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Geniale Erfinderinnen

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Ein Projekt zu den Patentakten im Geheimen Staatsarchiv bringt es ans Licht: Neue Musikinstrumente wurden im 19. Jahrhundert auch von großartigen Frauen entwickelt.

Das ist vielleicht die größte Entdeckung, die Christina Dörfling bisher gemacht hat: dass es nicht nur Männer waren, die in Preußen Musikinstrumente erfanden und zum Patent anmeldeten, sondern auch Frauen. „Es gab auch schon im 19. Jahrhundert großartige Erfinderinnen. Das zu sehen ist wirklich wunderbar“, sagt Dörfling. Seit Herbst vergangenen Jahres forscht sie über Patente zum Musikinstrumentenbau in Preußen, genau gesagt über jene, die im Geheimen Staatsarchiv vorhanden sind – 92 Stück aus den Jahren 1815 bis 1877. Dörfling, eine Musikwissenschaftlerin, prüft dort die Unterlagen, die Beschreibungen und Zeichnungen, die Gutachten der Technischen Deputation für Gewerbe, die Bescheide des Ministeriums. Und hat inzwischen festgestellt: Nicht nur so manches Instrument ist über die Jahre in Vergessenheit geraten, sondern auch so manche Erfinderin, Unternehmerin und Instrumentenbauerin.

Da ist zum Beispiel Christine Pietschmann, die nach dem Tod ihres Mannes 1866 Inhaberin der Harmonie- und Leierkasten-Fabrik „Ch. F. Pietschmann“ wurde – einer Berliner Firma mit mehr als 150 Arbeitern. 65.000 Akkordeons und Harmoniums verkauften ihre rund 80 Vertriebsmitarbeiter allein im Jahr 1871, bis nach Übersee, nach Amerika. Immer weiter entwickelten Christine Pietschmann und ihre Söhne Carl und Ferdinand die Instrumente. Einmal schalteten sie Anzeigen in Zeitschriften und Illustrierten, um ein „neu erfundenes, in allen Ländern patentiertes Salon-Musikinstrument mit orgelähnlichen, harmonischen Tönen“ auf den Markt zu bringen, das – man lese und staune – „in einer Stunde zu erlernen und mit nur einem Knopf zu spielen“ sei. Der klingende Name des innovativen Leierkastens: „Seraphon“. Die potentiellen Kunden: musikalisch wenig gebildete Amateure. Am 21.1.1877 erhielten „die Herren Ch. F. Pietschmann und Söhne“ dafür ein dreijähriges Patent. Dass hier eine Frau mit am Werk war, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Christiane Pietschmann taucht mit ihrem Namen in den Akten nicht auf.

Alte Zeitungsanzeige mit einer Abbildung des Seraphons
Die historische Werbeanzeige zum Seraphon von 1877 vermittelt einen Eindruck, wie das im Patent beschriebene Instrument baulich tatsächlich realisiert wurde. Abbildung: Land und Meer deutsche illustrierte Zeitung. 38 1877 Jg.19 50
Patentzeichnung mit sechs verschiedenen Ansichten des Seraphons
Patentzeichnung zur Beschreibung des Seraphons, auf das die Berliner Firma Ch. F. Pietschmann & Söhne am 21.1.1877 ein preußisches Patent erhielt. Abbildung: GStA PK I HA Rep 120 TD Patente Schriften Nr P 96 0006

Es war die Zeit, in der das aufstrebende Preußen alles daransetzte, um mit anderen Staaten mit zu halten, industriell und technologisch, vor allem mit Großbritannien. Gefragt war der eigenverantwortliche Unternehmer, der kreative Ingenieur. Ihnen gewährte der Staat Schutzrechte – darunter auch für die Erfindung von Musikinstrumenten. Die Patentprüfungen waren aufwendig, zuständig war die Technische Deputation für Gewerbe in der Berliner Klosterstraße, seit 1819 geleitet von dem berühmten Peter Beuth, dem „Vater der preußischen Gewerbeförderung“. Zwischen Patentbefürwortern und Patentgegnern ging es hin und her, jahrelang wurde debattiert: Wie streng darf ein Patent sein, damit es den Gewerbefleiß nicht drosselt, sondern anregt? Mit dem deutschen Patentgesetz 1877 wurde der Streit entschieden. Die Patentbefürworter hatten gewonnen.

Niemand kann das besser erklären als Christiane Brandt-Salloum, Archivarin am Geheimen Staatsarchiv. Vor einigen Jahren hat sie in der Kunstbibliothek am Kulturforum eine große Ausstellung organisiert, zu den Anfängen Preußens als Industriestaat. „Ein wohl definierter Patentschutz kann den Aufschwung der Wirtschaft beflügeln“, sagt Brandt-Salloum. Patentiert wurden verbesserte Dampfmaschinen und Eisenbahnen, aber auch medizinische Geräte oder so banale Dinge wie Nähnadeln. Immerhin rund 2,4 Prozent der überlieferten Patentschriften beziehen sich auf Musikinstrumente. Die Nachfrage danach stieg ständig. Denn musiziert wurde längst nicht mehr nur beim Militär, in Kirchen und am Hofe, sondern vor allen in bürgerlichen Haushalten. Der gebildete Bürger machte Hausmusik, am liebsten mit Klavier oder Violine.

