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„In Berlin und Buenos Aires ist die Vergangenheit auf eine unentrinnbare und tragische Weise präsent“

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Gast am Ibero-Amerikanischen Institut: Die argentinische Wissenschaftlerin Isabella Cosse über Zwangsadoptionen während der Militärdiktatur, die weltweit beliebte Comicfigur Mafalda und Parallelen zwischen Berlin und Buenos Aires.

Frau Professor Cosse, Sie sind Historikerin an der Universität Buenos Aires und forschen zurzeit in Berlin, am Ibero-Amerikanischen Institut. Was hat Sie hierher verschlagen?

Mein aktuelles Forschungsprojekt hat mich nach Berlin geführt. Ich beschäftige mich mit Repression und Gewalt während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) am Beispiel entführter Kinder. Vielen hundert Regimegegnern wurden ihre Babys und Kinder weggenommen und zur Adoption freigegeben. Ich untersuche die Auswirkungen, die die Diktatur auf Kindheit und Familien hatte. Dieser Ansatz hilft zu begreifen, wie die Diktatur überhaupt möglich wurde, welche Ideen, Wahrnehmungen und Gefühle ihr zugrunde lagen, und wie sich lokale, nationale und internationale Aspekte vermischten.

Dabei interessiert mich besonders der Blick Europas auf das Geschehen. Der Kampf gegen die Diktatur Ende der siebziger Jahre – in Zeiten des Kalten Krieges - wurde ja auf der Weltbühne geführt. Menschenrechtsorganisationen überall auf der Welt setzten sich für die Opfer ein.

Wie sind Sie vorgegangen?

Mit Hilfe des großen Pressearchivs hier am Ibero-Amerikanischen Institut kann ich rekonstruieren, wie damals in Europa über die entführten Kinder und ihre Eltern berichtet wurde, wie Aktivistinnen und Aktivisten, Exilgruppen und Vertreter von Menschenrechtsgruppen die Verbrechen verurteilten, und welche Folgen das hatte für die Suche nach den Kindern - und für die Hilfe, die sie und ihre Familien erhielten.

Gibt es auch Bezüge zu Deutschland?

Meine Forschung zu Deutschland steht erst am Anfang, aber auch in Deutschland gab es verschiedene Gruppen, die Solidarität mit Lateinamerika und Argentinien bekundeten. Es gab eine Organisation, die zusammen mit Amnesty International die Kindesentführungen anprangerte und den Großmüttern bei der Suche nach den Kindern half. Bis heute ist das Interesse an dem Thema auch in Deutschland sehr groß.

Wo sind die blinden Flecken bei der Erforschung jenes dunklen Kapitels der argentinischen Geschichte?

Es gibt noch viel, was wir über diese Zeit nicht wissen. Zum einen müssen wir besser verstehen, wie der Terror konkret aussah, wie die Entscheidungen über die Haftanstalten getroffen wurden, wie die bewaffneten Einheiten und die Spitzel arbeiteten. Zum anderen müssen wir mehr erfahren über die Lebensbedingungen und den Alltag der unterschiedlichen sozialen Gruppen. Meine Forschung verbindet beides. Das ist neu. Ich möchte eine sozio-kulturelle Geschichte des politischen Lebens schreiben – indem ich mich auf die Familien und die Kinder fokussiere. Dabei kann ich an meine Forschung zu Mafalda anknüpfen, der berühmten Comicfigur. Mein Buch über sie ist eine soziale und politische Biografie.

Seit Jahrzehnten ist Mafalda in vielen Ländern höchst populär. Nicht nur in Argentinien ist sie eine Ikone. Was hat Sie an dem Stoff so begeistert?

Mafalda ist ein altkluges, unangepasstes Mädchen aus der Mittelklasse, ein antiautoritäres Symbol. Mit ihrem Humor stellt sie die Realität immer wieder in Frage. Man kann meine Geschichte über Mafalda darum auch als Geschichte des Humors lesen. Denn der Humor erlaubt uns einen tiefen Einblick in soziale und menschliche Befindlichkeiten.

Warum wurde der Comic während der Diktatur nicht verboten?

Vermutlich deshalb, weil er zu beliebt war und die Zensur indirekter vorging, indem sie beispielsweise Verleger verhaften ließ.

Und wie populär ist Mafalda heute?

