Portrait eines älteren Mannes

„Für mich ist eine Einladungskarte genauso wichtig wie ein Max-Ernst-Bild“

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Sammler, Verleger, Mäzen – Egidio Marzona hat im Laufe seines Lebens viel für die Kunst geleistet. Zu seinem 80. Geburtstag würdigt ihn nun eine Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie – höchste Zeit für einen gratulativen Hausbesuch.

Ein herbstlicher Abend im ruhigen Berliner Westend: Wir klingeln bei Egidio Marzona. Mit schnellem Schritt öffnet er die Gartenpforte – die ikonische Pfeife fest umklammert. Er geleitet uns durch seine Bibliothek ins Wohnzimmer. Es ist alles so, wie man sich das Haus eines Kunstsammlers vorstellt: Bücher bis unter die Decke und natürlich viel Kunst. 80 Jahre alt ist er dieser Tage geworden, worum er kein Aufheben macht. Gleich geht es um seine vier Herzensprojekte: berlin modern, das Archiv der Avantgarden in Dresden, einen Skulpturenpark im italienischen Friaul und die Saalecker Designakademie. Doch wir wollen erstmal wissen: Woher kommt denn seine Passion für die Kunst?

„Meine Familie war eigentlich nicht sehr kunstaffin. Die haben nichts mit Kunst gemacht. Mein Vater hatte ein Betonwerk,“ erinnert sich Marzona. „Aber meine Tante studierte an der Kunstakademie in Düsseldorf und brachte eines Tages ihren Lover mit in die Familie – ein Rumäne, der zum Kreis Constantin Brâncuși‘s gehörte. Ein beeindruckender Mann, der herrlich Geschichten erzählen konnte. Er hat mich nachhaltig beeinflusst und mein Interesse für die Kunst geweckt.“

Sammler aus Leidenschaft

Egidio Marzona ist kein gewöhnlicher Kunstsammler. Seit den 1960er Jahren sammelt er und tritt auch als Verleger in Erscheinung. Früh interessierte er sich auch für Kunstströmungen abseits des Mainstreams: Konzeptkunst, Minimal Art, Land Art und Arte Povera. Sein Ziel war eine enzyklopädische Sammlung aller künstlerischen Medien dieser Strömungen.

In den 1960er Jahren erlebte Marzona auch einen, wie er sagt, „einschneidenden Paradigmenwechsel“: Das Buch etabliert sich als eigenständiges künstlerisches Medium. Während zuvor vor allem illustriert wurde, betrachtete man jetzt das Buch selbst als Kunstwerk. Die Künstler*innenbücher bilden auch den Mittelpunkt der Marzona-Ausstellung „The Very First Editions“in der Neuen Nationalgalerie. 80 First Editions von 80 Kunstschaffenden aus den 1960er- und 1970er-Jahre werden hier zum ersten Mal gezeigt. Schätze, die sonst nur in den Studiensälen der Kunstbibliothek zu sehen sind, können aus nächster Nähe bewundert und auch digital durchblättert werden. Marzona freut sich über die Schau zu seinem Geburtstag: „Man hätte da natürlich einen Richard Serra hinstellen können, um zu protzen. Aber mir lag dieses Projekt sehr am Herzen, weil ich es noch nie der Öffentlichkeit gezeigt habe. Diese Bücher sind faszinierende Kunstwerke!“

Aber dem Sammler geht es um mehr als das fertige „Endprodukt“: Schon immer interessierten ihn auch die Arbeits- und Schaffensprozesse der Künstler*innen. Er pflegte einen engen Draht zu ihnen, stand mit vielen persönlich im Kontakt. „Alles, was irgendwie im Umfeld dieser Kunstrichtungen passierte, hat mich interessiert und ich habe es gesammelt – von der Einladungskarte bis zum Plakat.“

