So etwas gab es noch nie: Kultureinrichtungen kämpften mit den Folgen der Pandemie, gleichzeitig hatten sie existenzielle Fragen zu beantworten: SPK-Präsident Hermann Parzinger hat die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar, Ulrike Lorenz, zum Gespräch eingeladen. Ihr Blick geht in eine veränderte Kulturwelt.
Wie haben Sie dieses Krisenjahr 2020 erlebt? Was hat es für Ihre Einrichtung bedeutet?
Lorenz: Anders als geplant. Da ist das bittere Erlebnis geschlossener Häuser, aber auch die positive Erfahrung, dass unsere Träger zu uns stehen. Und gleichzeitig sind wir mit einer möglichen Bedeutungsrelativierung des Kultursektors konfrontiert. Wenn wir über Zukunft reden, heißt das auch uns zu prüfen: Liegen wir noch richtig?
Ulrike Lorenz, Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar, Foto: Candy Welz, © Klassik Stiftung Weimar / Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. © SPK / Herlinde Kölbl
Meinen Sie mit Bedeutungsverlust, dass die Kultureinrichtungen bei den Lockdowns nicht anders behandelt worden sind, als Spaßbäder und Nagelstudios?
Lorenz: Das hat uns alle irritiert. Das war eine Unvorsichtigkeit, die später korrigiert wurde. In der zweiten Phase hat die Politik sehr viel achtsamer und vorsichtiger reagiert. Gesellschaftlich stellt sich die Frage, wie wir mit globalen Krisen generell umgehen. Sind wir umsichtig, reflektiert und besonnen genug, mit dem Virus zu leben, ohne gleich komplette Cluster abzuschalten?
Parzinger: Als das Krisenjahr begann, hatte ich zufällig über die Spanische Grippe gelesen. Was bedeutete sie für die Welt von damals? Eine ohnehin ausgemergelte Bevölkerung am Ende des Ersten Weltkrieges erlebte eine globale Pandemie, die zwischen 50 und 100 Millionen Tote gefordert haben soll. Dass wir nun plötzlich vor einer neuen Pandemie stehen, die wir nur deshalb eindämmen können, weil wir ganz andere Möglichkeiten haben als damals, das war schon eine erschreckende Erkenntnis. Jetzt stellt sich gerade die Frage: Wie geht es mit dieser Pandemie weiter? Wie ist es mit dem Impfen? Stehen uns solche Pandemien öfter bevor?
Wir können für die Menschen eine ganze Menge bieten als Ort des Ausgleichs des Trostes, der Vergewisserung.
Wir leben mit der Unsicherheit. Klar, wir haben gelernt, Häuser zu öffnen und zu schließen. Es bleibt die Irritation, dass wir in guten Zeiten als Bildungseinrichtung hochgelobt werden, aber in der Krise als verzichtbarer Freizeitveranstalter gelten. Ich bin froh, dass jetzt auch in der Politik erkannt wird, dass Museen pandemiegerecht arbeiten und Besucherströme relativ gut steuern können. In der ersten Öffnung zwischen den beiden Lockdowns haben wir übrigens gesehen, wie stark das Interesse der Menschen war, wieder in Museen zu gehen. Das hat mich schon beruhigt. Wir können für die Menschen eine ganze Menge bieten als Ort des Ausgleichs, des Trostes, der Vergewisserung. Das ist eine ganz wichtige Funktion, die die Museen möglichst schnell wieder übernehmen sollten.
Hatte die Pandemie denn auch gute Seiten? Man war ja gezwungen, relativ schnell zu reagieren, Besucher*innen mit alternativen Angeboten zu erreichen, vor allem digital. Ist es da wirklich ordentlich vorangegangen?
Lorenz: Ich kann das für die Klassik Stiftung mit Fug und Recht behaupten. Wir waren schon vorher dabei, getrennte Digitalisierungsschienen zu bündeln. Jetzt ist es unser Ziel, den historischen Großzusammenhang sammlungs- und institutionsübergreifend virtuell wiederherzustellen, Synergien zu ziehen und atemberaubende Horizonte für unser Publikum aufzureißen. Das hat durch die Krise einen enormen Schub bekommen.