Die Figur bleibt ein soziales Phänomen. Sie ist eine Ikone, die von unterschiedlichsten Kollektiven und Akteuren wie eine Art Banner als Ausdruck der eigenen Identität mit sehr verschiedenen Ausprägungen genutzt und adaptiert werden kann. Frauenrechtlerinnen in Argentinien führen Mafalda genauso durch die Straßen wie Demonstrierende in Chile und Brasilien. Die Comicfigur ist in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt worden und hat über sechs Millionen Follower auf Facebook, verstreut über die ganze Welt. Viele stellen das Gedankenspiel an: Wie wären Mafalda und ihre Freunde eigentlich, wenn sie erwachsen wären? Die verschiedenen Antworten darauf spiegeln die verschiedenen Wahrnehmungen wider und verraten dabei viel über die Brüche zwischen Mittelklasse, Arbeiterklasse und Anti-Establishment.

Isabella Cosse
Isabella Cosse © Tomás Crenzel
Zeitungsartikel über Kindesentführungen
Artikel über die Kindesentführungen, gefunden in der Zeitungsauschnittsammlung des Ibero-Amerikanischen Instituts
Zeitungsartikel über Kindesentführungen
Zeichnung eines argentinischen Mädchens, dessen Vater entführt wurde, aus der Zeitungsauschnittsammlung des Ibero-Amerikanischen Instituts

Was beeindruckt Sie an Berlin und am Ibero-Amerikanischen Institut?

Aus vielen Gründen ist das Ibero-Amerikanische Institut für mich ein Glücksfall: Es bietet mir Gelegenheit für Diskussionen und für den Austausch mit anderen (Gast-)Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Wegen der transregionalen Ausrichtung meiner Forschung hatte ich sofort an dieses Institut gedacht, da man sich dort für transregionale Verflechtungen interessiert. Und wegen seiner Bestände, denn ich wusste dass es über eine der bedeutendsten Spezialbibliotheken zu Lateinamerika verfügt. In Argentinien nennen wir es einfach „Ibero“. Bevor ich kam, hatten meine Kollegen schon davon geschwärmt - vor allem von der Gastfreundschaft, die hier herrscht. Und ich möchte hervorheben, wie hilfsbereit die Bibliothekare sind und wie exzellent die verfügbaren Services. Das Institut sorgt für einen so komfortablen Ort, dass es wirklich eine Freude ist, hier zu arbeiten.

Das akademische Leben in Berlin ist enorm lebendig und vielfältig. In Wissenschaft und Forschung investiert man viel. Ich wünschte, ich könnte länger hierbleiben und die großartigen Möglichkeiten noch besser nutzen. Ich beginne ja erst, diesen intellektuellen Raum zu erobern.  Buenos Aires ist ein ebenso reicher Ort – kosmopolitisch und intellektuell.

Beide Städte, Buenos Aires und Berlin, haben eine weitere Gemeinsamkeit: die ausgeprägte Erinnerungskultur.

Ich denke viel darüber nach. In Berlin und Buenos Aires ist die Vergangenheit auf eine unentrinnbare und tragische Weise präsent – man wird immer wieder gezwungen, sich kritisch mit ihr auseinander zu setzen. In beiden Städten gibt es Hinweise, die uns an die Barbarei erinnern. In Berlin sind das zum Beispiel Stolpersteine, die Menschen ins Gedächtnis rufen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden. In Buenos Aires gibt es Ähnliches: Erinnerungsorte, an denen die Militärdiktatur Menschen gewaltsam hat verschwinden lassen.

Ist diese Parallelität zwischen den Städten nicht verblüffend?

Ja, verblüffend. Und ich muss dabei an ein Paradox denken, das Walter Benjamin so treffend umschrieben hat. Er hat gesagt, dass es niemals ein Dokument der Kultur gebe, das nicht zugleich auch ein Zeugnis der Barbarei sei.

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Gastwissenschaftler*innen im Ibero-Amerikanischen Institut

Isabella Cosse (CONICET/Universidad de Buenos Aires, UNSAM) arbeitete bis Ende Februar am Ibero-Amerikanischen Institut als Fellow der Gerda Henkel Stiftung an dem Projekt  “Children Kidnapped by the Argentine Dictatorship: Transnational Denunciation, Childhood and Human Rights (1976-1983)”.


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