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Matthäikirchstraße 4 – Wiederentdeckung einer besonderen Nachbarschaft

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In der Kunstbibliothek läuft seit 2022 mit Förderung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien das Forschungsprojekt „Die Kunstgeschichte(n) des Tiergartenviertels“. Ziel ist es, die seit 1945 weitgehend in Vergessenheit geratene Geschichte des kunstaffinen Viertels rund um das heutige Kulturforum zu rekonstruieren, vorhandene Forschungsergebnisse zusammenzuführen und durch neue Quellenstudien zu ergänzen.

Im Mittelpunkt steht hierbei die glanzvolle Epoche Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich das Tiergartenviertel mit seinen kulturellen Netzwerken zu einem Zentrum der Moderne, des Kunsthandels, der Mode, der Fotografie und der Inneneinrichtung entwickelte. Diese einmalige kulturelle Blütezeit wurde durch die Verfolgung, Beraubung und Ermordung der jüdischen Anwohner*innen im Nationalsozialismus nach 1933 beendet, das Viertel im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört.

Anlässlich des „Tags im Grünen“ am 3. September 2023 nehmen das Projektteam Gesa Kessemeier und Joachim Brand mit auf eine Zeitreise ins Berlin der 1910er und 20er Jahre und spüren den vergessenen Anwohner*innen des alten Tiergartenviertels nach. Bislang unbekannte Biografien zeichnen das Bild einer faszinierenden, kunstbegeisterten und eng vernetzten Nachbarschaft und zeigen: Schon vor 100 Jahren war die Matthäikirchstraße ein „Kulturforum“.

Black and white photo of a building

Ein Haus und seine Besitzerin

Das 1870/71 erbaute, luxuriöse Mehrfamilienhaus Matthäikirchstrasse 4 steht exemplarisch für die Geschichte des kunstsinnigen Viertels: Seit dem Jahr 1900 gehörte es der Bankierstochter, Modejournalistin und Schriftstellerin Julie Elias. Mit ihrem Mann, dem Kunst- und Literaturhistoriker Julius Elias, bewohnte sie seit 1890 die II. Etage. Ihre großzügige Wohnung war ein beliebter Treffpunkt der Kunstwelt.

Das Haus Matthäikirchstraße 4. Foto: Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Photothek, ZI-0178-02-3-252838 / Fotografie der Staatlichen Bildstelle

„Einen besonderen Platz [in der Nachbarschaft] nahm das Ehepaar Julius und Julie Elias ein“, notierte die Schauspielerin Tilla Durieux 1971 in ihren Memoiren. „Sie wohnten uns gegenüber…“. Oft waren Tilla Durieux und ihr Mann, der Galerist Paul Cassirer, dort zu Besuch. Doch heute weiß kaum jemand, wo sich das Elias‘sche Haus, einst strahlender Mittelpunkt am Matthäikirchplatz befand: Es stand mitten auf der heutigen Piazzetta, dem Zugang zu den Museen am Kulturforum. Nichts erinnert hier heute an die eleganten „Sandsteinhäuser in französischem Villenstil“, die ehemaligen Bewohner oder die kunstsinnige Nachbarschaft.

Julius und Julie Elias gehören zu den nach 1945 vergessenen Prominenten des frühen 20. Jahrhunderts, deren Wiederentdeckung und Wiedereinschreibung in das kulturelle Gedächtnis faszinierende Einblicke in eine versunkene Welt, in ein „Atlantis der Moderne“ erlauben.

Schwarz-weiß Foto eines Mannes
Julius Elias 1925 in seinem Arbeitszimmer. Im Hintergrund sind das von Liebermann 1914 angefertigte Portrait Julie Elias sowie das Selbstportrait des Künstlers zu sehen (ullstein bild – Ludwig Boedecker)
Black and white portrait
Julie Elias 1928. Photo: ullstein bild

Julie Elias – „Eine der liebenswertesten Erscheinungen aus der literarisch künstlerischen Welt“

Denn wenn Modejournalistin Julie Elias (1866-1943) – laut Kunstkritiker Max Osborn „eine der liebenswertesten Erscheinungen aus der literarisch künstlerischen Welt“ – mit ihrem temperamentvollen Mann Julius (1861-1927) in ihre Wohnung in die Matthäikirchstraße 4 zu „gastrosophischen Abendgesellschaften" einlud, kam die Kulturelite Berlins und es versprach in vielfacher Hinsicht ein kunstvoller Abend zu werden.