Parzinger: Wie alle großen Kultureinrichtungen haben auch wir virtuelle Rundgänge und digitale Angebote in den Museen und den Bibliotheken hochgefahren. Überrascht hat mich der Erfindungsreichtum. Kurator*innen haben virtuelle Führungen mit ihrem Smartphone aufgenommen. Wir haben gemerkt, dass das unglaublich gut angenommen wird, weil es so lebendig ist. Jetzt gibt es Führungen am Telefon. Da laufen Mitarbeiter*innen durchs Museum und versuchen, lebendig zu beschreiben, was andere nicht sehen können. Es muss nicht alles 100% perfekt sein, aber die ganze Empathie gegenüber den Sammlungen wird spürbar, das schätzen die Menschen. Bemerkenswert war auch die Solidarität. Zu Beginn des ersten Lockdowns haben Restaurator*innen Schutzmasken und Schutzanzüge an die Kassenärztliche Vereinigung gespendet, weil es zu wenig Schutzmaterial gab. Andere in der SPK haben Gruppen organisiert, um Schutzmasken zu nähen. Das empfand ich als ein ganz wichtiges Zeichen des Zusammenstehens.
Lorenz: Eine Zukunftsaufgabe wird die krisensichere Bildungsarbeit bleiben. Hier lassen sich neue, digitale, interaktive Formate denken, auch hybride Modelle: ein Scout zeigt seiner Klasse, vielleicht in Frankreich, in Amerika, was er gerade in Goethes Wohnhaus erlebt – live und mit der Möglichkeit, dass seine Leute mitagieren können. Wir haben da gerade ein Forschungsprojekt mit der Bauhaus Universität am Wickel – noch ein Geheimnis.
Parzinger: Beim Projekt museum4punkt0, das deutschlandweit Museen unterschiedlicher Sparten zusammenbindet und das nun gerade von BKM verlängert wurde, geht es ja auch um digitale Vermittlungsangebote. Vielleicht muss man da auch hybride Formate mitdenken. Zu den positiven Erfahrungen in der Pandemie gehört aber auch die finanzielle Unterstützung durch unsere Träger bei den Einnahmeausfällen. Und noch etwas: Wir sind ja öffentlich-rechtliche Einrichtungen, in gewisser Weise Behörden, und gelten als schwerfällig und wenig flexibel. Sicher ist da auch was dran. Wenn ich dann aber höre, dass die großen Museen in den USA während der Pandemie große Teile ihres Personals entlassen mussten, dann schneidet unser „alteuropäisches“ System gar nicht so schlecht ab, es ist krisenfester. Ich sage das auch deshalb, weil ja bei jeder Gelegenheit der Glamour der anglo-amerikanischen Museumswelt gepriesen wird. Alles hat seinen Preis und jedes System seine Stärken und seine Schwächen.
Herr Parzinger, für Sie war das ja eigentlich ein doppeltes Krisenjahr – auf der einen Seite die Pandemie, auf der anderen das Gutachten des Wissenschaftsrats im Sommer, das ein ziemliches Erdbeben ausgelöst hat. Nicht nur wegen der Aussage, die Stiftung sei dysfunktional und müsse aufgelöst werden, sondern es ging ja auch um die Verfasstheit, die Entflechtung der Bund-Länder-Strukturen. Wie sind Sie damit umgegangen? Ist die SPK reformierbar?
Parzinger: Natürlich war das erstmal ein Erdbeben. Auch dadurch, dass das Papier noch vor der offiziellen Bekanntgabe in die Medien durchgestochen wurde: 2000 Mitarbeiter*innen lesen plötzlich im Nachrichten-Ticker, dass ihr Arbeitgeber aufgelöst werden soll. Das war natürlich sehr unschön. Dennoch sehe ich das Papier auch als Chance. Der Wissenschaftsrat, und das ist das Widersprüchliche, hat ja die SPK gar nicht so stark kritisiert. Die Arbeit wird gelobt, die SPK habe Großes geleistet bei der Wiedervereinigung der Sammlungen und der Sanierung der historischen Häuser. Wenn bis auf die Staatlichen Museen alle anderen Einrichtungen im Prinzip Bestnoten bekommen, kann das Dach so dysfunktional auch nicht sein. Wie in der Wirtschaft ist es so, dass sich große Unternehmen von Zeit zu Zeit neu aufstellen müssen. Der Reformprozess, der jetzt in Gang gekommen ist, stimmt mich hoffnungsvoll. Und er kommt eben von uns selbst. In der Strategiekommission werden endlich die Dinge angesprochen, die schon längst hätten thematisiert werden müssen. Die Direktor*innen der Staatlichen Museen, die Abteilungsleiter* innen in der Staatsbibliothek, alle organisieren sich, adressieren Dinge, die verändert werden sollen. Mein Vorvorgänger Werner Knopp hat einmal gesagt: Nur, was sich verändert, bleibt. Wir wollen mehr Autonomie für die Einrichtungen. Die fachliche haben sie sowieso, sie sollen aber auch mehr wirtschaftliche Autonomie bekommen.
