modehäusern aufgegriffen wurde: Während Chanel mit einer Fake-Feminismus-Demo am Ende seiner F/S 2015-Präsentation für Irritationen sorgte („Be your own stylist“; „Vote Coco“ oder „Boys Should Get Pregnant Too”), griff die Idee eines Logo-Shirts mit einem „We should  all be feminist“-Aufdruck in der F/S 2017 von DIOR diesen gesellschaftspolitischen Diskurs auf und brachte damit etwas Ernsthaftigkeit in die Debatte ein. Als erste Frau an der Spitze der französischen Luxusmarke bot Maria Grazia Chiuri in ihrer Debutkollektion erstmals T-Shirts mit politischer Botschaft an – wo sonst das weibliche Bild der 1950er Jahre konserviert worden war. Die damit ausgelöste Trendwelle war der Startpunkt, dass sich auch andere Modelabels nun erstmalig gesellschaftspolitisch äußerten.

Warum ist heute alles aus Plastik?

Katrin Lindemann: Ich verstehe die Kritik, die hinter Ihrer Frage nach Plastik steht, aber tatsächlich ist die Entwicklung von „Plastik“ oder wie man im Fachjargon sagen würde „Synthetische Garne“ oder „Chemiefasern“ auch ein Fortschritt hin zur Demokratisierung von Mode. Wurden zuvor hauptsächlich Naturfasern auf Basis von Cellulose (z.B. Baumwolle) oder Eiweißen (z.B. Wolle) zu Garnen, Geweben und diese dann zu Kleidung verarbeitet, entstehen mit der Erfindung von synthetischen Filamentgarnen in den 1930er Jahren ganz neue Möglichkeiten, kostengünstig und massenhaft Stoffe für die Bekleidungsindustrie herzustellen. Vielleicht kennen Sie den Begriff der „Kunstseide“, der in dieser Zeit entstand und einen aus synthetischen Garnen hergestellten Stoff beschreibt, der die Optik und Haptik von Naturseide nachahmt, dabei aber viel praktischere Eigenschaften, wie z.B. Lichtechtheit, Knitterarmut und vor allem eine bessere Waschbarkeit aufweist. Sie wissen schon: Vergessen Sie nie den Wollwaschgang bei Ihrem Lieblingswollpulli einzustellen, sonst ist er hinterher fünf Nummern kleiner!

Die Entwicklung synthetischer Fasern setzte sich in den kommenden Jahren erfolgreich fort und Materialien, wie Polyester, Acryl, Microfasern entstanden, die noch heute in vielen Bereichen des Lebens, nicht nur in der Mode, Anwendung finden. Die Preisgünstigkeit der Herstellung von synthetischen Fasern und die Unabhängigkeit von äußeren Umständen, wie die Wetterbedingung beim Wachstum der Baumwollpflanze oder einer erfolgreichen Aufzucht von Schafen, waren und sind natürlich zwei der Hauptargumente für das Verwenden solcher Materialien für Fast Fashion-Kleidungstücke von Unternehmen, wie z.B. H&M oder Primark. Ich möchte Sie jedoch anhalten, einmal genauer hinzusehen. Mittlerweile gibt es viele Unternehmen, die ganz genau auf faire Produktionsbedingungen achten und wieder vermehrt (natürliche) Materialien verwenden, die weniger schädlich für die Umwelt sind. Schauen wir wieder mehr auf die Qualität anstatt auf die Quantität von Mode, haben wir länger etwas davon und können auf diese Weise – zumindest in unserer Kleidung – auf Plastik verzichten. Ein Tipp zum Schluss: Schauen Sie sich immer das Etikett im Kleidungsstück an, das verrät Ihnen die Zusammensetzung des Materials und Sie können leichter eine Entscheidung treffen.

Personen beugen sich über ein rotes Kleid

Zusammen mit Studierenden der Burg Giebichenstein bespricht die Kuratorin Katrin Lindemann (2.v.r.) den Schnitt, das Material und die Verarbeitung des fuchsiafarbenen Abendkleides von Cristóbal Balenciaga aus dem Jahr 1965.

Foto: SMB, Kunstgewerbemuseum / Katrin Lindemann

Was ist Ihre Prophezeiung: Was werden wir in 50 Jahren tragen? Und welches Kleidungsstück steht ihrer Meinung nach symbolisch für das 21. Jahrhundert?

Katrin Lindemann: Eine interessante erste Frage, aber wenn ich sie beantworten könnte, wäre ich Trendforscherin geworden und keine Mode- und Textilhistorikerin. Ich beschäftige mich eher mit der Frage, was wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen können. Und da müssen wir gar nicht so weit zurückschauen. Viele unserer Großeltern, oder genauer, viele unserer Großmütter konnten noch selbst nähen, stricken, stopfen, häkeln, sticken – also all‘ diese handwerklichen Fertigkeiten, die die meisten von uns nicht mehr automatisch in der Familie gelernt haben. Was ich jedoch beobachte, ist, dass viele Menschen heute wieder ein großes Interesse an diesen Handwerkstechniken haben und sie erlernen möchten – gerade im Sinne der Nachhaltigkeit. Haben wir vor zehn Jahren vielleicht noch unseren Lieblingskaschmirpullover weggeworfen, nachdem wir zwei Verschleißlöcher daran entdeckt haben, geht heute der Trend dahin, solche Löcher wieder zu stopfen – aber bewusst sichtbar, z. B. in einem anderen Garnfarbton. Dieser Trend verbreitet sich vor allem über die sozialen Netzwerke und Workshops, in denen man diese „alten“ Handwerkstechniken erlernen kann, sind heiß begehrt. Dies passt natürlich auch damit zusammen, dass gerade Secondhandmode boomt und viele junge Menschen aus einer inneren Überzeugung diesen nachhaltigen Konsum favorisieren. Aber machen wir uns nichts vor, Mode und ihre modischen, zeittypischen Phänomene werden nicht verschwinden. Und so muss ich es den Trendforschern überlassen, vorauszusagen was wir in 50 Jahren tragen werden. Aber ihre Frage geht ja noch weiter: Das 21. Jahrhundert ist noch nicht so alt und dennoch ist es schwierig nur ein typisches Kleidungsstück auszuwählen. Ich denke, auch hier wird es die Zukunft zeigen, wie im Rückblick diese Zeit beurteilt wird. Aber würden Sie mich fragen, welches Kleidungsstück typisch für die letzten drei Jahre war, wäre es definitiv der Jogginganzug – denn in dieser Zeit hatten wir schließlich alle für ein paar Momente, frei nach Karl Lagerfeld, die Kontrolle über unsere Leben verloren.


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