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Utopie und RealsozialismusRetrotopia am Kulturforum

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Hinter dem Eisernen Vorhang war alles grau. Oder? In der Schau „Retrotopia“ lädt das Kunstgewerbemuseum internationale Partner*innen ein, über Gestaltung im Sozialismus zu reflektieren – und zeigt dabei, wie bunt, frei und visionär das Design im Osten eigentlich war.

Als im August 1968 sowjetische Panzer ins Stadtzentrum von Prag rollten, war das nicht nur das Ende eines hoffnungsvollen politischen Frühlings in Osteuropa. Auch für das Ehepaar Věra Machoninová und Vladimír Machonin änderte sich das Leben nachhaltig. Die beiden Architekt*innen hatten mit ihrem „Studio Alpha“ das politische Tauwetter der 1960er Jahre genutzt, um in verschiedenen Wettbewerben mit zukunftsweisenden Entwürfen und utopischen Konzepten von sich Reden zu machen. Im Rückgriff auf traditionelles Handwerk und modernste architektonische Theorie schufen sie gestalterische Gesamtkonzepte, die nicht nur eine eigene künstlerische Handschrift im Realsozialismus suchten, sondern sich auch kritisch mit den bestehenden Verhältnissen auseinandersetzten. Neben der tschechischen Botschaft in Berlin, die nach Entwürfen der Machonins in den 1970er Jahren realisiert wurde, gelang es ihnen vor allem mit dem „Hotel Thermal“ in Karlsbad, ein wegweisendes utopisches Design- und Architekturprojekt umzusetzen.

Nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ sind Věra Machoninová und Vladimír Machonin in Ungnade gefallen und durften ab 1970 nicht mehr an öffentlichen Wettbewerben teilnehmen – ihre Eigenwilligkeit war der Obrigkeit ein Dorn im Auge.

Die Machonins stehen exemplarisch für viele Designer*innen und Architekt*innen jenseits des „Eisernen Vorhangs“, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten: Sie waren Teil einer progressiven, globalen Szene von Gestaltenden, die mit Design gesellschaftliche, aber auch ganz alltägliche Probleme lösen wollten – gleichzeitig mussten sie ihre eigenen künstlerischen Ansprüche und Zukunftsvisionen permanent mit der autoritären Realität der Sowjetunion abgleichen, um nicht zum Ziel staatlicher Repressionen zu werden.

Innenansicht eines roten Sitzungssaal mit Kassettendecke
Věra Machoninová, Vladimír Machonin, Hotel Thermal, Interior of the Congress Hall, ca. 1977, Foto/Photo: Jaroslav Franta

Diesen Designer*innen und ihren utopischen Zukunftsvisionen im ehemaligen Ostblock und Ex-Jugoslawien widmet sich nun die Ausstellung „Retrotopia. Design for Socialist Spaces“. Die Schau entstand aus einer Initiative des Berliner Kunstgewerbemuseums und wird vom Kuratorium Preußischer Kulturbesitz gefördert. Der Einladung des Berliner Museums sind elf co-kuratorische Teams aus Tallinn, Vilnius, Warschau, Budapest, Prag, Brünn, Bratislava, Kyjiw, Ljubljana, Zagreb, Eisenhüttenstadt und Berlin gefolgt. In einem kollaborativen Prozess entstand eine Ausstellung mit elf Stationen, für die die Teams jeweils ein Projekt zum öffentlichen und eines zum privaten Raum ausgewählt haben.

Bereits im Treppenhaus auf dem Weg zum Ausstellungssaal begrüßt eine Installation aus quadratischen Designelementen die Besucher*innen. Sie sind Reproduktionen der mobilen Festivalarchitektur, die für die Wassersport-Spielstätte Talinn der Olympischen Spiele 1980 in Moskau entstanden, und sie zeigen mit ihrer modernen Anmutung direkt, wie zeitlos und relevant das Design Osteuropas war und ist.

