Das Onlineportal „Qalamos“ bietet erstmals eine Datenbank aller orientalischen Handschriften in deutschen Sammlungen
Das Onlineportal „Qalamos“ bietet erstmals eine Datenbank aller orientalischen Handschriften in deutschen Sammlungen. Christoph Rauch von der Staatsbibliothek ist der Projektleiter und hat die Suche nach den teils uralten Quellen von Anfang an begleitet.
Abhandlungen über den Nil, Berichte von den Wundern Marias oder das Tagebuch eines osmanischen Militärarztes – diese und unzählige weitere Themen finden sich in orientalischen Handschriften. Zahllose solcher Handschriften und Blockdrucke aus asiatischen und afrikanischen Schrifttraditionen gelangten im Laufe der Zeit auch nach Deutschland und liegen hier in Bibliotheken, Privatsammlungen und Museen verteilt. Nun gibt es erstmals ein Webportal, in dem alle diese Handschriften verzeichnet sind.
Unter der Leitung von Christoph Rauch, dem Leiter der Orientabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, sind seit 2020 mehrere Teams an verschiedenen Institutionen dabei, die Beschreibungsdaten orientalischer Handschriftenbestände in Deutschland in das neue Portal „Qalamos“ zu übertragen. „Wir haben 20.000 Handschriften im Zuge des Projektes erfasst, aber es gibt noch weitaus mehr in der Datenbank, die aus älteren Projekten stammen und übernommen werden konnten“, erklärt Rauch. Aktuell etwa 150.000 Datensätze ermöglichen es, Schriftzeugnisse in insgesamt 162 Sprachen und 81 Schriften in ganz Deutschland zu finden. „Mittelfristig streben wir an, dass Interessierte über das Portal lückenlos zu sämtlichen Handschriften in deutschen Institutionen forschen können“, so Rauch.
Das Projekt vereint Fachleute der Bayerischen Staatsbibliothek München, der Forschungsbibliothek Gotha, der Staatsbibliothek zu Berlin und des Universitätsrechenzentrums Leipzig und wird im Rahmen des DFG-Projekts Orient-Digital realisiert. Neben den großen Sammlungen sind über Kooperationsvereinbarungen mehr als 20 weitere Institutionen in ganz Deutschland involviert.
Das Portal Qalamos ist in drei Module gegliedert, die auf Handschriften, Personen und Werke fokussieren. Die Handschriftendatensätze enthalten Angaben zu Titel, Verfasser und Inhalt eines Textes, sowie zur Materialität und Provenienz des Objektes. Das Personen-Modul enthält normierte Daten zu allen mit einer bestimmten Handschrift in Verbindung stehenden Personen, vom Verfasser über Kopisten bis zu den letzten Besitzern. Im Werk-Modul schließlich findet man Informationen über nachgewiesene Exemplare eines Werkes sowie Verknüpfungen zu Kommentaren, Übersetzungen und anderen mit dem Werk in Beziehung stehenden Texten.
„Im Grunde ist Qalamos ein zentraler Katalog oder Bestandsnachweis aller Handschiften“, sagt Christoph Rauch. Das bedeutet, man erfährt hier, ob und wo es eine bestimmte Handschrift in Deutschland überhaupt gibt, und findet dann auch direkt damit verbundene Werke, weitere Ausgaben und Kopien und, falls vorhanden, auch Digitalisate.
Auch wenn noch nicht alle Handschriften in Deutschland erfasst sind, so kann die Suche bereits jetzt an bisweilen unerwartete Orte führen, wie zum Beispiel das Gymnasium Christianeum in Hamburg. „Das ist ein ganz normales Gymnasium“, erklärt Rauch, „doch die Schulbibliothek verfügt über elf mittelalterliche arabische Handschriften – und über Qalamos kann man sie nun finden.“ Wie die Handschriften dorthin gelangt sind – vielleicht als Teil der Privatbibliothek eines Aufklärers? – ist ein ganz eigenes Thema und zeigt, dass Qalamos auch für Felder wie die Provenienzforschung spannende neue Ansätze offeriert, denn ohne das Portal würde wohl kaum jemand von der Existenz der Handschriften in der Schulbibliothek erfahren.