Da sind wir intern in einem sehr guten Diskussionsprozess darüber, welche Aufgaben ein Dach übernehmen soll, wie eine zeitgemäße Governance-Struktur in den Einrichtungen und in der ganzen SPK aussehen sollte. Wir hoffen natürlich auch, dass unsere Träger das ernst nehmen, was der Wissenschaftsrat zur Unterausstattung der SPK bei Personal und Finanzen festgestellt hat. Gerade bei Digitalisierung oder Provenienzforschung läuft vieles nur mit Drittmitteln. Diese Dinge müssen wir aber nachhaltiger aufsetzen. Kurzum: Natürlich ist die SPK reformierbar. Spartenübergreifend zu arbeiten ist doch die Zukunft. Es wäre ein ziemlicher Rückschritt, die Sparten wieder wie im 19. Jahrhundert auseinander zu sortieren. Das hat auch unser Gesamtbeirat sehr deutlich gemacht.
Frau Lorenz, die Klassik-Stiftung Weimar hat die Evaluation hinter sich. Sie sagen immer, der Wandel gehört zum Alltag. Welchen Wert hat denn ihrer Meinung nach ein Verbund aus Archiven, Bibliotheken, Museen in der heutigen Zeit? Und welche Chance haben diese Verbünde, die ja von der einen Seite immer als so schwerfällige Tanker bezeichnet und von der anderen als Netzwerke mit ungeahnten Möglichkeiten beschrieben werden, in Zukunft?
Lorenz: Die Chance, aber auch die Last liegt in der Komplexität. Wenn wir uns fit für die Zukunft machen wollen, müssen wir den Beweis antreten, dass Verbünde mehr sind als die Summe ihrer Teile. Wir sind ja beide Schirmorganisationen, wo Untermarken stärker sind, als die Dachmarke. Das ist ein Spannungsfeld, mit dem man produktiv umgehen muss.
Es gilt, Komplexität als Rohstoff für Information, Intelligenz und Innovation zu begreifen. Ich glaube absolut, dass es zeitgemäß ist, kulturelle und intellektuelle Ressourcen, letztere verkörpern unsere Teams, zu bündeln und auf gesellschaftliche Wirksamkeit auszurichten. Da sind wir in Weimar im Vorteil. Rund 400 Mitarbeiter*innen kann man gerade noch auf ein übergreifendes Ziel hin orientieren. Das 19. Jahrhundert hat den Zusammenhang auseinanderdefiniert. Heute rotieren die Systeme Archiv, Bibliothek, Museum in starker Eigenlogik, die sich selbst perpetuiert und auch leerlaufen kann. In der persönlichen Verantwortung für langfristige Entwicklungsperspektiven müssen die Präsidenten diese Eigenlogiken hinterfragen. Es kann nicht sein, dass jede Institution nur in ihre Richtung denkt. So verliert das starke kulturhistorische und ideengeschichtliche Wurzelgeflecht Weimar, auf das wir uns so gern berufen, an (Über-)Lebensenergie. Ja, wir müssen uns wie Unternehmer um das große Ganze kümmern. Das ist ein zäher Prozess, keine Frage. Aber es geht nicht um den nächsten Tag, es geht darum, was in hundert Jahren noch übrig sein wird. Da sind Fragen, die quer durch unsere Verbünde beantwortet werden müssen: Warum gibt es uns überhaupt? Was ist der Sinn des Ganzen? Lohnt sich der Aufwand? Damit kommt dann rasch Unruhe auf, die kreatives Denken fördert. Das brauchen wir auch, wenn wir mehr liefern wollen, als von uns erwartet wird.
Parzinger: Die Frage nach den Mehrwerten muss sich aus den Bedürfnissen der Einrichtungen speisen. Letztlich waren es die kultur-, wissenschafts- und gesellschaftspolitischen Aspekte unserer Arbeit, bei denen wir als Verbund stärker auftreten und mehr erreichen können. Als Beispiele würde ich Grundhaltungen zum Umgang mit Sammlungen aus kolonialen Kontexten oder Zukunftsthemen wie Nachhaltigkeit oder künstliche Intelligenz nennen. Da kann man gemeinsam mehr erreichen.
Es gilt, Komplexität als Rohstoff für Information, Intelligenz und Innovation zu begreifen.
