Darauf lauschen, was die Bäume fragen – das könnte für Andreas Weber eine Poetik sein. Bei der alten Platane auf dem Scharounplatz hat der Philosoph einmal genauer hingehört.
Wer etwas über das Verhältnis der Moderne zum Schöpferischen erfahren will, kann an einem dieser Frühlingstage das Berliner Kulturforum besuchen. Krähenrufe brechen sich in der grauen Luft. Vor der Front der Philharmonie probieren ein paar Kids ihre Boards aus. Mit einem Baugitter aus Zinkdraht, fahl wie der Stadthimmel, ist das Areal eingezäunt, auf dem das Museum der Moderne entstehen wird. Im Nordwesten des Bauplatzes öffnet eine mächtige Platane ihre Äste, immer noch behängt mit stachligen Früchten, in den Himmel. Im Süden des Grundstücks antworten ihr ein knappes Dutzend Robinien, die Kronen durchstöbert von kugeligen Misteln.
Die 150-jährige ahornblättrige Platane auf dem Scharounplatz hat als einzige alle Entwicklungen der Berliner Geschichte überlebt © Christoph Mack
Noch ist der Platz unberührt von Kultur. Ein Nicht-Ort fast, schiefer Asphalt und Bäume, die sich darunter hervorgewühlt haben. Insofern typisch Berlin: Das Schöpferische bahnt sich seinen Weg in unbeaufsichtigten Ecken. Hier sind das Schöpferische die Gehölze, die dem nachgehen, was sie können: wachsen, Sauerstoff spenden, Leben verbreiten. Die alte Platane tut das schon seit 150 Jahren.
Der Baum ist den Stadtplanern so wichtig, dass sie seinen Erhalt in die Auslobung für den Neubau geschrieben haben. Er sei „ein Naturdenkmal und zwingend zu erhalten“. Die Architekten haben daher eine riesige rechtwinklige Aussparung im noch größeren rechtwinkligen Grundriss des neuen Gebäudes vorgesehen: die Maxi-Version einer Wandnische, wie sie sonst für Heiligenfiguren und andere Andenken eingerichtet wird. Die Platane ist eben ein „Naturdenkmal“. Ein ausstellungswürdiges Objekt, das sich in die neue Kultur-Event-Halle spektakulär integrieren lässt. Die Robinien mit ihren Misteln werden fallen.
Wird die Riesenplatanennische der erste künstlerische Ausweis einer künftigen nachhaltigen Gesellschaft? Eine kulturelle Antwort auf den Klimanotstand gar? Ist das Ganze also die Vermählung von Kunst und Natur, mithin eine neue Architektur für das Anthropozän? Oder Greenwashing? Oder einfach nur sentimental?
In der Auslobung für den Entwurf steht auch, dass im Inneren des Gebäudes die sonst übliche Trennung von Kunstwerken und Informationen über Kunst – Buchläden, Bibliotheken – aufgelöst werden soll. Das Schöpferische wird Teil des Alltags sein und der Alltag vom Künstlerischen durchtränkt. Der Baum aber, mit dem wir gemeinsam ein- und ausatmen, bekommt wie jedes schöne Ding seine Nische. Er soll ein Museumsobjekt werden, nachdem er schon lange ein Naturobjekt gewesen ist.
Die Berliner streiten sich über das neue Museum, das muss so sein. Was aber meint der Baum? Wenn sich das Schöpferische laut Auslobung mit dem Alltäglichen durchdringen soll, warum wird dann das, was vor uns und in uns und über uns das Schöpferische schlechthin ist, das Leben nämlich, nett gemeint eingenischt – aber nicht beteiligt? Hat jemand die Bäume im Asphalt gefragt, was sie wünschen? Was ihnen guttut? Oder, was aufs Gleiche hinausläuft: Haben wir darauf gelauscht, was die Bäume uns fragen?
Darauf lauschen, was uns die Bäume fragen – das könnte eine Poetik sein, der Keim eines Kunstwerkes, etwas, was vielleicht sogar einmal im Museum der Moderne ausgestellt wird. Solange die Bäume alle – und nicht nur das Museums – Platanenobjekt – noch stehen, im frischen Wind, unter dem Himmelsgestöber der Mistelkugeln, können wir alle das tun – hingehen und ihrer Frage an uns lauschen. Und auf das horchen, was in uns antwortet.
Andreas Weber
Der in Berlin und Italien lebende Philosoph, Biosemiotiker und Publizist setzt sich in seinem Denken für eine Überwindung der mechanistischen Interpretation der Lebensphänomene ein. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde Weber 2007 mit seinem Debüt „Alles fühlt“. 2015 erschien bei Matthes & Seitz der Essay „Enlivenment. Versuch einer Poetik für das Anthropozän“.