Inmitten von Gemälden deutscher und französischer Impressionisten wie Monet, Manet, Cézanne, Max Liebermann, Max Slevogt oder Lovis Corinth – deren detaillierte Auflistung sich in Entschädigungsakten findet – dinierten die Elias‘ mit den Malerfreunden Liebermann, Slevogt, Orlik, Corinth nebst Galerist Paul Cassirer und weiteren gern gesehen Gästen wie Max Osborn, Gerhard und Margarete Hauptmann, Henrik Ibsen oder Edvard Munch sowie Modejournalistin Elsa Herzog und diskutierten bei kulinarischen Köstlichkeiten und edlen Weinen leidenschaftlich über moderne Malerei, Literatur, Mode und Design.

Julie Elias galt als „Meisterin edler Geselligkeit“. „Die Frau, die uns die graziösesten Modeessays schenkt, hat auch den besten Geschmack. Nicht nur in modischen Dingen, sondern auch in der Wahl ihrer Speisekarte“, kommentierte der Querschnitt 1925. Netzwerke wurden geknüpft, Freundschaften gepflegt, Aufträge vergeben. Max Liebermann portraitierte zunächst Julius dann Julie Elias, Lovis Corinth den Sohn Carl Ludwig. Julius Elias publizierte mehrfach bei Paul Cassirer über Liebermanns Kunst. Ein Portrait des Malers hing neben den Familienbildern. Ein 1925 veröffentlichtes gastrosophisches Kochbuch mit dem sprechenden Titel „Kochkunst“ widmete Julie wiederum dem Malerfreund, dessen Tochter Käthe in den 1930er Jahren als Mieterin in das große Haus der Elias‘ an den Matthäikirchplatz zog.

Passend für die Charakteristik des Viertels, das sich seit der Jahrhundertwende zu einem Zentrum des Kunsthandels, der künstlerischen Inneneinrichtung, der Haute Couture und der Modefotografie entwickelt hatte, gehörte Julie Elias‘ Leidenschaft neben der bildenden auch der angewandten und der darstellenden Kunst – insbesondere der Mode und dem Theater. In ihrer Kolumne „Modeschauspiele“ des Berliner Tageblatts schwelgte die Kunst- und Literaturbegeisterte in malerischen Farbwelten und Wortbildern, schwärmte von Berliner „Modekünstlerinnen“ wie der Orlik-Freundin Olga de Bayer und deren von Orlik ausgemalten Salon in der benachbarten Bendlerstraße, von neuen Nuancen von Rot, in denen Nachmittags- und Abendroben des Modesalons Hess „brennen und flammen“ würden. Drei in Gold- und Rottönen gehaltene Abendkleider erinnerten sie 1926 „an die aufgehende Morgenröte schöner Sommertage.“

Kostüme in Theateraufführungen wie ein Silberspitzenkleid „mit einer um den Rumpf sich windenden Schlange“ und „weißem, silberlamégefütterten Samtcape“ von Nachbarin Johanna Marbach, die in der Tiergartenstraße wohnte und in der Lennéstraße ihr Modehaus hatte, ließen sie begeistert notieren, diese würde „der Kundige nie vergessen.“ „Frau Marbach hat hier tatsächlich ‚Kunst gemacht’.“

Elias war eine Meisterin der literarisch-anschaulichen Beschreibungen. In Zeiten von Schwarz-Weiß-Fotografien und bilderlosen Textbeiträgen in Zeitungen ließen ihre Charakterisierungen die Modelle sofort vor dem inneren Auge der Leserin lebendig werden – wie das Kleid mit den „mondscheinblauen Pailletten“, die sich „wie ein Schuppenpanzer um den schlanken Körper der Trägerin legen“ oder die „Abendtoiletten“, auf denen es „blitzt und funkelt“: „bald schwarz wie die Nacht, bald blau wie der Himmel, bald weiß wie Eiskristalle.“

Elegantly dressed woman

Tilla Durieux in einem Silberlamékleid von Johanna Marbach. Das Atelier der Fotografin Marie Boehm, Inhaberin von „Becker & Maass“, befand sich seit 1914 in der Bellevuestraße 5.