Die Prüfverfahren für die Patente aber waren streng. „Das führte dazu, dass den meisten Patentgesuchen nicht stattgegeben wurde“, sagt Brandt-Salloum. Als Beispiel nennt sie den Fall Friederike Kummer, einer tüchtigen Geschäftsfrau, die gemeinsam mit ihrem Vater, einem Walzensetzer, eine Walzenorgel erfunden hatte. Gedacht hatten die beiden das Instrument vor allem für arme Kirchengemeinden auf dem Land, die sich keinen Organisten leisten konnten. Einen ersten Antrag lehnte das Department für Handel und Gewerbe lapidar und ohne Prüfung ab. Als der Vater dann starb, erneuerte Friederike Kummer das Patentgesuch, reichte auch eine genaue Beschreibung ein - allerdings wieder ohne Erfolg, schließlich, so wurde ihr beschieden, sei ihre Erfindung weder „neu“ noch „eigentümlich“, zwei wichtige Kriterien für die Patentfähigkeit. Friederike Kummer aber ließ sich nicht unterkriegen: Als sie auf dem vorgegebenen Verwaltungsweg nicht weiterkam, wandte sie sich an den Kultusminister. In den Zeitungen wurde ihre Erfindung positiv besprochen, offenbar auf ihre Initiative.

Flügelmechanik auf einem Tisch, daneben auf dem Laptopbildschirm die dazugehörige Zeichnung
Ein Glücksfall, wenn Patent und Objekt zusammenkommen. Zu den Patentschriften des Berliner Klavierbauers Theodor Stöcker gibt es zwei Flügel und zwei Mechanikmodelle im MIM, die einen Vergleich von Objekt und Zeichnung ermöglichen. Foto: Christian Breternitz, SIM-PK
Karteikarte aus dem Zettelkasten, handschriftlich ist unter anderem zu lesen: "Pietschmann"
Im riesigen Zettelkasten des Musikinstrumenten-Museums, der sogenannten Ernst-Kartei, finden sich einige wenige Hinweise zur in Vergessenheit geratenen Firma „Ch. F. Pietschmann & Söhne. Abbildung: Ernst-Kartei, Musikinstrumenten-Museum, SIM-PK

Es sind Geschichten wie diese, die die Dokumente im Geheimen Staatsarchiv erzählen, Geschichten über die Vielfalt der Musikkultur des 19. Jahrhunderts. Christina Dörfling setzt die Puzzleteile zusammen, wertet sie aus, sichtet die Digitalisate, die bisher in diesem – vom BKM geförderten – Projekt entstanden sind und die im Laufe des Jahres öffentlich zugänglich gemacht werden sollen. Patente nicht nur als juristische, sondern auch als technikhistorische Quellen – das ist es, was sie fasziniert. Technik und Akustik, Ästhetik und Musikgeschichte kommen dabei zusammen, weshalb sie ihre Arbeit als Einladung an andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen verstanden wissen will, sich gemeinsam mit Patenten auseinanderzusetzen. Und weshalb sie so sehr von der Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Institut für Musikforschung (SIM) schwärmt, dem Partner des Projekts, von dem engen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen dort.

Denn so geht Christina Dörfling vor: Nachdem sie ein Patent im Geheimen Staatsarchiv gelesen hat, wendet sie sich an das SIM, an Kurator Christian Breternitz und Archivarin Claudia Wache: Was lässt sich in der SIM-Datenbank zu dem beschriebenen Instrument finden, und was im dem zweistöckigen SIM-Zettelkasten? Begeistert erzählt Dörfling von Birgit Asmus, Kollegin in der SIM-Bibliothek, die stets gute Recherchetipps habe und sogar einen Artikel über das Seraphon der Christine Pietschmann in einem amerikanischen Fachjournal fand. Die Zusammenarbeit von GStA und SIM bringt großen Mehrwert:  So gibt es im Musikinstrumenten-Museum sogar vier Objekte, deren Verwaltungsunterlagen eins zu eins im Staatsarchiv zu finden sind: zwei Flügel des Klavierbauers Theodor Stöcker, eine Basstuba und ein sogenanntes Bathyphon.

Quellen und Objekte, Technik- und Musikgeschichte kommen zusammen: Ein ganz neuer Forschungsraum eröffnet sich. Und starke Frauen gehören dazu. Eine von ihnen hat Christina Dörfling besonders beeindruckt: Caroline Wiseneder. Denn sie ist die einzige, die im gesamten Bestand der Patentakten zu Musikinstrumenten völlig eigenständig und mit Klarnamen als Erfinderin auftritt. Caroline Wiseneder stammte aus Braunschweig, sie war Komponistin und vor allem: Reform-Pädagogin. Nach dem Vorbild Friedrich Fröbels gründete sie einen „Musikalischen Kindergarten“ und eine Musikschule. Caroline Wiseneder entwickelte eine besondere Notenschrift, um Kinder möglichst leicht und niederschwellig an die Musik heranzuführen. Sie wollte die Noten für die Kinder haptisch erfahrbar machen, sie sollten die Noten legen und greifen. Für diese „Bewegliche Notenschrift“ erteilte ihr die herzogliche Regierung in Hannover 1868 ein Patent auf fünf Jahre. Die preußische Verwaltung in Berlin aber lehnte ihren Antrag wenig später ab. Formal war das wohl ganz korrekt, meint Christina Dörfling. Es könnte aber auch sein, dass Caroline Wiseneder ihrer Zeit einfach voraus war. Und die weibliche Innovationskraft unterschätzt wurde.


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