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Der doppelte Wittgenstein

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Wo ein Abspielgerät für Laserdiscs hätte sein sollen, fand sich stattdessen eine Antenne. So begann eine Spurensuche durch die Sammlung der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin.

„Hier stimmt doch was nicht“, dachte sich Jee-Hae Kim, als sie vor der alten Fernsehkommode im Depot des Hamburger Bahnhofs stand. Wo ein Abspielgerät für Laserdiscs hätte sein sollen, fand sich stattdessen eine Antenne. Die Kunsthistorikerin ist am Hamburger Bahnhof für die strukturelle Organisation und wissenschaftliche Erforschung der Medienkunstsammlung zuständig und im Zuge dessen auch an der von Anna-Catharina Gebbers kuratierten Ausstellung „Magical Soup. Medienkunst aus der Sammlung der Nationalgalerie, der Friedrich Christian Flick Collection im Hamburger Bahnhof und Leihgaben“ (6.9.2020 – 18.4.2021) beteiligt. In dieser wird derzeit Nam June Paiks „I never read Wittgenstein (I never understood Wittgenstein“ (1997) ausgestellt. Das Werk besteht aus einer Wandarbeit, einer Fernsehkommode sowie einem Film, der auf letzterer abgespielt wird. Dafür entkernte der Künstler die Kommode und baute ein Abspielgerät für Laserdiscs ein. Der Fernsehschrank, vor dem Kim stand, enthielt allerdings nur eine Antenne. „Ich war im ersten Moment sehr irritiert“, erzählt die Wissenschaftlerin.

Mehrere Menschen sitzen und stehen um einen Tisch herum, auf dem Bilder liegen

Charlotte Williams-Wynn. Stahlstich von H. Adlard nach einer Zeichnung von H.T. Wells (1856)Aus: Memorials of Charlotte Williams-Wynn. Edited by her sister. With a portrait, London: Longmans, Green and Co. 1877, Frontispiz (aus dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek).

Neben „I never read Wittgenstein (I never understood Wittgenstein)“ (1997) gehören zur Sammlung der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof auch die Arbeiten „I never read Wittgenstein“ von 1998 und „TV Tulips“ (1998) von Nam June Paik. Zu „TV Tulips“ gehört wie zum Werk von 1997 auch eine Fernsehkommode. Trotz ihres ähnlichen Aufbaus unterscheiden die Arbeiten sich allerdings maßgeblich in Technik und Aussage: „TV Tulips“ war dafür konzipiert, über eine Antenne das terrestrische Fernsehprogramm zu empfangen. Die ihr zugeordnete Kommode hatte allerdings keine Antenne – in ihr befand sich ein Laserdiscplayer. „Zuallererst habe ich dann Paiks Arbeiten recherchiert sowie die diversen Restaurierungsprotokolle, Dokumente und Listen in den Werkakten intensiv studiert. Hierbei stellte sich schon heraus, dass die Zuordnung der Fernsehkommoden zu einem Zeitpunkt, wahrscheinlich 2018, nach ihrer korrekten und ordnungsgemäßen Aufnahme in die Sammlung verändert worden war,“ berichtet Kim.

Zwei historische Fernsehkommoden
Die zwei Fernsehkommoden aus der Sammlung der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof © SPK / photothek.de / Thomas Trutschel / Nam June Paik Estate
Ein Mann begutachtet die Rückseite einer Fernsehkommode
Andreas Weisser (Diplom-Restaurator) unterstützt die Wissenschaftler*innen der Staatlichen Museen zu Berlin bei ihrer Arbeit. © SPK / photothek.de / Thomas Trutschel / Nam June Paik Estate

Darüber hinaus führte die Kunsthistorikerin weitere Recherchen und Anfragen bei anderen Museen und Galerien durch. Diese zielten vor allem darauf ab, zu klären, ob sich trotz der Tatsache, dass prinzipiell beide Objekte jeweils für die eine oder andere Arbeit verwendet werden könnten, in der Ausstellungspraxis nicht dennoch bestimmte Konvention etabliert hatten. Anhand von Fotografien stellte Kim fest, dass jede*r Kurator*in die Werke in der Vergangenheit anders präsentierte: Waren es die Position der Wand oder gar das Aussehen der Kommode selbst. Hier fand sich eine mögliche Erklärung für eine Verwechslung im Berliner Depot: Von außen ist nicht zu erkennen, welches Objekt zu welchem Kunstwerk gehört, denn bei beiden Arbeiten handelt es sich um Editionen, für die der Künstler stets verschiedene – aber ähnliche – historische Fernsehkommoden verwendete.