Foto: Kunstbibliothek – Becker & Maass

Die kunstbegeisterte Nachbarschaft

Das Ehepaar Elias befand sich in bester Gesellschaft, inmitten einer illustren und kunstaffinen Nachbarschaft: Mehr als 36 private Kunstsammlungen zählte man um die Jahrhundertwende allein rund um das Lennédreieck, die Matthäikirch- und die Tiergartenstraße. Hier trafen moderne Kunstströmungen auf Liebhaber alter Meister, Louis-XVI-Einrichtungen auf Ideen der Wiener Werkstätten und des Deutschen Werkbunds, Paris-Begeisterung auf wachsendes Berliner Selbstbewusstsein, Tradition auf Moderne.

Man sammelte Gemälde, Graphiken, Skulpturen, Porzellan, Fayencen, Bücher, Möbel – wie das „Handbuch des Kunstmarktes“ 1926 eindrucksvoll und mit zahllosen Adressangaben aus dem Tiergartenviertel belegt. 1912 lebten allein 17 Millionäre in der Matthäikirchstraße – im eigenen Haus oder zur Miete in großzügigen 15-Zimmer-Wohnungen voller Kunst und antiker Möbel: Hier residierten Bankiersfamilien wie die von Wassermanns, Kaufhausbesitzer Georg Wertheim oder der Industrielle Oscar Huldschinsky.

Kreidezeichnung eines Mannes
Oscar Huldschinsky 1926, Kreidezeichnung von Max Liebermann. Foto: SMB / Kupferstichkabinett
Schwarz-Weiß Aufnahme eines Raumes mit Gemälden
Blick in die Gemäldesammlung Huldschinsky. Foto: Staatsbibliothek zu Berlin SBB-PK

Die Häuser in der Matthäikirchstraße waren voller Kunst: Exzellente Sammlungen und Privatgalerien wie die von Oscar Huldschinsky (alte Meister und Skulpturen, Matthäikirchstraße 3a) – die Zeitgenossen als „eine der reichsten und schönsten Berliner Sammlungen“ bezeichneten. „Sie war ganz das Bild ihrer Zeit“ – säumten die Matthäikirchstraße. Ein Raffael schmückte Huldschinskys Herrenzimmer.

Bei Max und Olga von Wassermann in der Matthäikirchstraße 6 (heute Standort der Kunstbibliothek) gab es Gemälde deutscher Impressionisten, Graphiken und chinesisches Porzellan zu sehen, Charlotte Fürstenberg-Cassirer (Sigismundstraße 1) sammelte „moderne Kunst“, Dr. Ernst Feist-Wollheim (Matthäikirchstraße 25) „alte Kunst“, Max Neulaender (Matthäikirchstraße 26), der aus München stammende Inhaber der Firma „Hans Stobwasser“, nannte einen Canaletto sein Eigen.

Eine zentrale Rolle kam in dieser Nachbarschaft dem Kunsthändler Paul Cassirer (1871-1926) zu, der in den 1900er und 1910er Jahren in der Margarethenstraße 1 mit direktem Blick auf den Matthäikirchplatz und das Elias‘sche Haus wohnte. Früh begeisterte der Enthusiast Nachbarn, Freunde, Familie und zahlungskräftige Kund*innen für den französischen und deutschen Impressionismus. Tatkräftig unterstützt, so Tilla Durieux, von „Dr. Julius Elias“, den diese als „Kämpfer für Cézanne und van Gogh“ bezeichnete. Ebenso entflammt für die moderne Kunst: Van-Gogh-Enthusiastin Margarethe Mauthner (1863-1947), die in der Matthäikirchstraße 1 aufgewachsen war und für den Bruno-Cassirer-Verlag 1904 Van Goghs Briefe übersetzte.

