Ein historischer Rückblick auf einen Kulturstandort
Das Kulturforum – Kultur ohne Forum? Architekturikonen, herausragende Kunst, exzellente Forschungsangebote und Zeugnisse der Berliner Geschichte kulminieren in einer Gegend, die heute vor allem als stadtplanerische Herausforderung, mit der Perspektive eines Neubaus der Nationalgalerie für die Kunst des 20. Jahrhunderts auch als Chance der Neugestaltung wahrgenommen wird. Gelingt die ersehnte Belebung des Kulturstandortes, könnten sich hier die Wege des Museumsbesuchers mit jenen des Konzertgängers überschneiden, der Bibliotheksnutzer würde dem bummelnden Touristen begegnen, der in der Mittagssonne einen Kaffee genießt, während am Nachbartisch Kunststudenten diskutieren, Schulklassen das Pausenbrot auspacken und Anzugträger aus den Bürohäusern am Potsdamer Platz vorüberschlendern, um in einladender Atmosphäre kulturgesättigte Luft zu atmen.
Der Gründer von "Der Sturm", Herwath Walden, und seine Frau Nell im Speisezimmer ihrer Wohnung in der Potsdamer Straße (1916) © bpk
Nach jahrelangen Diskussionen und vielfältiger Kritik wird dem Phantomschmerz eines Ortes ohne Aufenthaltsqualität mit der Vision eines lebendigen Forums der Kultur begegnet. Vielleicht wird diese Vision konkreter, blickt man zurück auf die Wege, die sich hier in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kreuzten. Nicht nur Briefe, Erinnerungen und Feuilletons der Zeit, auch Reiseführertexte der späten Zwanzigerjahre geben Aufschluss über die Gegend zwischen der am Potsdamer Platz beginnenden Potsdamer Straße, dem Tiergarten und der Potsdamer Brücke am Landwehrkanal. Der damalige Straßenverlauf mit der östlicher als heute gelegenen Potsdamer Straße, der Matthäikirchstraße und der vom Potsdamer Platz zum Kemperplatz westlich Richtung Tiergarten führenden Bellevuestraße ergibt ein Dreieck, das von der Victoriastraße durchschnitten wurde. Entlang letzterer verläuft größtenteils die heutige Potsdamer Straße; lediglich die nun Alte Potsdamer Straße zwischen Potsdamer Platz und Marlene-Dietrich-Platz bezeichnet den verbliebenen Teil der ehemaligen Straße. Die Gegend südlich des Tiergartens und westlich des Potsdamer Platzes ist schon damals weniger zentraler Anlaufpunkt als ein ‚Dazwischen‘, das sich von seinen Rändern her definiert: dem vormalig repräsentativen Zentrum im Osten, den Linden-Boulevard, Friedrich- und Wilhelmstraße entlang, sowie dem neuen Zentrum des Vergnügens im Berliner Westen, das sich vom Wittenbergplatz über den Tauentzien, den Kurfürstendamm und bald weit darüber hinaus mit unzähligen Bars, Cafés, Tanzlokalen, Kabaretts und Kinos erstreckt. In dem urbanen Zwischenraum ersetzen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend imposante Hotelkomplexe und Bürogebäude die vormaligen großbürgerlichen Wohnhäuser und herrschaftlichen Tiergartenvillen.
Das topografische Dreieck des frühen 20. Jahrhunderts durchkreuzen Bohemiens und Flaneure, Künstler und Überlebenskünstler, Galeristen, Literaten, Publizisten und Verleger – aus ihren Wegen erschließt sich eine Art ‚Avantgarde-Dreieck‘. Die Begegnungspunkte der Zeitgenossen sollen sich hier, den Momentaufnahmen einer Kamera gleich, in eine Erzählung fügen, um ein bewegtes Bild des historischen Ortes inmitten der rasant wachsenden Großstadt Berlin zu zeichnen. Die Kamerafahrt durch die Zehner- und Zwanzigerjahre führt vom Potsdamer Platz und dem Beginn der Potsdamer Straße zunächst in Richtung Tiergarten die Bellevuestraße entlang bis zur Kreuzung Kemperplatz/ Victoriastraße, weiter zum Matthäikirchplatz und von dort zur Potsdamer Brücke über dem Landwehrkanal, wobei Originalstimmen die Begegnungspunkte markieren.