Close-Up eines Mannes
Ausstellungsimpressionen: Stephen Kaltenbach, Eye Disguise, 1967, Collage aus s/w-Fotografien, © Stephen Kaltenbach / Foto: © Staatliche Museen zu Berlin, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart / Marcus Schneider
Neonschrift an einer Wand
Joseph Kosuth, A Four Colour Sentence, 1966, verschiedenfarbige Neonröhren, Elektrokabel und Transformator, © Joseph Kosuth / Foto: © Staatliche Museen zu Berlin, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart / Jens Ziehe / Courtesy Sprüth Magers
Foto eines Ausstellungsraums
Ausstellungsansicht: "The Very First Edition. Künstler*innenbücher aus der Sammlung Marzona", Neue Nationalgalerie, 2024, © Staatliche Museen zu Berlin / Jens Ziehe
Drei Männer stehen jeweils an einem Ausstellungssockel
Das legendäre Buchobjekt des amerikanischen Konzeptkünstlers Mel Bochner wird als Leihgabe aus dem Archiv der Avantgarden zum ersten Mal seit seiner ersten Präsentation 1966 in New York gezeigt. Mel Bochner, Working Drawings, Installationsansicht, New York 1966, © Mel Bochner und Peter Freeman, Inc. Foto: unbekannt
Foto eines Ausstellungsraums
Ausstellungsansicht: "The Very First Edition. Künstler*innenbücher aus der Sammlung Marzona", Neue Nationalgalerie, 2024, © Staatliche Museen zu Berlin / Jens Ziehe

Besonders beeinflusst hat ihn der Künstler und Galerist Konrad Fischer, mit dem Marzona eine tiefe Freundschaft verband. Ihm verdankt er auch die Idee für seinen Skulpturengarten im italienischen Friaul. Ein öffentlich zugänglicher Park auf dem Grundstück seiner Familie. Fischer besuchte Marzona dort des Öfteren „zum Pilzesammeln und Boulespielen“. Dabei kam er auf eine Idee, erinnert sich Marzona: „Egidio, Du hast hier ein riesiges Stück Land. Da musst Du was mit Kunst machen!“ Dann ging es Schlag auf Schlag: „Konrad rief Bruce Naumann an und drei Monate später hatte ich eine Pyramide, so groß wie ein dreistöckiges Haus, im Garten stehen.“ Marzona lächelt, zieht an seiner Pfeife und fügt hinzu: „Es gibt keinen Zaun, man kann den Park 24/7 besuchen – und trotzdem gab es noch nie Vandalismus.“

Ein demokratisches Archiv

Ein Muss für jede*n forschenden Kunstliebhaber*in ist auch das Archiv der Avantgarden, das in diesem Jahr im umgebauten Dresdner Blockhaus am Elbufer eröffnete. Über 1,5 Millionen Objekte aus Schenkungen Marzonas an die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden finden sich hier. Briefe, Kunstwerke, Designs, Publikationen und Plakate, Filme, Fotografien – ein Querschnitt avantgardistischer und utopistischer Strömungen des 20. Jahrhunderts.

Inspiriert von Hans Arps und El Lissitzkys „Die Kunstismen“ (1925) baute Marzona dieses diverse Archiv auf. „Es ist ja im Grunde ein Zeitbild des 20. Jahrhunderts. Das Archiv bezieht sich nur auf diesen Zeitausschnitt und die Kunstismen wie geometrischer Jugendstil, Futurismus, Expressionismus, Konstruktivismus, Surrealismus, Dada und bis in die Pop Art, Fluxus und so weiter.“ Wichtig ist Marzona, dass es in seinem Archiv keine festen Hierarchien gibt: „Für mich sind eine Einladungskarte, Brief oder Manuskript genauso wichtig wie ein frühes Max-Ernst-Bild,“ ergänzt er. „Es ist ein demokratisches Archiv und arbeitet gegen das existierende museale Prinzip von Hierarchie.“