Von Cassirer beratene Sammlerinnen wie Margarete Oppenheim (bis 1912 in der Victoriastraße/Ecke Margaretenstraße wohnend) hielt die eigene Familie zunächst „für verrückt“, „so viele dieser schrecklichen modernen Gemälde zu kaufen“, wie der aus der Mendelssohn-Verwandtschaft stammende Historiker Felix Gilbert sich erinnerte. „Im Laufe der zwanziger Jahre verwandelte sich diese Verachtung jedoch allmählich in Bewunderung für ihren Mut, so früh schon allein ihrem Geschmack gefolgt zu sein.“

Schwarz-Weiß-Porträt eines Mannes
Kunsthändler und Visionär der Moderne Paul Cassirer. Foto: ullstein bild
Gemälde eines Blumenstraußes in einer grünen Vase vor grüner Wand
Vincent van Gogh, Weiße Rosen. Heute im Metropolitan Museum New York als „Roses“ 1890. Erstmals ausgestellt 1904 bei Paul Cassirer. 1908 von Margarete Oppenheim bei Cassirer gekauft. Foto: public domain

Die kunstaffine Umgebung und die kunstsinnigen Elternhäuser inspirierten auch die nächste Generation: Annie von Wassermann (*1904) inmitten von kostbaren Möbeln, Porzellanen, Fayencen, alten Meistern und moderner Malerei aufgewachsen, war Ende der 1920er Jahre eine hoffnungsvolle Bildhauerin, die Renée Sintenis als „ausserordentlich begabt“ bezeichnete. Oscar Huldschinskys Sohn Paul Oscar (*1889) machte sich Ende der 1920er Jahre in Berlin als Innenarchitekt einen Namen, bevor er in der Emigration als Filmausstatter überzeugte. Zum Film „Gaslight“ mit Ingrid Bergmann bemerkte er nonchalant: „Ich habe den Set nur so eingerichtet, wie wir zu Hause gelebt haben.“

Schwarz-Weiß Foto eines Mannes mit weißem Hemd und Krawatte, die Hände in die Hüften gestemmt, Blick aus dem Bild
Georg von Wassermann 1918. Foto ullstein bild
Schwarz-Weiß Porträt einer Frau mit Hut
Die spätere Bildhauerin Annie von Wassermann 1917. Foto: ullstein bild

Doch beide gehören zur „verlorenen Generation“: Paul Oscar Huldschinsky starb früh 1947 in den USA, nachdem er für Thomas Mann noch dessen Haus in Pacific Palisades eingerichtet hatte. Annie von Wassermann konnte nicht an ihre frühen Erfolge – sie hatte ihre Werke in den 1930er Jahren auf den Sezessionsausstellungen in Berlin und München sowie in einer Einzelausstellung in Paris präsentiert – anknüpfen. In der Emigration in den USA arbeitete sie als Übersetzerin. Sie starb 1979 in der Schweiz.

Schwarz-Weiß Porträt eines Mannes mit Anzug und Brille

Paul Oscar Huldschinsky in den 1920er Jahren.

Foto: ullstein bild

Kunstaffine Mieter in der Matthäikirchstraße 4

Auch die von Julie und Julius Elias ausgewählte Mieterschaft in der Matthäikirchstraße 4 war – wie historische Adressbücher zeigen – äußerst kunstaffin und stand exemplarisch für die inspirierende Nachbarschaft: In dem großen Eckhaus, das seit den frühen 1880er Jahren dem Vater von Julie Elias gehörte, lebten Anfang des 20. Jahrhunderts in großzügigen Wohnungen auch der Modeunternehmer Fritz Adam (von 1912 bis 1924), die Innenarchitektin Ilse Dernburg (von 1914 bis 1930/31), eine Enkelin der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, Cousine Katia Manns, und deren Schwester, die Übersetzerin des S. Fischer-Verlags, Käthe Rosenberg, die Staatsschauspielerin Lucie Mannheim (von 1920 bis 1933/34) sowie in den 1930er Jahren bis zu ihrer Emigration 1938 auch Käthe Riezler, die einzige Tochter Max Liebermanns, mit ihrem Mann, dem ehemaligen Diplomaten und Geschichtsphilosophen Kurt Riezler, sowie Max Liebermanns geliebte Enkelin Maria (*1917).