Woran bemisst sich eigentlich der Erfolg einer Kultureinrichtung? Die Politik will steigende Besucherzahlen, Wissenschaftler wollen in der Forschung Spitze sein, andere schauen wiederum auf die Klickzahlen der digitalen Angebote. Was sind Ihre Parameter?
Lorenz: Es kommt auf die gesunde Mischung an. Wir sind große, komplexe Wissensorganisationen. Da ist Erfolg zunächst die normative Kraft, die wir entfalten können. Das geht natürlich nicht ohne Besucher*innen, ohne Klickzahlen, ohne Ruf, ohne Bekanntheit. Es muss auch klar werden, dass sich die Politik z.B. an uns wenden kann, wenn sie Fragen zum Zustand der Gesellschaft hat. Als Kultureinrichtungen leisten wir Sinnkonstruktion und können heutige Existenzfragen aus der geschichtlichen Tiefendimension reflektieren. Das strebe ich zumindest an. Klingt jetzt vielleicht etwas zu pathetisch, aber wir müssen eben auch groß denken, weil wir groß sind.
Parzinger: Ich würde die Erfolgsbemessung auch auf zwei Ebenen sehen: Bei Besuchszahlen, denn wenn keine Menschen kommen, macht man irgendetwas falsch. Aber auch bei der Drittmittelquote: Können sich die Mitarbeiter*innen mit interessanten Anträgen und überzeugenden Fragestellungen durchsetzen? Das unterstreicht die Relevanz unserer Forschung. Wir sind ja an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Forschung sowie Kunst und Kultur. Der größte Erfolg wäre für mich, wenn die Leute begreifen, dass Einrichtungen wie wir Antworten auf viele Frage haben. Dass wir zum Nachdenken anregen und auch neue Perspektiven auf die Probleme von heute anbieten können.
Der größte Erfolg wäre, wenn die Leute begreifen, dass Einrichtungen wie wir Antworten auf viele Fragen haben.
Lorenz: Wir sind für Distanz und Differenz gleichermaßen zuständig. Beides braucht Gesellschaft zur Selbstreflexion und um sich überhaupt weiterentwickeln zu können. Wir speichern diese ganzen Schätze, die wertvollen Handschriften und Bücher und Kunstwerke ja nur, damit sie zu irgendeinem Zeitpunkt erneut befragt werden können. Diese Quellen sind in ihrer Originalität, Materialität unverfügbar. Sie geben, wenn man sie aus verschiedenen Perspektiven befragt, immer wieder andere Antworten preis. Das ist in seiner schieren Unerschöpflichkeit etwas so Wunderbares, Großartiges. Daraus erwächst auch Stolz. Und Schlagkraft. Wir haben eine Mission!
Das Krisenjahr 2020 war ja auch das Jahr, in dem der Begriff „cancel culture“ erfunden wurde, der den Diskurs eröffnete, ob es wirklich so ist, dass Kultureinrichtungen das Sprechen verboten wird oder nicht. Dazu hatten Sie, Herr Parzinger, zu einer Veranstaltung in die Berliner Urania eingeladen. Sie waren dabei, Frau Lorenz. Gibt es diese „Cancel Culture“ wirklich und falls ja, welche Auswirkungen hat das auf Kultureinrichtungen?
Lorenz: Wir sind ja alle mehr oder weniger verblüfft, in welche Richtung sich die Gesellschaft und damit auch unsere liberale parlamentarische Demokratie bewegt, welchen Gefährdungen sie ausgesetzt ist. Das Ganze läuft auf eine fatale Zersplitterung hinaus, die große Auswirkungen auf unsere Arbeit hat. Es wird immer schwerer, sich auf einen kulturellen Konsens zu berufen oder einen Konsens herzustellen, der auf gemeinsamen Werten beruht und Orientierung bietet. Ich habe keine endgültigen Antworten darauf. Das ist eine wirkliche Herausforderung. Was wir allerdings tun können ist, Schutzräume für die kontroversen Diskurse der Gegenwart zu bieten. Unsere Institutionen als dritte Orte anzubieten, an denen etwas ausprobiert werden, wo man auch mal über die Stränge schlagen kann, ohne dass gleich eine ganze Gesellschaft in Revolution ausbricht.
