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Im Wald der Magaziner

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Pack‘ die Negative ein und dann raus zum Müggelsee: Im ehemaligen Sommerfrischeort Friedrichshagen wächst die Speicherstadt der SPK – ein Rundgang

 

Über lange, begrünte Alleen fahren wir aus dem Stadtzentrum von Berlin heraus. Immer gen Osten, in Richtung Müggelsee. Kurz bevor wir diesen legendären wie historischen Sommerfrischeort erreichen, biegen wir in einen kleinen, scheinbaren Wald ab - so lang, bis eine Schranke erscheint. Daneben ein kleines Wärterhäuschen, das Besonderes ankündigt.

Wir sind in Friedrichshagen, einem der ruhigsten Stadtteile des sonst so quirligen und steinernen Berlins. Ein Zipfel Geistesgeschichte zudem. Im bürgerlichen Südosten war schon immer Kunst und Literatur zu Hause. Der Friedrichshagener Dichterkreis der Naturalisten um Wilhelm Bölsche und Bruno Wille zog um 1890 Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler, Bohemiens und Anarchisten samt Sympathisanten aus ganz Europa an, Reformbewegungen wie die Freie Volksbühne oder die Gartenstadtbewegung entstanden hier. Zu DDR-Zeiten kannte Friedrichshagen Bewohner wie den Schriftsteller Johannes Bobrowski oder die Schauspielerfamilie Haußmann.

Gebäudefassade hinter Bäumen
Speicherstadt der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. © SPK / photothek / Kira Hofmann
Blick in einen Lichthof mit blauer Verzierung an den Wänden
Besonders strahlt der Winter-Hof im Sonnenlicht. © SPK / photothek / Kira Hofmann
Blick in ein modernes Treppenhaus
Blick ins Treppenhaus. © SPK / photothek / Kira Hofmann
Büroansicht mit großen Fenstern, Sicht auf einen Innehof
Raumansicht Friedrichshagen. © SPK / photothek / Kira Hofmann

Friedrichshagen, das ist große Stadtgeschichte und das sind Geschichten, die hier auch ganz professionell aufbewahrt werden. Hinter hohen Bäumen und Büschen liegt eine Schatzkammer des Wissens: die Speicherstadt der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Hinter den Mauern dieses Kolosses, die von weitem zunächst unscheinbar wirken, aber aus der Nähe verspielte Fassadenmuster aufweisen, verbergen sich mehr als 5,5 Millionen Bände der Staatsbibliothek zu Berlin und mehr als 12 Millionen Fotos der Bildagentur bpk in vier Sektoren, die das Gebäude strukturieren.

126 Meter lang, 68 Meter breit, 13 Meter hoch und vier Etagen umfassend ist der massive und gleichzeitig so leichtfüßige Gebäuderiegel mit einer Nutzfläche von 21.200 m². Das Grundstück ist eine Bundesliegenschaft. Bereits zu DDR-Zeiten befanden sich hier wissenschaftliche Einrichtungen. In den 1950er Jahren kam hier das Amt für Standardisierung, Mess- und Regelwesen unter. Die Geschichte der heutigen Speicherstadt beginnt 2014 mit dem ersten Magazinneubau des Architekten Eberhard Wimmer. In den oberen Räumlichkeiten sind es vor allem die Fotografien, die von der bpk-Bildagentur aufbewahrt werden und die, wenn man die mehr als hundert Meter langen Gänge des Magazins durchschreitet und sie betrachtet, Geschichten über diese Stadt, dieses Land und die Welt erzählen.

Schwerpunkt der Sammlung, die deutschlandweit einzigartig ist, ist die überregionale Presse- und Dokumentarfilmfotografie von 1850 bis 1990. In großen Regalen, in Schachteln und Alben, befinden sich beispielsweise die Aufnahmen von Friedrich Seidenstücker dem legendären Porträtisten der Weimarer Republik – sie zeigen den Luna-Park im Sommer, den Verkehr des Potsdamer Platzes, den Alexanderplatz im stetigen Umbau, Menschen, die tanzen, betteln, lachen und weinen.

