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Mies ohne Abstriche

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Der Architekturtheoretiker und Mies-Experte Fritz Neumeyer hat einen ersten Rundgang durch die sanierte Neue Nationalgalerie gemacht

1.600 Quadratmeter neues Glas eingebaut, auf 15.000 Quadratmetern eine neue Beschichtung aufgetragen und 500 Schweißnähte an der Stahlkonstruktion saniert. 800 auf LED-technik umgerüstete Bestandsdeckenleuchten, 196 Deckengitter und 2500 Quadratmeter an Natursteinplatten wiederverlegt. Das sind die nackten Zahlen der Grundsanierung der Neuen Nationalgalerie von Ludwig Mies van der Rohe, die das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung nennt. Aber wie ist der Eindruck des neuen alten Tempels der westlichen Moderne. Wir haben den Architekturtheoretiker Fritz Neumeyer gefragt, der als der Mies-Experte gilt und die Sanierung auch beraten hat.

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Die Neue Nationalgalerie erstrahlt wieder im alten Glanz. © BBR / Thomas Bruns

Herr Neumeyer, Sie gehörten zu den allerersten Besuchern der Neuen Nationalgalerie. Wie war der Eindruck?

Neumeyer: Es war ein unglaublich starkes Erlebnis, diesen Bau in seiner alten Frische, in seiner ganzen Unmittelbarkeit zu erleben. Wenn man in der oberen Halle steht, wird der Raumbezug zur Stadt viel deutlicher als vorher. Alles tritt schärfer und deutlicher in den Blick. Ich bin ja schon als Student staunend an diesem Bau vorbeigefahren. Da wusste ich noch gar nichts von Mies, und seither war ich von seiner Einmaligkeit und Großzügigkeit fasziniert. Im Laufe der Nutzung hat der Bau bestimmte bauliche Veränderungen erfahren, unter denen seine Klarheit gelitten hat. Jetzt steht Mies wirklich wieder ohne Abstriche vor uns. Dieser grandiose Bau schafft es wirklich, mit wenigem viel zu sagen. Das hat nichts mit jenem „less is more“ zu tun, überhaupt nichts.

Es geht hier nicht um das Weglassen sondern vielmehr darum, das Wesentliche mit einem großen Selbstverständnis und einer große Ruhe künstlerisch zum Ausdruck zu bringen. Darin war Mies ein echter Meister. Die Idee von Mies, Kunstwerke gegen den Hintergrund der Stadt zu stellen, kommt jetzt viel deutlicher zur Geltung. Wenn erst die Bauzäune weggeräumt sind und man das ganze Bauwerk wieder ungestört betrachten kann, wird vielleicht deutlich, dass hier das beste Haus steht, das nach 1945 in Berlin gebaut worden ist.

Die Sanierung, so hat es David Chipperfield gesagt, geschah mit chirurgischen Eingriffen. Die Neue Nationalgalerie verbirgt ihr Alter nicht, die Spuren der Vergangenheit sind erkennbar geblieben wie der Abdruck von Fossilien.

Neumeyer: Das ist auch enorm wichtig. Chipperfield wusste doch auch, dass er hier nicht überstreichen und frisch lackieren kann. Er hat ein Gespür für die Aufgabe und löst sie grandios. Ein Beispiel: Wenn man in der oberen Halle steht und unter der Decke in die Konstruktion schaut, dann sieht man das große, lebendige Raster. Es schillert etwas, weil der alte Farbanstrich soweit es ging, erhalten wurde, ohne dass dadurch aber die Einheitlichkeit der Tragstruktur leidet . Ähnliches bei den Fensterprofilen und den Türen. Chipperfield pflegt nicht die Kultivierung der Patina, aber er macht Spuren lesbar.

Moderne Ausstellungshalle.
Die Originalbauteile wie Deckengitter und Steinplatten in der oberen Ausstellungshalle der Neuen Nationalgalerie wurden denkmalgerecht restauriert. © BBR / Thomas Bruns / VG Bild-Kunst
Treppenhaus eines modernen Ausstellungsgebäudes.
In den Ausstellungsbereichen jenseits der Treppenhalle wurde wieder Teppichboden verlegt. © BBR / Thomas Bruns / VG Bild-Kunst

Und was sagen Sie zum unteren Teil des Hauses?

Neumeyer: Das ist jetzt besonders toll, weil keine Kunst darinhängt. (lacht) Man sieht sehr schön, wie die hervortretenden Wandscheiben auf den Skulpturengarten Bezug nehmen. Ich finde auch den Teppichboden sehr gelungen. Das hat etwas für sich, was es sonst in keinem anderen Museum gibt. Wir haben lange darüber diskutiert, weil Udo Kittelmann den Teppich partout nicht wollte. Mit Raufasertapete, Plüsch und Stehlampe könne man keine moderne Kunst ausstellen. Ich finde aber, dass dieser gewisse Gemütlichkeitsgrad auch zur Intimität des Hauses gehört. Man ist in den unteren Räumen in einer akustisch gedämpften Atmosphäre des Ungestörtseins. Das korrespondiert mit der unendlich großen Ruhe und Kraft, die dieser Bau ausstrahlt. Für mich ist die Neue Nationalgalerie tatsächlich ein Ort der Erholung, eine Insel der Ordnung im Chaos des Kulturforums.

Sie haben gesagt, dass man hier Kunstwerke gegen den Hintergrund der Stadt betrachten kann. Die Stadt hat sich sehr verändert in den vergangenen Jahren. Wird sich die Neue Nationalgalerie behaupten?

Neumeyer: Mies wollte in seinen Häusern den Raum öffnen und in die Landschaft binden. Wenn man jetzt auf dem Podium steht, sieht man den Potsdamer Platz und ein völlig anderes Panorama als Ende der Sechzigerjahre. Der Neuen Nationalgalerie hat diese veränderte Fernsicht nicht wehgetan, im Gegenteil, sie hat die städtebauliche Autorität dieses Baus noch gestärkt. Wir werden jetzt sehen, wie die unmittelbare Nachbarschaft mit Mies klarkommt.


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