Parzinger: Unsere Gesellschaft ist ein stückweit weniger tolerant und weniger respektvoll geworden. Unterschiedliche Positionen zu haben und aushalten zu können, das scheint irgendwie schwieriger zu werden, es gibt weniger Toleranz gegenüber anderen Haltungen. Wir merken das auch im Umgang mit bestimmten Sammlungsbeständen. Stichwort kolonialer Kontext. Wir müssen versuchen, in unseren Räumen die Diskursfähigkeit zu erhalten. Damit meine ich nicht, dass wir nur den Zeitgeist bedienen sollten, das muss breiter angelegt sein. Wir leben in einer stärker polarisierten Welt. Wenn in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien Denkmäler vom Sockel geholt werden, braucht das doch eine Diskussion dazu. Wie stellen wir uns unserer Geschichte? Wie wollen wir auch mit schwierigen Themen umgehen? Es braucht auch die Zeit, gemeinsam mit unseren Partnern aus Herkunftsländern und Ursprungsgesellschaften die gemeinsame Geschichte aufzuarbeiten und Lösungswege zu entwickeln. Aber Manchen ist das immer zu langsam, zu wenig, zu spät.
Aber das wird ja wahrscheinlich auch sehr schwierig für Kultureinrichtungen. Sie haben gerade über die zersplitterte Gesellschaft gesprochen, Frau Lorenz, auch über die Gruppen, die sich zu lange drangsaliert und ausgegrenzt gefühlt haben und jetzt immer mehr nach vorne drängen, sich um ihre Rechte kümmern, die Darstellung ihrer Sichtweise. Wie kann man denn den musealen Konsens bewahren?
Lorenz: Konsens kann man sicher nicht in allen Fragen herstellen. Aber wir können Glaubwürdigkeit dadurch erringen, dass wir die eigene Position in diesen „Machtkämpfen“ markieren. Museen sind immer auch selber Akteure und Handlanger in dieser Geschichte von Marginalisierung, Verdrängung und Abwertung von Gruppen und Kulturen. Das muss man kenntlich und gleichzeitig deutlich machen, was unsere Position heute ist. Das wird kontrovers sein und muss zunächst auch innerhalb der Museumsteams ausgehandelt werden. Aber wir treten ja als Gedächtnisinstitutionen mit einer guten Mischung aus historischer Souveränität und Beweglichkeit auf. Wir wissen bestens, dass Geschichte Wandel ist. Die Gesellschaft ändert sich, wir ändern uns mit. Das macht die kuratorische Praxis politisch und porös. Dieses Selbstverständnis müssen wir von den Expert*innen in unseren Teams einfordern. Klar, die Antworten liegen nicht auf der Straße. Und Kontrollverlust kann anstrengend sein. Da muss auch ein anderer Zugang in der universitären Ausbildung gefunden werden. Es darf nicht mehr diese Differenz in den Berufsbildern der Vermittlungs- und Sammlungsverantwortung geben, sondern: die Kustod*in ist Vermittler*in ihrer eigenen Sache. Wer denn sonst?
Parzinger: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben einerseits die Kurator*innen, das sind die Wissenschaftler*innen. Und dann haben wir die Vermittler*innen, das sind Museolog*innen, die ganz anders eingruppiert werden. Wir müssen uns davon lösen, dass das Vermitteln als weniger bedeutsam und weniger wichtig betrachtet wird als das Erforschen eines Objekts.
Frau Lorenz, Sie haben gesagt, dass sich im Museumsbereich Revolutionen alle 50 Jahre ereignen. Erster Weltkrieg, 68, jetzt. Und sie meinten, dass wir unsere Elfenbeintürme verlassen sollten, die Hände aus den Taschen nehmen müssten und den Methodenkoffer erweitern. Wie soll das konkret gehen, was muss genau passieren?
Lorenz: Wir brauchen die nächste Museumsrevolution! Die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist der ökologische Gesellschaftswandel. Ich bereite mich gerade auf unser Themenjahr „Neue Natur“ vor. Ein erstes Mal rücken die historischen Parkanlagen in den Fokus. Das ist mit einer grundsätzlichen Öffnung verbunden. Wir bauen eine „fliegende“ Experimentalarchitektur mit Biomaterial aus dem Pflegekreislauf der Parks. Das Grüne Labor im Park an der Ilm ist Vermittlungsplattform, „Maker Space“ und Treffpunkt zum Abhängen. Also: Klassik Stiftung unter freiem Himmel – raus aus dem Elfenbeinturm, rein in die Gesellschaft. Wir wundern uns über den Nutzungsüberdruck; die Leute zerstören diese Parks. Aber kein Mensch sagt ihnen, warum sie einst angelegt wurden. Ich glaube, es braucht einen Perspektivwechsel in den Museen. Das gilt zumindest für die Klassik Stiftung.