Rote Transportboxen auf einem Rollband, dahinter Archivregale
Schatzkammer des Wissens: die Speicherstadt der SPK. © SPK / photothek / Kira Hofmann
Eine Person mit weißen Handschuhen zeigt ein handgeschriebenes Buch
Einblick in den Bestand. © SPK / photothek / Kira Hofmann
Rote Schachteln in einem Metallregal
In knallroten AGFA-Schachteln werden Fotoabzüge aus Nachlässen westdeutscher Pressefotograf*innen gelagert. © SPK / photothek / Kira Hofmann
Eine Frau steht zwischen zwei Regalen mit Archivalien
Christina Stehr, die stellvertretende Leiterin und Referatsleitung Archiv der bpk-Bildagentur. © SPK / photothek / Kira Hofmann
Eine Person mit weißen Handschuhen zeigt eine Schwarz-Weiß-Fotografie
Einblick in den Bestand. © SPK / photothek / Kira Hofmann
Tisch mit Arbeitsutensilien eines Archivs
Arbeitsmaterial in Friedrichshagen. © SPK / photothek / Kira Hofmann

Alles hier ist nach dem Provenienzprinzip geordnet, sagt Christina Stehr, die stellvertretende Leiterin und Referatsleitung Archiv der bpk-Bildagentur. Das heißt, die Fotografien verbleiben in ihren Nachlässen und werden so auch in den Regalen verwahrt. Gerade erst wurde der Nachlass von Kurt Röhrig, Mitinhaber der Agentur „Dr. Paul Wolff & Tritschler“, mit über 200.000 Negativen an die bpk übergeben. Kurz zuvor gingen die Aufnahmen aus der DDR von Gert Koshofer in Form von 5000 Farbdias in den Bestand des Speichermagazins über.

All diese Fotografien sind Symbole für die rasende und vibrierende Zeitungsstadt Berlin und ihre mannigfaltige Presselandschaft, die besonders in den Zwanzigerjahren und in der Zeit nach dem Krieg in Ost wie West ihren Höhepunkt fand. Ein anderes Highlight dieses fotografischen Archivs ist die umfassende Sammlung der Carte de Visite. Fotografien auf Karton, die ab 1860 populär wurden und wesentlich zur Verbreitung der Fotografie beitrugen. Dazwischen lagern Reisefotografien aus ehemaligen deutschen Kolonien, man sieht Stereofotografien der internationalen Hoffotografen, das Archiv des Verlags Volk und Welt aus den dreißiger Jahren und den Bestand des Interflug-Luftbildarchivs. Eindrücklich sind auch die Kriegsfotoalben, die im Ersten Weltkrieg entstanden und vom Leid ebenso zeugen, wie von der Kameradschaft der Soldaten untereinander und dem kargen Leben an der Front.

Während Fotoabzüge aus Nachlässen westdeutscher Pressefotografen zum Teil noch in knallroten AGFA-Schachteln gelagert werden, die den metallenen Regalriegeln eine farbige Komponente geben, sind viele andere Nachlässe schon aufgearbeitet und umgelagert. Die Bilder und Negative sind dann in konservatorisch geeignete säurefreie Kartons verpackt, die ihnen Langlebigkeit ermöglichen sollen. Die fachgerechte Lagerung ist ein wichtiger Bestandteil im Aufbereitungs- und Sicherungsprozess der fotografischen Bestände, die umfassend digitalisiert werden. Neben der Betreuung und Erschließung der umfangreichen fotografischen Sammlung betreibt die bpk das „Bildportal der Kultureinrichtungen“ für hochwertige digitale Abbildungen von Kunstwerken und Sammlungsgegenständen führender Kunstmuseen weltweit. Die bpk ist darüber hinaus als zentraler Mediendienstleister der Stiftung Preußischer Kulturbesitz tätig.

Doch nicht nur Fotografien lagern in den langen Korridoren des Wissensspeichers. Über das lichtdurchflutete Foyer und die weißen Treppen geht es eine Etage tiefer. Mit einer Schlüsselkarte öffnet Anja Trautmann, die Magazinleiterin in Friedrichshagen, die massiven Portale, die in eine noch viel größere und verwinkelte Welt der Gänge führen – die Lager der Staatsbibliothek zu Berlin, die hier weite Teile ihrer Buch- und Schriftenbestände aufbewahrt. Die langen Regalreihen sind mit unterschiedlichen Farben markiert, damit sich die Magazinmitarbeiterinnen und -mitarbeiter orientieren können, was die Buchdeckel und -rücken angeht.