Schwarz-Weiß Porträt einer Frau
Die Schauspielerin Lucie Mannheim o.J. (zu Beginn der 1920er Jahre). Sie lebte bis zu ihrer Emigration 1934 im Haus der Elias‘ in der Matthäikirchstraße 4. Foto: bpk
Schwarz-Weiß Porträt einer elegant gekleideten Frau
Max Liebermanns Tochter Käthe Riezler (1927) wohnte in den 1930er Jahren im Haus Matthäikirchstraße 4. Foto: ullstein bild – Frieda Riess
Sepiaaufnahme: Hochzeitsfoto
Modeunternehmer Fritz Adam, hier mit seiner Frau Lilli, lebte seit 1912 in der Matthäikirchstraße 4. Foto: Deutsche Kinemathek – Ken Adam Archiv
Sepiaaufnahme eines Jungen, der zur Seite blickt
Der 1921 in der Matthäikirchstraße geborene Klaus Adam, dem später als James-Bond-Szenist in England eine große Karriere gelang. Foto: Deutsche Kinemathek – Ken Adam Archiv

Besonders Fritz Adam (1879-1936) inspirierte die Nachbarschaft zu den Elias und deren Künstlerfreunden: 1924 initiierte er in seinem Modehaus „S. Adam“ in der Leipziger Straße eine große Ausstellung zum Thema „Sport in der Kunst“, die vom Graphiker Louis Oppenheim künstlerisch gestaltet war. In 17 Räumen präsentierte man moderne Sportarten. Von der Malerin Fanny Remak zusammengestellte historische und zeitgenössische Sportgraphiken ergänzten die Schau. „Die größten Künstler unserer Zeit wählen mit Vorliebe sportliche Motive. Wer kennt nicht Max Liebermanns herrliche Reiterbilder, seine schimmernden Tennisplätze, zu denen ihn die weiß gekleideten Sportgestalten in der Sommersonne anregten“, kommentierte das Berliner Tageblatt.

„Slevogts unerschöpfliche Phantasie wird gefesselt durch das bewegte Bild der Rennbahnen. Die Pferde seiner unfehlbar zeichnenden Meisterhand scheinen über die Bahn zu fliegen. Ulrich Hübner bringt zur größten Freude aller Berliner oft und gern das Getümmel der Segeljachten auf der Havel und dem Wannsee. (...) auf anderen Blättern der Bildhauer di Fiori den bei uns noch nicht lange heimischen Boxkampf. An den Wänden zeugen Graphiken von E. Oppler, Büttner, Paeschke, Finetti, Dix und vieler anderer davon, mit welcher Freude und welchem Können die modernen Künstler den Sport erfassen.“

Kreative Frauen im Tiergartenviertel

Auffällig viele, bislang in den Forschungen zum Tiergartenviertel nicht erwähnte, vor allem in den angewandten Künsten kreativ tätige Frauen tauchten während der Recherchen aus dem Vergessen auf. In den 1920er Jahren waren sie Ikonen ihrer Zunft. Nach 1933 wurden viele von ihnen von den Nationalsozialisten als Jüdinnen verfolgt, beraubt, in die Emigration gezwungen. Einige deportiert und ermordet – und die Erinnerung an sie bewusst ausgelöscht.

„Modekünstlerinnen“ wie Johanna Marbach (Lennéstraße 3) oder das Modehaus „Clara Schultz“ (kreative Köpfe waren Louise und Anneliese Busch, erst Potsdamerstraße 129/130, seit 1927 Tiergartenstraße 15) schufen visionäre Bühnenkostüme für Tilla Durieux beziehungsweise für die Modeikone Fritzi Massary. Elf Couturehäuser säumten Anfang der 1920er Jahre, in direkter Nachbarschaft zu namhaften Kunsthandlungen und Inneneinrichtungsläden, das Lennédreieck und die Bellevuestraße.

