Wenige Wochen vor seinem Tod hat Ludwig Mies van der Rohe seine Erinnerungen auf Tonband festgehalten. Ein einzigartiges Zeitdokument
Die Gespräche mit seinem berühmten Großvater Ludwig Mies van der Rohe, die Dirk Lohan auf Tonband aufzeichnete, waren in verschiedener Hinsicht etwas Besonderes: Hier wurde Mies nicht mit Standardfragen konfrontiert, auf die er zunehmend mit Standardantworten reagierte; zudem fanden diese Gespräche nur wenige Wochen vor dem Tod von Mies am 17. August 1969 statt. Diese Tonbänder, die gleichsam die letzten Worte von Mies aufzeichneten, wurden mit dem Nachlass dem Museum of Modern Art übergeben. Dort gingen sie unter nicht geklärten Umständen verloren. Lediglich die Kopie eines Typoskripts hat sich als unvollständiges Dokument der Gespräche erhalten.
Die Neue Nationalgalerie im Jahr 1968 © bpk/Nationalgalerie, SMB/Reinhard Friedrich
Welcher Schatz mit diesen verschwundenen Tonbändern untergegangen ist, lässt dieses 44 Seiten umfassende Transkript, das gerade bei DOM publishers veröffentlicht worden ist, ahnen. In diesen nicht für die Öffentlichkeit gedachten Gesprächen berichtet Mies in einer Ausführlichkeit aus seinem Leben wie sonst an keiner zweiten Stelle. Hier findet sich eine Fülle von aufschlussreichen Hinweisen ebenso wie Kostproben seiner Ironie und seines Humors, mit denen er seine Vorbehalte gegenüber anderen Architekten – hier insbesondere Walter Gropius und Philip Johnson – genüsslich würzte.
Vor allem aber lassen sich durch diese Quelle bestimmte Aspekte im Frühwerk von Mies konkreter bestimmen. Wir erhalten Aufschluss darüber, welche große Bedeutung das Zeichnen, insbesondere von Ornamenten und Baudetails, für Mies gehabt hat. Das Talent zum Zeichnen, im elterlichen Steinmetzbetrieb entwickelt, bestimmte die Laufbahn von Mies. Nach einem Jahr praktischer Tätigkeit auf dem Bau wird für zwei Jahre das Zeichnen von Stuckornamenten zu seiner Hauptbeschäftigung, ehe er 1904 in das Büro des Aachener Architekten Albert Schneiders eintritt. Dort lag der Auftrag zum Bau des Warenhauses Tietz auf dem Tisch, dessen ornamentreiche Fassade zu zeichnen die Aufgabe von Mies wurde.
1906 wechselt Mies als Bauzeichner nach Berlin in das Baubüro für das Rathaus Neukölln, wo die Holztäfelung des Ratssaales sein Arbeitsfeld wird. Es ist vor allem das Arbeiten in Holz und das Entwerfen von Möbeln, das zu erlernen ihn zu Bruno Paul führt. Wie sehr Mies daran gelegen war, beleuchtet die von ihm erinnerte Episode um den Bau eines kleinen Hauses für den Tennisklub im Grunewald. Bruno Paul hatte hierzu den Auftrag erhalten und wollte Mies mit dieser Aufgabe betrauen. Doch Mies lehnte diese für ihn gewiss ehrenvolle architektonische Aufgabe ab, weil ihm zu diesem Zeitpunkt die Arbeit an Möbeln mehr am Herzen lag. Deshalb überredete er einen Freund, sich als sein Ersatzmann bei Bruno Paul zu bewerben, was so weit ging, dass Mies in aller Eile für die Bewerbungsmappe des Freundes Zeichnungen anfertigte, die Bruno Paul fälschlicherweise vorgelegt wurden.
Für einen anderen Aspekt im Frühwerk von Mies, den die Forschung lange übersehen hat, enthält das Transkript die einzig verfügbaren Belege: Mies spricht davon, dass es in seiner Berliner Zeit noch vor Peter Behrens und Karl Friedrich Schinkel einen anderen Berliner Architekten gab, den er sehr bewunderte, nämlich Alfred Messel, den Erbauer des berühmten Kaufhauses Wertheim am Leipziger Platz. Während seiner Zeit im Baubüro für das Rathaus Neukölln habe er sich sonntags Messels Bauten im Zentrum der Stadt angeschaut. Vor allem von der Stirnseite des Kaufhauses zum Leipziger Platz zeigte er sich beeindruckt. Und Messels Fähigkeit im Umgang mit den Formen der Gotik stellt Mies nicht nur auf eine Stufe mit Palladios Umgang mit den klassischen Formen, sondern er macht Messel sogar das bemerkenswerte Kompliment, Palladio in seinen Details zu übertreffen!
In den ersten Häusern von Mies, wie im Haus Riehl 1908 und Haus Urbig 1915, treten die Spuren der Begegnung mit Messel zutage. Dessen 1906/07 erbautes Landhaus Oppenheim schätzte Mies besonders. Messel-Bauten blieben Mies lebendig im Gedächtnis. So erinnert er sich 1969 an die beiden großen Steinschnecken, die sich im Portal des Stallgebäudes des 1902–1904 im Tiergartenviertel erbauten Hauses Eduard Simon in der Viktoriastraße befanden, das im Krieg zerstört wurde. Es sind Ornamente, die ihrer Größe nach, wie Mies im Aachener Stuckateur-Geschäft gelernt hatte, nicht aus der Hand, sondern aus dem Arm gezeichnet worden sein mussten. Und Mies überlegt, in welchem Buch er eine Abbildung von diesen in seinen Augen wunderbaren und tadellos detaillierten Steinschnecken finden kann, um sie seinem Enkel unter die Augen zu halten.