Ein zentraler Bestandteil der Magazinarchitektur sind vier Lichthöfe, die für die unterschiedlichen Jahreszeiten stehen: Frühling, Sommer, Herbst und Winter, und die dementsprechend mit verschiedenen Wandfarben, Strukturapplikationen und Bodenbelägen verziert sind. Besonders strahlt der Winter-Hof im Sonnenlicht, denn seine Wände sind weiß und nur von kleinen, blauen Linien überzogen, die fast ein wenig an die bayrische Flagge erinnern.

Grün hingegen ist der Frühlings-Hof mit gelben Verzierungen. Die Wände des Buchlagers bestehen aus Beton, um das Klima stabil zu halten. Und was ebenso auffällt ist, dass durch die Lichthöfe alle Magazingänge vom Tageslicht beschienen werden. Besonders gesund und gut sei das für die Magaziner, wie Anja Trautmann die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier nennt.

Lichtdurchfluteter Innenhof mit grün verzierter Wand
Zentraler Bestandteil der Magazinarchitektur: vier Lichthöfe. © SPK / photothek / Kira Hofmann
Betonarchitektur, Treppenhaus mit Oberlichtern
Lichtdurchfluteter Flur. © SPK / photothek / Kira Hofmann

Die Verbesserung der Arbeitsprozesse und -bedingungen sei ein wichtiger Grundbaustein des Entwurfs gewesen, sagt sie. Und genau das sei auch gelungen. Die silbernen Kompaktregalanlagen seien hochmodern, ebenso die Buchtransportanlagen, die die Bände wie bei einem Bücherlift durch die vier Etagen transportieren können. Doch besonders gut gefalle ihr die Außengestaltung des Gebäudes. „Eben die Fassade, die eigentlich verspielter ist, als es auf den ersten Blick scheint“, sagt sie.

Die geschliffenen Natursteinplatten aus brasilianischem Gneis ragen mal mehr, mal weniger hervor. Die Betonblöcke weisen eine in der Höhe variierende Struktur auf, die an gestapelte Dokumente oder Bücher denken lässt. Besonders im Sonnenlicht reflektiert diese Struktur und formt ein Spiel aus Licht und Schatten. So entstehen aus verschiedenen Blickwinkeln Überlagerungen, Vor- und Rücksprünge. Das Haus mit der Natursteinfassade hat zudem ein begrüntes Dach und sogar Nistplätze für Fledermäuse, die hier, im Wald von Friedrichshagen, allgegenwärtig sind. Im Magazin selbst wurden sie noch nicht gesichtet, sagt Anja Trautmann, doch für die Natur in der Umgebung des Magazins seien die kleinen Nachtwesen wichtig.

Wieder geht es über die langen Gänge nach draußen in das Foyer, wo auffällt, das auch der Eingang des Gebäudes ganz besonders ist. Frau Trautmann beschreibt das Portal als einen „Verschlussstein“, wie bei einer ägyptischen oder antiken Schatzkammer. „Genau das richtige für die wertvollen Inhalte, die hier zu finden sind“. Auch der Eingang zeigt, dass hinter den scheinbar leblosen Mauern viel Geschichte verborgen ist.

Und bald wird dieses Labyrinth der gesammelten Schätze noch größer werden, durch einen klassisch-modernen Ergänzungsbau, der die SPK nach außen und institutionell noch stärker in Friedrichshagen repräsentieren wird. Erst vor wenigen Wochen fand das Richtfest für das Gebäude statt, in dem ab 2025 auch die Sammlungen der Staatlichen Museen untergebracht werden sollen, darunter kostbare Kunstwerke aus der Neuen Nationalgalerie, der Alten Nationalgalerie, aus dem Kunstgewerbemuseum oder dem Vorderasiatischen Museum, auf über 13.500 Quadratmeter Nutzungsfläche im ersten Bauabschnitt. Mit der Fertigstellung soll hier noch stärker restauriert und geforscht werden. Ein wichtiges Signal für Friedrichshagen. Das Denken, Philosophieren und Recherchieren wird dieses kleine Stück Stadt auch in Zukunft prägen.

Und das Magazin Friedrichshagen wird weiter wachsen und weiter befüllt. Denn eins ist ganz klar: die langen Gänge von Friedrichshagen gehören zu den wichtigsten kulturhistorischen Herzkammern von Berlin.


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