Forschungsprojekte am Hamburger Bahnhof I – Das Media Lab

Bei dem Projekt „MediaLab“ handelt es sich um den dritten Teil der Reihe „In Preparation“, die Einblicke in die Vorbereitungen für den Neubau der Nationalgalerie am Kulturforum bietet. Die ersten beiden Teile beinhalteten jeweils die Schaurestaurierung eines Schlüsselwerks der Sammlung. Der dritte Teil widmet sich der Medienkunst. Das MediaLab soll zukünftig zentrale Anlaufstelle und interdisziplinäre Forschungsumgebung für Werke der Medienkunst sein. Dafür arbeitet das Team des Hamburger Bahnhofs seit April 2020 an der Ersteinrichtung des MediaLabs, die die technische Grundausstattung dafür bereitstellen wird, mit der Kunstwerke mit technischen und digitalen Komponenten gesichtet, geprüft und getestet, dokumentiert, bearbeitet sowie digitalisiert und migriert werden können.

Die Expertise eines externen Medienkunstrestaurators unterstützte Kims These, dass aufgrund der technischen Ausstattung ursprünglich die Kommode mit dem Laserdiscplayer „I never read Wittgenstein (I never understood Wittgenstein)“ (1997) und die andere Kommode mit der Antenne dem Werk „TV Tulips“ (1998) zugeordnet werden muss. „Die gute Zusammenarbeit von internen wie externen Wissenschaftler*innen, Depotmitarbeiter*innen, Restaurator*innen, Kurator*innen und Sammlungswissenschaftler*innen in diesem Fall ist sehr exemplarisch dafür, wie interdisziplinär das Feld der Medienkunst ist“, sagt Kim. „Deutlich wird hier auch, dass die Werke der Medienkunst besondere Bedürfnisse haben: Hier treten Besonderheiten oftmals erst zutage, wenn sie aufgebaut und ausgestellt werden.“

Die erfolgreiche Aufbereitung der Arbeiten Nam June Paiks ist laut Kim ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Sammlungsarbeit im Bereich der Medienkunst aussehen kann.

„Ich würde das gerne für alle Medienkunstwerke aus unserer Sammlung machen,“ sagt die Wissenschaftlerin. Denn die umfangreiche Sammlung der Medienkunst, also Werke, die elektronische oder digitale Komponenten haben und zeitbasiert sind, umfasst etwa 800 Positionen, die noch erforscht und aufgearbeitet werden müssen. Die Erforschung der Arbeiten gestaltet sich als sehr komplex, nicht zuletzt, da sie häufig mehrere heterogene Elemente umfassen. Sie erfordern eine spezielle Expertise und Methoden, die die Mitarbeiter*innen des Hamburger Bahnhofs durch die Teilnahme an und Durchführung von nationalen und internationalen Workshops, Veranstaltungen und Forschungsprojekten wie dem „MediaLab“ und „CoDoc“ stets zu professionalisieren versuchen.

Wie wichtig es ist, dass die Bestände vollständig erschlossen und erforscht werden, zeigt das eingangs beschriebene Beispiel: Wäre das Werk Nam June Paiks nicht für die Ausstellung „Magical Soup“ aus den Tiefen des Depots geholt worden, wäre die Verwechslung der Fernsehkommoden wahrscheinlich erst viel später entdeckt worden.

Forschungsprojekte am Hamburger Bahnhof II – Cooperations in Documentation. Projekt zur Methoden- und Verfahrensentwicklung für den Erhalt von Medienkunstwerken

Mit „Cooperations in Documentation“ (CoDoc) geht der Hamburger Bahnhof weiter der Frage nach, wie Kunstwerke, deren Trägermedium etwa Film, U-Matic-Bänder, VHS-Kassetten, DVDs oder USB-Sticks sind, dauerhaft erhalten werden können. Im Rahmen von CoDoc werden Strategien zur Digitalisierung von Medienkunstwerken zusammengeführt und diesbezügliche Standards formuliert sowie kooperative Praktiken ihrer Dokumentation entwickelt. So werden über den Einzelfall hinausführende Best Practices zum Erwerb, der Präsentation und Konservierung von zeitbasierter Kunst entworfen, die jedoch stets an konkreten Kunstwerken der Sammlung herausgearbeitet werden. Nicht zuletzt wird mit der digitalen Erfassung der Grundstein für eine bessere auch öffentliche Zugänglichkeit der umfangreichen Medienkunstsammlung des Hamburger Bahnhofs gelegt, aus der sich neue Möglichkeiten des Wissenstransfers eröffnen.


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