Doch wie gelangen die Fachleute im Projekt an die Informationen? „Wir haben zunächst alle Bibliotheken in Deutschland kontaktiert, von denen wir wussten, dass sie über entsprechende orientalische Handschriftensammlungen verfügen“, erinnert sich Christoph Rauch. „Besonders die kleineren Einrichtungen haben sich oft über unsere Anfrage gefreut, denn ihnen fehlen in der Regel die Fachleute und Kapazitäten, um die Bestände richtig aufzuarbeiten“, so Rauch weiter. Wenn der Kontakt hergestellt und die Bestände gesichtet sind, beginnt die Arbeit: Die Fachleute aus dem Projekt nehmen sich die gedruckten Kataloge vor, die häufig bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, und durchsuchen sie systematisch nach Informationen zu den jeweiligen Handschriften. Diese Informationen werden dann systematisch online in eine Maske eingegeben, so dass am Ende im System alle Infos in gleicher Ordnung und Qualität abrufbar sind. „Das ist keine Abschreibearbeit“, erklärt Rauch, „denn gerade die alten Kataloge enthalten meist Beschreibungen im Volltext, aus denen man dann Details wie Inhaltsangaben, Maße, Schriftart und so weiter in mühsamer Kleinarbeit extrahieren muss.“ Titel- und Verfasserangaben werden in arabischer Originalschrift und lateinschriftlich in wissenschaftlicher Transliteration erfasst. Hinzu kommt außerdem der Abgleich der Informationen: Ist alles noch aktuell, gibt es neue Erkenntnisse zu einem Werk? Christoph Rauch und sein Team haben ca. 45 Minuten pro Datensatz veranschlagt – bei 20.000 Datensätzen eine echte Mammutaufgabe, die außerdem große Fachkenntnis erfordert.
Das Resultat ist ein Meilenstein für die einschlägige Forschung, denn mit Qalamos können Interessierte nun problemlos die über 150.000 hochqualitativen und aktuellen Datensätze durchsuchen – egal ob nach bestimmten Themen, nach historischen oder regionalen Schwerpunkten oder nach beherbergenden Instituten der Handschriften gegliedert. Andersherum funktioniert die Suche natürlich ebenso: Wenn Handschriften in der Literatur referenziert werden, lässt sich mit dem Qalamos-System schnell ermitteln, wo der jeweilige Schriftträger sich befindet – und ob er vielleicht bereits sogar als Digitalisat online vorhanden ist.
„Die Digitalisierung von Beständen und die Entwicklung von fortgeschrittenen Datenbanken wie Qalamos hat der Forschung sicherlich einen Push gegeben“, meint Christoph Rauch. „Während man früher noch in eine andere Stadt fahren und sich einen Termin in der örtlichen Bibliothek geben lassen musste – in der Hoffnung dort auch tatsächlich das Gesuchte zu finden – kann man heute einfach von überall auf der Welt auf die Kataloge zugreifen und recherchieren.“ Diese neue Flexibilität und die Vielfalt, die durch Qalamos und andere Datenbanken plötzlich viel besser sichtbar wird, eröffnen nicht zuletzt auch neue Perspektiven und Forschungsfelder. So ist es etwa einem Wissenschaftler von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gelungen, Teile einer arabischen Privatbibliothek aus Syrien rekonstruieren zu können, deren Handschriften sich in verschiedenen Sammlungen wiederfinden (Gotha, Tübingen, Leipzig, Berlin). Diese Forschungsergebnisse werden in der Datenbank ebenfalls sichtbar. Das Beispiel zeigt: Auch für die Provenienzforschung ist Qalamos ein Game Changer.
Dennoch gibt es noch viel Arbeit auf diesem Feld. Weltweit sind Bibliotheksbestände und Handschriften noch immer oft unzureichend katalogisiert und daher schwer zu finden. Aus diesem Grund soll in einer zweiten Projektphase die Arbeit fortgeführt und erweitert werden, wie Rauch erklärt: „Wir wollen von 2023 bis 2026 das Projekt international ausweiten und auch Bestände außerhalb Deutschlands erfassen.“ Erste Partner aus den Niederlanden, Finnland und der Schweiz sind bereits gefunden. „Es ist ja ein Welterbe“, sagt Christoph Rauch, insofern sei es weltweit relevant und wichtig, diese Bestände zu öffnen.