„Die Gestaltung war ein Ort denkerischer Freiheit, wo vieles möglich war, das in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht denkbar war“, sagt Claudia Banz, Initiatorin und Chefkuratorin von Retrotopia. „Es gab regen internationalen Austausch, auch Vernetzung mit Gestalter*innen im Westen“, erklärt sie weiter. Der „Eiserne Vorhang“ war hier eher ein „nylon curtain“, wie der ungarische Komponist András Mihály in den 1950er Jahren treffend kommentierte.  Während die Kunst von den Systemen stark vereinnahmt war, boten Design und Architektur Gestaltungsfreiräume – „der limitierende Faktor waren hier eher die Produktionsmöglichkeiten“, so Banz.

Raumansicht mit Glaskunstfenstern
Ivan Ilko, Fenster mit Glasgemälde im Studierendenklub Yuventus, Herstellung: Volodimir Kuznietsov, Uschhorod, Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, 1984, Foto/Photo: Yevgen Nikiforov

Der Ausstellungsrundgang in der unteren Ebene des Kulturforums beginnt mit einem sehr aktuellen Bezug: Das Kurator*innenduo Polina Baitsym und Alex Bykov zeigt Glaskunst und Architektur aus der Ukraine. An der Wand vor Kopf finden sich zahlreiche Fotografien von bunten Glasmosaiken, die an Kirchenfenster erinnern. „Der Ursprung der Buntglasfenster liegt natürlich in der Kirche, aber die hier gezeigten Werke sind von jeder religiösen Konnotation befreit“, sagt Kuratorin Polina Baitsym. „Ich wollte sie als Objekte des täglichen Lebens zeigen, denn das waren und sind sie in der Ukraine.“ Begünstigt durch die bestehenden Produktionskapazitäten für Buntglas in der sowjetischen Ukraine, fanden Künstler*innen in den monumentalen Fenstern einen Weg, die Zensur zu umgehen und dabei die oft gleichförmige und vorfabrizierte Sowjet-Architektur zu individualisieren und ihre jeweilige Funktion in der urbanen Landschaft deutlich sichtbar zu machen. Natürlich geht es der Kuratorin aber auch um die kulturelle Identität der Ukraine, die in Zeiten des russischen Angriffskriegs auf das Land immer stärker in den Fokus rückt. „Es gibt bei uns eine große Diskussion und um das populistische Narrativ, dass alles Sowjetische in der Ukraine gleichbedeutend mit ‚russisch‘ sei“, erklärt Baitsym, „das ist aber eine generalisierende Sicht, die der Komplexität der Vergangenheit nicht gerecht wird, denn diese Künstler*innen sind Ukrainer*innen und auch die Sowjetzeit ist Teil unserer kulturellen Identität.“

Alexander Bykovs Installation beleuchtet indes das gestalterische Erbe einer jüdischen Architektenfamilie, Vater und Tochter Iosif und Irma Karakis. Sie zeigt Irmas weitgehend unbekannten Beitrag zur Innenarchitektur und die Rekonstruktion von Iosifs komplizierter, aber eleganter Vision des Massenwohnungsbaus. So bietet diese Ausstellungsstation einen wichtigen Einblick in die Vergangenheit und Gegenwart der ukrainischen Kultur.

Ein Stück weiter begrüßt auf der linken Seite eine Installation des litauischen Glaskünstlers Algimantas Stoškus die Besuchenden. Die bunt leuchtenden Glasfragmente vor einer dunklen Wand muten futuristisch an und erinnern an einen Blick ins Weltall – durchaus beabsichtigt, wie Claudia Banz erklärt: „Die ‚Weltraumfantasie‘ ist eine der kleinsten Glaskunst-Arbeiten von Stoškus und entstand 1965 im Zeichen des ‚Space Race‘ zwischen der Sowjetunion und den USA. Sie wurde zuerst 1965 auf einer großen Kunstausstellung in Moskau gezeigt und anschließend in Kaunas in einer ehemaligen Kirche präsentiert, die während der sowjetischen Besatzungszeit zu einer Galerie für Glasmalerei und Bildhauerei umfunktioniert worden war.“ Für Retrotopia wurde die Arbeit, die seit der litauischen Unabhängigkeit nicht mehr ausgestellt wurde, umfassend restauriert und leuchtet nun in alter Pracht. Gemeinsam mit zwei planetenförmigen Saturnas-Staubsaugern, ebenfalls aus den 1960ern, repräsentiert sie einen Futurismus, der sich aus der Weltraumbegeisterung der Zeit speiste.

