Das Kuckucksei im Staatsarchiv

Artikel

Lesezeit: ca.  min

Wo ist es entstanden? Wie kommt es hierher? Die Nachwuchswissenschaftlerin Stefanie Bellach erforscht das Rätsel um ein frühmittelalterliches Handschriftenfragment

Wenn das mal keine Überraschung ist: Das älteste Schriftstück im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA) stammt gar nicht auch aus Preußen, sondern aus Irland, oder genauer gesagt: von einer Insel westlich des heutigen Schottlands, von der Insel Iona, und zwar ungefähr aus dem Jahr 800, als an Preußen noch gar nicht zu denken war. Eigentlich ist es nur ein Schnipsel, 190 mal 34 mm klein, kaum größer als ein paar Briefmarken. Aber der hat es in sich.

Denn als das älteste Stück im GStA galt bisher eine Urkunde vom 29. Mai 1188, in der Papst Clemens III. erklärte, das neue Stift in Stendal, mitten in der Mark Brandenburg, sei direkt ihm unterstellt. Das war einmal, so könnte man mit einem Augenzwinkern sagen. Längst ist klar: Das GStA beherbergt Überlieferungsschätze nicht nur aus dem Raum zwischen Kleve und Königsberg, sondern von noch weiter her. Auch wenn sie klein sind.

Genau Auskunft geben kann darüber Stefanie Bellach, eine der fast drei Dutzend Archivarinnen und Archivare am GStA. Eigentlich ist sie zuständig für Archivalien der preußischen Kulturverwaltung nach 1808, bereitet die Akten für die Datenbank auf, erstellt Findmittel, hilft den Nutzerinnen und Nutzern des Archivs bei ihren Recherchen, betreut sie im Lesesaal. Seit 14 Jahren schon arbeitet Stefanie Bellach im GStA, studierte nebenbei Geschichte – und ihr Interesse an den alten Handschriften ist immer größer geworden.

Inzwischen sitzt sie an einer Dissertation über den irischen Mönch Columba. Der gründete 563 ein bedeutendes Kloster, und das lag, na klar, auf Iona, jener Insel der Inneren Hebriden, von der auch das kleine Handschriftenfragment im GStA stammt. Jedenfalls ist das anzunehmen. Denn der Berliner Schnipsel ähnelt dem Book of Kells, einem überaus berühmten frühmittelalterlichen Evangeliar, einem Meisterwerk insularer Buchkunst, das aufwendig künstlerisch gestaltet und farbenfroh illuminiert ist – und das heute im Trinity College in Dublin besichtigt werden kann.

Eine Frau betrachtet mit einer Lupe ein historisches Dokument
Stefanie Bellach ist eine der fast drei Dutzend Archivarinnen und Archivare am GStA. © GStA PK / Christine Ziegler
Fragmente eines historischen Schriftstücks
Fragment eines Folianten. © GStA PK / Vinia Rutkowski
Fragmente eines historischen Schriftstücks
Folianten im Geheimen Staatsarchiv. © GStA PK / Vinia Rutkowski

Es ist eine Detektivarbeit. So viele Forschungsfragen gibt es. Nicht nur: Wie und wo ist das Fragment entstanden? Sondern auch: Wie wurde das Evangeliar, das Liturgiebuch, zu dem es offenbar gehörte, genutzt? Und auf welchen Wegen gelangte dieses Evangeliar schließlich auf den Kontinent – und dann bis nach Berlin? Und warum eigentlich ist davon heute nur so wenig übrig? Stefanie Bellach sagt es so: „Mich interessiert vor allem: Wie kommt die Handschrift ins 21. Jahrhundert?“

Dabei kann die junge Wissenschaftlerin anknüpfen an die Arbeit der Forscherinnen und Forscher vor ihr, an Anette Löffler, die das Fragment 2001 zum ersten Mal beschrieb, und an Hartmut Hoffmann, der sich schon zuvor ausführlich damit beschäftigt hatte. Vor allem aber verweist sie auf eine Studie von Francis L. Newtons und Robert Gary Babcocks, die das Berliner Fragment mit dem Book of Kells genau verglichen: Zeilenzahl, Zeilenabstand, Zeilengröße und so weiter. Und die zu dem Schluss kamen: „Berlin und Kells können Geschwister sein, vielleicht sogar Zwillinge.“

Aber dann? Was passierte dann? Wann hat das Evangeliar das Kloster verlassen? Hat es vielleicht ein irischer Mönch auf seiner Gelehrtenreise im 9. Jahrhundert mit in eines der vielen fränkischen Klöster gebracht? „Den Weg des Evangeliars können wir leider nicht mehr nachvollziehen. Er bleibt ein Rätsel“, sagt Stefanie Bellach. Klar ist nur: Das wertvolle Buch wurde eines Tages aussortiert, also makuliert, und anschließend wiederverwendet.

Das ist so etwas wie der Forschungsschwerpunkt der jungen GStA-Mitarbeiterin, das interessiert sie besonders: Die Makulierung, also das Aussortieren, veralteter, abgegriffener Bücher; die Art und Weise, wie sie aufgearbeitet und immer wieder neu genutzt wurden. Denn das Schreiben und Abschreiben war aufwendig und entbehrungsreich. Und das Pergament hatte einen großen Wert, das Material war ein wichtiger Rohstoff. Für ein einziges Evangeliar waren so manches Mal die Häute einer ganzen Schafsherde nötig.

Klar, dass man einen solchen Beschreibstoff nicht einfach wegwarf, sondern ihn wiederverwendete. Buchbinder, Lederer und Papiermacher arbeiteten noch brauchbare Stücke auf und banden sie in neue Bücher ein, als Spiegelbeklebung, Falzverstärkung. So geschah es auch mit dem Berliner Fragment: Es wurde als Bindestreifen zur Stabilisierung eines Buchrückens eingesetzt. „Dabei nahm der Buchbinder leider keinerlei Rücksicht auf den ursprünglichen Objektträger, zerteilte den Schriftraum und verleimte den Streifen mit dem Buchrücken des Trägerbands“, erklärt Stefanie Bellach.

Von Ästhetik also keine Spur. Auf der Vorder- und Rückseite des kleinen Fragments sind gerade noch jeweils zwei Zeilen aus dem Lukasevangelium zu lesen: Luk 13, 11-16. Auf welchem Buchrücken sie nach der Makulierung zu sehen waren, ist nicht mehr zu klären. Nur dass der Schnipsel schließlich im Historischen Staatsarchiv Königsberg landete. Und dann, nach dem Krieg, über das ehemalige Archivlager in Göttingen in das Geheime Staatsarchiv nach Berlin kam. Dort erkannte man seinen Wert und trennte ihn von seinem Wirt ab – in drei Teilen.

Die können jetzt von jedermann eingesehen werden unter der Signatur „GStA PK, XX. HA Historische Staatsarchiv Königsberg, Hs, Liturgische Fragmente (abgelöst), Nr. 84/71 a, b, c“. Aufbewahrt wie die meisten Dokumente in einer Staubmappe, eingeschlagen in Spezialpapier, denn so kostbares Material muss atmen können. 35 Kilometer Akten aus fast neun Jahrhunderten brandenburg-preußischer Geschichte befinden sich im GStA. Das irische Handschriftenfragment ist da so etwas wie ein Kuckucksei, rund 1200 Jahre alt. Stefanie Bellach und ihren Kolleginnen und Kollegen hüten es wie ihren Augapfel.


Weitere Artikel zum Thema