Schwarz-Weiß Aufnahme einer elegant gekleideten Frau, die zur Seite blickt

Innenarchitektin Leni Michels-Fougner. Fotografin Anny Eberth war eine Nachbarin aus dem Tiergartenviertel: Seit 1918 führte sie ihr Atelier für Mode- und Portraitfotografie in der Lennéstraße 5.

Foto: ullstein bild – Atelier Eberth

Innenarchitektin Leni Michels-Fougner (1880-1963), die lange in der Matthäikirchstraße 23 wohnte, galt als „Meisterin der Inneneinrichtung“, als „Raumkünstlerin“. Die Inhaberin der „Antiken Wohnräume“ in der Bellevuestraße 6 (später Hohenzollernstraße 13) stattete Wohnungen und Häuser im Tiergartenviertel mit Möbeln, Kunstgegenständen und Antiquitäten aus, sie schuf Bühnenbilder für Fritzi Massary, richtete ganze Landhäuser mit antiken Möbeln und historischen, „niederländischen Panneaux“ mit Landschaftsdarstellungen, alten chinesischen Tapeten, venezianischen Spiegeln und historischen Möbeln ein, was großen Anklang fand.

Mit Firmen wie „Hans Stobwasser. Künstlerische Wohnungsausstattungen“ mit eigenem Geschäftshaus in der Matthäikirchstraße 26, oder der gleichalterigen Innenarchitektin Ilse Dernburg (1880-1965) aus der Matthäikirchstraße 4, der ebenfalls eine „ausgesprochene Begabung, zeichnerische Gewandtheit, kuenstlerische Erfahrung und Geschmack“ zugesprochen wurde und die vor ihrer Selbständigkeit lange Jahre für die „Saalecker Werkstätten“ von Paul Schultze-Naumburg in der Victoriastraße 23 gearbeitet hatte, befand sich Michels-Fougner in bester Nachbarschaft. Für alle galt, dass „sie in ihrem großen und wohlhabenden Bekanntenkreis der Berliner Gesellschaft reichlich Gelegenheit“ hatten, ihr Talent zu zeigen, wie Leo S. Gutmann, bis 1931 Direktor der Danat-Bank in Berlin, bestätigte.

Nach 1933: Willkürliche Verfolgung und Zerstörung eines Mythos

Alle prominenten Mieter*innen der Matthäikirchstraße 4 wurden nach 1933 von den Nationalsozialisten als Juden verfolgt und in die Emigration gezwungen. Julie Elias musste ihr Haus zwangsweise an die Stadt Berlin verkaufen. Es war, wie der gesamte Straßenzug, vom Generalbauinspektor Albert Speer für den monumentalen – jedoch nicht realisierten – neuen Standort des „Oberkommandos des Heeres“ zum Abriss vorgesehen. Das Haus blieb stattdessen ein Ort der Kunst, doch unter anderen Vorzeichen: Seit Mitte der 1930er Jahre unterhielt der vom Propagandaministerium mitfinanzierte evangelische „Kunst-Dienst“, der aktiv an der „Verwertung“ sogenannter „entarteter Kunst“ beteiligt war, eine Geschäftsstelle und Ausstellungsräume in dem repräsentativen Haus am nunmehrigen Matthäikirchplatz 2. Ausstellungen „deutschen Kunsthandwerks“ sollten geschmacksbildend wirken. Noch 1944 zeigte man mit „Kunst und Mode“ „ein Spiegelbild deutschen Kulturschaffens“. Am 29. April 1945 zerstörten Brandbomben das Haus.