Wir brauchen die nächste Museumsrevolution!
Der selbstvergessene Blick in die Vergangenheit ist zu hinterfragen. Weimar ist nicht nur Kulturhistorie, Weimar ist Konstruktion von Kultur. Was ist das überhaupt: Kultur, deutsche Kultur? Ein Narrativ, ein Phantasma? Auf jeden Fall war und ist es immer – ob Goethe, Bauhaus, Reformation oder heute – ein großes Experiment, oft auch gescheitert. Wir wollen also die Gesellschaft, die Außenwelt mit all ihren Existenzfragen ernst nehmen und sie zum Ausgangspunkt einer Neuperspektivierung unserer Vermittlungs- und Bewahrungsarbeit machen.
Ich weiß, dass Kulturinstitutionen auch im Fokus von Aggressionen stehen. Möglicherweise schwingt da im Hintergrund mit, dass Museen die längste Zeit ihrer Existenz die Anwälte der Herrschenden und einer Oberschicht gewesen sind. Daher gilt es sorgfältig und stetig daran zu arbeiten, dieses Bild zu ändern. Wir sind natürlich für alle da, aber wir tun nicht genug dafür. Allein in unsere Foyers einzutreten, ist für viele mit einem Akt der Selbstermutigung verbunden. Schwellen spielen immer noch eine große Rolle. Es ist unsere ganze Kreativität gefragt, dieses monolithische Image der Museen, dass nach wie vor da ist, zu öffnen und zu sagen: Leute, das ist alles komplexer und ihr könnt uns auch benutzen.
Parzinger: Teilhabe bedeutet ja nicht nur, dass wir Sammlungen aus aller Welt haben und Ursprungsgesellschaften miteinbeziehen, sondern, dass Bürger*innen wirklich mitmachen wollen. Das ist etwas, das wir im Forschungscampus Dahlem planen. Es ist uns ein wichtiges Anliegen, dort Formate zu entwickeln, die aktive Teilhabe ermöglichen. Teilhabe an Forschung, Sichtbarmachung von Forschung, erklären, wie Forschung funktioniert. Citizen Science ist eine ganz wichtige Aufgabe, die weit über Bildung und Vermittlung hinausgeht. Wir haben immer wieder so viele grundlegende Veränderungen, wahrscheinlich wissen wir erst im Rückblick in einigen Jahren, was das Revolutionäre an unserer Zeit war. Gewiss wird der „digital turn“, wenn ich das mal so nennen darf, das Prägende in unserer Zeit gewesen sein.
Ich glaube ferner, dass selbst nach der 68er-Revolte Museen nicht so in Frage gestellt waren wie heute, insbesondere bei Sammlungen aus kolonialen Kontexten. Museen müssen sich heute schon sehr viel vehement geäußerten kritischen Fragen stellen: Wie steht es mit der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, mit NS-Raubkunst bis hin zum Kolonialismus? Darin liegen aber auch Chancen, weil Museen dadurch relevanter für die Debatten in der Gesellschaft werden. Ich bin gespannt, wie man diesen Diskurs rückblickend in einigen Jahren oder Jahrzehnten betrachten und bewerten wird, wie folgenreich er gewesen sein wird.
Citizen Science ist eine ganz wichtige Aufgabe, die weit über Bildung und Vermittlung hinausgeht.
Frau Lorenz, was wünschen Sie der SPK, Herr Parzinger, was wünschen Sie der Klassik Stiftung?
Lorenz: Ich wünsche der SPK, dass sie mit der aktuellen, extrem herausfordernden Lage produktiv umgeht und bald wieder Herrin im eigenen Haus ist. Und dass jede Menge kreativer Ideen zur Bewältigung dieser Organisationskrise gemeinsam entwickelt und dann auch umgesetzt werden können.
Parzinger: ich wünsche, dass die Ansätze, die Sie in Gang gesetzt haben, sich gut weiterentwickeln. Die Klassik Stiftung wird ja immer mit der SPK verglichen, sie ist die zweitgrößte spartenübergreifende Kulturstiftung in Deutschland, und ich würde Ihnen wünschen, dass Ihre Veränderungen so erfolgreich sind, dass wir immer wieder gerne nach Weimar schauen. Vielleicht werden wir einmal sagen: Von Weimar lernen, heißt siegen lernen. Sie sind eine Art Laborsituation für uns, und da schaue ich mir gerne was ab.