Ich bemühe mich Vorbild zu sein

Egidio Marzona über seine Rolle als Kunstmäzen

Für den Sammler ist das „Archiv der Avantgarden“ in erster Linie ein Forschungszentrum: „Als junger Mensch war ich viel in den Vereinigten Staaten und war beeindruckt von der dortigen Wissensindustrie. Es ist toll, wie viel Materialien den Studierenden und Forschenden an Institutionen wie dem Getty zur Verfügung stehen. Das kannte ich aus Europa nicht.“ Für Marzona soll sein Archiv kein Gegenentwurf, sondern eine Ergänzung sein. Doch wie schafft man es, eine so große Sammlung zusammenzutragen? „Man muss fleißig und gut vernetzt sein,“ antwortet der Sammler mit einem Zwinkern.

Wunsch nach mehr Zusammenarbeit

Die durch Mäzenatentum großgewordenen US-amerikanischen Kunstinstitutionen haben den Sammler vermutlich auch anderweitig inspiriert: Seit vielen Jahren ist Egidio Marzona daran gelegen, dass seine Kunst der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Ein Großteil seiner Sammlung aus den 1960er- und 1970er-Jahre wurde in den Jahren 2002 und 2016 von den Staatlichen Museen zu Berlin erworben. Parallel ging das „Archiv der Avantgarden“ nach Dresden, verbunden mit dem großen Wunsch Marzonas, dass beide Institutionen künftig in der Erschließung eng zusammenarbeiten.

„Ich bemühe mich Vorbild zu sein, auch wenn ich keinen großen öffentlichen Dank ernte – wie wenn Günther Jauch ein paar 100.000 Euro für ein Türmchen in Potsdam spendet – da wird gejubelt.“ Die Ausstellung in Neuen Nationalgalerie ist für Marzona auch richtungsweisend hinsichtlich der Zusammenarbeit von Nationalgalerie, Kunstbibliothek und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Und so hat er auch große Hoffnungen für das im Bau befindliche berlin modern, das den Raum bietet, die Werke seiner Sammlung der Öffentlichkeit neu zu präsentieren und inszenieren.

Egidio Marzona sitzend auf einem Stuhl
"Ein echter Lissitzky - von dem gibt es weltweit nur noch fünf": Egidio Marzona auf seinem Lieblingsstuhl. Foto: SPK / Photothek / Thomas Imo
Mann zündet sich Pfeife an, auf einem Stuhl sitzend
Die ikonische Pfeife hat der Sammler immer griffbereit. Foto: SPK / Photothek / Thomas Imo
Zwei personen unterhalten sich, sitzend.
Egidio Marzona im Gespräch im dem SPKmagazin. Foto: SPK / Photothek / Thomas Imo

„Ich bin ein politischer Mensch,“ fügt der Sammler noch hinzu. Neben Berlin war es ihm wichtig, auch in Dresden ein Zeichen zu setzen in einer Zeit, „als Pegida auf den Straßen tobte“. Auch sein jüngstes Projekt, die Design Akademie Saaleck (DAS), zeugt von Marzonas Engagement. 2018 erwarb er die ehemaligen Saalecker Werkstätten des nationalsozialistischen Rassenideologen, Bauhaus-Hassers und Architekten Paul Schultze-Naumburg – ein Ort, der zur Pilgerstätte für Neo-Nazis werden drohte – „politisch hoch belastet, ein unbequemes Denkmal, das ich transformieren wollte,“ wie er sagt.

Designer*innen und Architekt*innen kommen hier zusammen. Unter wechselnder künstlerischer Leitung bespielen sie die Anlage, entwickeln zukunftsweisende Ideen in der Auseinandersetzung mit der problematischen Vergangenheit. Die DAS kooperiert dabei bereits mit Größen wie dem Design Department der Harvard University, wird derzeit grundlegend saniert und soll in Zukunft noch größer werden – „wie die Villa Massimo in Rom, “ schwärmt Egidio Marzona – und klingt wie einer, der mit 80 Jahren noch Großes vorhat. Man darf gespannt sein.


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