Editions- und Literaturwissenschaftler Hans-Gerd Koch beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Leben und Werk Franz Kafkas. Hier beantwortet er Ihre Fragen:
Herr Koch, was fasziniert Sie persönlich am meisten an Franz Kafka, und warum hat seine Literatur bis heute eine so starke Wirkung auf Leser*innen weltweit?
Koch: An Kafkas Texten fasziniert mich, wie perfekt sie gearbeitet sind. Wenn ich einen Text mit größerem zeitlichen Abstand erneut lese, erschließt er sich mir oft neu; ich entdecke Aspekte, die mir zuvor entgangen sind, Formulierungen, deren sprachliche Vollendung ich beim ersten Lesen nicht bemerkt habe, oder ich entdecke eine neue Bedeutungsebene.
Möglich macht das die offene Struktur der Texte, die "Leerstellen", wie sie in der Literaturtheorie genannt werden. Wir bringen unseren eigenen Erfahrungshintergrund bei der Lektüre ein, um sie zu füllen und uns den Text zu erschließen.
Für Kafkas Texte bedeutet das, dass wir sie nicht nur in verschiedenen Lebensaltern und –situationen anders lesen, sondern auch in verschiedenen Kulturen, und es macht sie nahezu zeitlos. Es bedeutet aber auch, dass es keine allgemeingültige Interpretation geben kann.
Hans-Gerd Koch ist Editions- und Literaturwissenschaftler. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit Leben und Werk Franz Kafkas. Er ist Mitherausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe des S. Fischer Verlags, Autor zahlreicher Publikationen und Kurator von Ausstellungen.
Zuletzt war im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin seine Ausstellung „Das Fotoalbum der Familie Kafka“ zu sehen, in der Franz Kafka und seine große Verwandtschaft erstmals in Originalfotografien aus dem Besitz der Nachfahren seiner Schwestern zu sehen waren, kommentiert und begleitet von Zitaten aus Kafkas Tagebüchern und Briefen.
Im Rahmen der Ausstellung wurde Kochs gemeinsam mit Hanns Zischler gedrehter Interviewfilm „Ein Besuch bei Kafkas Nichte“ gezeigt sowie als deutsche Premiere der in diesem Jahr gemeinsam mit Clemens Schmiedbauer produzierte Film „Kafkas letzte Reise“.
Nach Jahren im Hochschuldienst leitet Hans-Gerd Koch seit 2015 den Karl Rauch Verlag in Düsseldorf.
In Ihrer Ausstellung „Das Fotoalbum der Familie Kafka“ zeigten Sie viele private Einblicke in Kafkas Leben und seine Familie. Wie verändert dieses Bildmaterial unser Verständnis von Kafka als Mensch und Autor?
Koch: Bilder haben eine eigene Sprache, und sie ermöglichen es uns, als Betrachtende mit den Abgebildeten Kontakt aufzunehmen. Sieht Hermann Kafka so furchteinflößend aus, wie sein Sohn ihn oft darstellt? Ist Franz Kafka so kamerascheu, wie er immer wieder behauptet? Man vermag sich selbst ein Bild zu machen und entdeckt mitunter Zeichen, die eine neue Sicht ermöglichen:
Auf einer Fotografie aus Franzensbad posieren Kafkas Mutter und seine Schwester Valli zwischen Birken, von denen eine rechts im Hintergrund die eingeritzten Initialen "FK" und "K" aufweist. Ist es ein Zufall, dass es sich um die Initialen handelt, mit denen Franz Kafka und Hermann Kafka oft Karten und Briefe zeichnen? Oder haben Vater und Sohn im Vorjahr, als Franz die Eltern in der Sommerfrische besucht hat, hier ihre Initialen hinterlassen? Trifft Letzteres zu, ist es bestimmt kein Zufall, dass Julie Kafka und Valli Pollak sich genau hier fotografieren ließen.
Sie haben Filme wie „Kafkas letzte Reise“ produziert. Was kann ein Film über Kafka vermitteln, das man in seinen Texten oder in der Literaturwissenschaft so nicht findet?
Koch: Ein gelungener Film, egal ob es sich um eine eher freie, fiktionalisierte Umsetzung einer Biografie handelt oder eine faktenorientierte Dokumentation, vermag Zuschauer*innen in eine historische Atmosphäre zu versetzen, ihnen eine Ahnung davon zu vermitteln, wie man in dieser Zeit gelebt hat. Dazu können sowohl historische Fotografien und Filmaufnahmen beitragen als auch Äußerungen von Zeitzeug*innen und Dokumente.
Im Film "Kafkas letzte Reise" entsteht auf diese Weise im Wechsel mit Briefen und Karten, die im Original zu sehen sind und vorgelesen werden, ein Tableau, das die Zuschauenden zu Begleiter*innen auf den letzten Lebensstationen macht. Sie sind emotional stärker beteiligt als sie es bei der Lektüre eines Buchs wären, sie werden zu Zeug*innen des Ringens um eine Verbesserung des Gesundheitszustands, des Schwankens zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Vor allem aber wird es ihnen durch die Vielstimmigkeit möglich, sich ein eigenes Bild davon zu machen, wie wichtig Kafka – entgegen vieler anderslautender Bekundungen – seine Familie war und wie groß der Rückhalt, den sie ihm bot.
ForschungsFRAGEN
Wie restauriert man eigentlich Papier? Woran erkennt man, ob ein Gemälde echt ist? Und wie spielt man denn nun Beethoven richtig? Mit den ForschungsFRAGEN geben wir Ihnen die Gelegenheit, uns Ihre Fragen zu stellen. In jeder Ausgabe des Forschungsnewsletters beantwortet ein*e Wissenschaftler*in aus der SPK ausgewählte Fragen aus der Community zu einem speziellen Thema.