Schwarzweißfoto einer Frau in 60er-Jahre-Kleidung mit einem runden Staubsauger
Lithuanian advertising for Saturnas, 1963, published in journal Mokslas ir technika (Science and Technology), 1963, no. 8

Auch in anderen Ländern war Futurismus en vogue. In der estländischen Station im Rundgang werden Möbel mit gewagten Formen gezeigt, Prototypen, die nie in Serie gingen; gegenüber findet man sich plötzlich in der Präsidentenlounge des internationalen Flughafens Bratislava: ein weißer Tisch mit abgerundeten Formen, ein zylinderförmiger oranger Ledersessel und abstrakter weißer Wandschmuck erinnern an die Inneneinrichtung eines Raumschiffs. „Das ist sicher an den Stanley-Kubrick-Film ‚2001. Odyssee im Weltraum‘ von 1968 angelehnt“, sagt Claudia Banz. Die Einrichtung, so erzählt sie weiter, blieb bis in die 1990er Jahre in der exklusiven Lounge und wurde schließlich von einer Initiative von Designfans gerettet, als der Flughafen modernisiert wurde. „Interessant hieran ist, dass die Möbel zwar aussehen, als seien sie aus Kunststoff – der neueste Werkstoff damals“, erklärt Banz, „jedoch war das in der sozialistischen Slowakei der 1960er Jahre produktionstechnisch kaum möglich. Stattdessen wurden sie aus Holz gefertigt und erhielten durch die Lackierung eine Anmutung von Plastik.“

Ansicht eines Wartesaals mit halbzylindrischen weißen Sesseln
Presidential Airport Lounge, Bratislava, Slovakia, Foto: Lívia Pemčáková

Beim weiteren Gang durch die Ausstellung erreicht man die tschechische Station – hier dreht sich alles um das legendäre „Hotel Thermal“ des eingangs erwähnten Architektenpaares Věra Machoninová und Vladimír Machonin. Ein großformatiger Fotodruck gewährt einen Blick in den großen roten Konferenzsaal, der auch als Kinosaal genutzt wurde, denn das Hotel war als prestigeträchtiger Austragungsort des Internationalen Filmfestivals Karlovy Vary konzipiert worden. „Wir sehen hier eine totale Raumvision“, erläutert Banz, „von den Möbeln über das Licht und die Farben war die ganze Atmosphäre des Raums komplett aus einer Hand entworfen und durchgeplant.“ Das Konzept des räumlichen Gesamtkunstwerks war in den 1960er und 1970er Jahren nicht nur bei Verner Panton Thema, auch im Osten beschäftige sich die Avantgarde damit. Neben der Fotografie wird in der Ausstellung u.a. einer der originalen roten Stühle aus dem Saal sowie zwei abstrakte Glassäulen präsentiert, über die einst zur Dekoration das Karlsbader Wasser lief. Ein Film aus der 1970er Jahren zeigt das Hotel während seiner Hochphase als sozialistischer Prachtort.

Die nächste Station widmet sich Ungarn, das 1956 ebenfalls vergebens versucht hatte, sich gegen die sowjetische Übermacht zu behaupten. „Bei der Recherche konnten die Kuratorinnen die bedrückende Stimmung nachempfinden, die nach dem gescheiterten Aufstand von 1956 die ungarische Gesellschaft bestimmte“, erzählt Claudia Banz. Isolation und der Rückzug in den eigenen, kleinen Privatraum waren prägend. Die Wand als Grenze wurde zu einem typischen Element der visuellen Welt – nicht nur in Form haptischer Trennwände, sondern auch in zweidimensionalen Kunstwerken wie den in der Ausstellung präsentierten Wandteppichen. Hier begegnen dunkle Farben und Motive von Mauern und Gittern. Erst mit der Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre, die im Prager Frühling und in der internationalen Studentenbewegung mündete, hellten sich die Farben wieder auf und freundlichere Motive erhielten Einzug.