Die Schicksale der Hausbewohner sind bewegend und zeigen die zerstörerische Kraft des Nationalsozialismus aber auch den Mut zu widerständigem Verhalten: Julie Elias und ihrem Sohn, dem Juristen Ludwig Elias (1891-1942), gelang nach dem Zwangsverkauf des Hauses am Matthäikirchplatz und zähem Ringen um ein rettendes Visum im November 1938 die Flucht nach Norwegen, wo sie sich mit Hilfe norwegischer Freunde ein neues Leben aufbauten. Ludwig Elias wurde jedoch nach der deutschen Besetzung 1942 festgenommen, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die schwer erkrankte Julie Elias konnte in Norwegen bleiben und starb 1943 in Lillehammer.

Schauspielerin Lucie Mannheim (1899-1976) emigrierte 1934 nach London und war dort – in Diensten der BBC – aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, „im Kampf gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft“, tätig. Ihr Anti-Hitler-Lied zur Melodie des Schlagers Lilli Marlen – „Hitler, the man of blood and fear - hang him up at the lantern here!“ – bewegt noch heute. 1953 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz.

Fritz Adam (1879-1936), der seit 1925 in der Tiergartenstraße 8, zuletzt in der Matthäikirchstraße 28 gelebt hatte, emigrierte mit seiner Familie nach England. Er verwand die Verfolgung, Emigration und den Verlust seiner berühmten Modefirma nicht. Er starb 1936 in London. Seinem Sohn Klaus Adam, 1921 in der Matthäikirchstraße 4 geboren, gelang eine große Karriere: In den 1960er Jahren wurde er als Ken Adam zum führenden Szenisten der frühen James-Bond-Filme. Seine Kindheit im Tiergartenviertel ließ ihn aber nie ganz los: Noch im Jahr 2000 inszenierte er für den Film „Taking sides“ ein Szenenbild aus den 1930er Jahren im Stile der großbürgerlichen, elterlichen Wohnung im Tiergartenviertel. Sein Nachlass befindet sich heute in der Deutschen Kinemathek am Potsdamer Platz.

„Von der Wand in den Mund“

In der Emigration lebten viele ehemalige Tiergartenbewohner „von der Wand in den Mund“, wie Liebermann-Tochter Käthe Riezler (1885-1952), die im November 1938 mit Mann und Tochter in die USA hatte emigrieren können, sarkastisch formulierte.

In die Emigration – nach Zahlung horrender Zwangsabgaben an das Deutsche Reich um eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamtes“ zu erhalten – gerettete Kunstgegenstände sicherten vielen den Lebensunterhalt, wie auch Leni Michels-Fougner oder Katharina Feist-Wollheim (Matthäikirchstraße 25), Witwe des nach seiner Internierung 1938 im Konzentrationslager Sachsenhausen und den dort erlittenen schweren Verletzungen – einer unbehandelten Blutvergiftung und Erfrierungen – im Januar 1939 verstorbenen Kunstsammlers Ernst Feist-Wollheim, in den 1950er Jahren von New York aus dem Entschädigungsamt versicherten.

Auch Julie Elias und ihrem Sohn Ludwig hatten, neben der Fürsprache des norwegischen Außenministers Halvdan Koht, mehr als dreißig Gemälde den Weg nach Norwegen geebnet. Gustave Courbets „Weinlese in Ornans“, 1938 von Ludwig Elias in der Schweiz verkauft, sicherte ihnen Devisen, die sie aus Deutschland nur mit 96-prozentigen Zwangs-Abschlägen ins Ausland hätten transferieren können. Fünf Werke französischer Impressionisten, die zuvor am Matthäikirchplatz gehangen hatten, Gemälde von Toulouse-Lautrec, Manet, Monet, Pissarro und Cézanne dienten als Sicherheit und schmückten 1939/40 leihweise das Norwegischen Nationalmuseum in Oslo.

All dies sind vergessene Kunstgeschichten des Tiergartenviertels.

Weitere historisch-detektivische Recherchen notwendig

In Berlin sind noch viele historisch-detektivische Recherchen notwendig, um das – nach 1933 bewusst dem Vergessen übergebene – faszinierende Bild des kunstsinnigen Tiergartenviertels weiter mit Leben zu füllen. Die Recherchen geben dem heutigen Ort des Kulturforums und dem künftigen Standort des neuen Museums der Moderne schon jetzt ungeahnte Tiefenperspektiven.


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