Ausstellungsansicht im Kunstgewerbemuseum
Retrotopia. Design for Socialist Spaces, Ausstellungsansicht, Kunstgewerbemuseum + Kulturforum 2023, © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker
Ausstellungsansicht im Kunstgewerbemuseum
Retrotopia. Design for Socialist Spaces, Ausstellungsansicht, Kunstgewerbemuseum + Kulturforum 2023, © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker
Ausstellungsansicht im Kunstgewerbemuseum
Retrotopia. Design for Socialist Spaces, Ausstellungsansicht, Kunstgewerbemuseum + Kulturforum 2023, © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker
Ausstellungsansicht im Kunstgewerbemuseum
Retrotopia. Design for Socialist Spaces, Ausstellungsansicht, Kunstgewerbemuseum + Kulturforum 2023, © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker
Ausstellungsansicht im Kunstgewerbemuseum
Retrotopia. Design for Socialist Spaces, Ausstellungsansicht, Kunstgewerbemuseum + Kulturforum 2023, © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker
Ausstellungsansicht im Kunstgewerbemuseum
Retrotopia. Design for Socialist Spaces, Ausstellungsansicht, Kunstgewerbemuseum + Kulturforum 2023, © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker

Neben diesen spannenden Eindrücken zeigt die Ausstellung weitere Beiträge u.a. aus Russland, Ex-Jugoslawien und der DDR, die sich alle mit dem gesellschaftlichen Leben in Theorie und Praxis beschäftigen. Der Gang durch die Jahrzehnte des realsozialistischen Versuchs verdeutlicht, wie weit Ideal und Realität bisweilen auseinanderlagen. „Es wurde in Gestalter*innenkreisen über alles genauso diskutiert wie im Westen“, sagt Claudia Banz, „zumindest im Geiste ließen die Menschen sich die Freiheit nicht nehmen.“ Doch umgesetzt wurden von den visionären und teils utopischen Gedankenspielen die wenigsten. In einem zweiten, umfangreichen Archivteil gibt Retrotopia dann auch weitgehende Einblicke in die Diskurse zwischen Institutionen, Akteuren und Netzwerken. Aus breitgefächertem Archivmaterial, Fotos, Postern, Zeitschriften, Büchern, Filmen und Designobjekten entsteht hier eine dreidimensionale Mindmap zu den Themenclustern Design-Institutionen, Design-Ausbildung und Design-Diskurse, die die Besuchenden zur vertiefenden Auseinandersetzung einlädt. So bildet Retrotopia ein äußerst spannendes und bisher wenig beachtetes Thema in der Geschichte von Ost und West ab – und trägt damit zu einer längst überfälligen Neubewertung der globalen Designgeschichte bei.

„Retrotopia. Design for Socialist Spaces“ läuft noch bis 16. Juli 2023 im Kunstgewerbemuseum und ist ein Kooperationsprojekt mit internationalen Partnerinstitutionen.

Die Ausstellung wird gefördert durch das Kuratorium Preußischer Kulturbesitz. Es wurde 2014 als Zusammenschluss kulturengagierter Wirtschaftsunternehmen gegründet. Ziel des Kuratoriums ist es, die SPK im Rahmen einer strategischen Partnerschaft bei der Umsetzung ausgewählter Projekte zu unterstützen. Neben der Förderung von Ausstellungen stehen dabei vor allem die Schwerpunkte „Kommunikation“, „Kulturelle Bildung und Vermittlung“ sowie „Digitale Transformation“ im Fokus.


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