Bücher und noch viel mehr: Die Generalsanierung der Staatsbibliothek Unter den Linden ist 2020 abgeschlossen und verspricht viel Freude wie Freiheit.
Hat er oder hat er nicht? Hat Ludwig van Beethoven die berühmte „Ode an die Freude“ von Friedrich Schiller geändert und statt „Freude“ die Sänger und den Chor „Freiheit, schöner Götterfunken“ singen lassen? So, wie es Leonard Bernstein dirigierte am ersten Weihnachtstag 1989 im Ostteil Berlins im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, übertragen vom Fernsehen für Millionen von Zuhörern in aller Welt?
Inzwischen weiß man, dass es nicht Beethoven war, sondern dass Bernstein im Überschwang der Gefühle und euphorisiert vom Fall der Mauer den Text der Gunst der Stunde angepasst hat. Man kann das auch klipp und klar nachprüfen, gar nicht weit von der Spielstätte des Konzerts entfernt. Denn in der Staatsbibliothek Unter den Linden liegt wohlverwahrt und bestens behütet das Autograf der Neunten Symphonie, und wem der Weg zu lang ist, der kann sich die digitalisierte Version im Internet anschauen.
Und weil dieser Schatz und überhaupt die immensen Bestände den nationalen wie internationalen Wissenschaftlern, Forschern, Verehrern kontinuierlich zugänglich sein sollen, hat das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) als Bauherrnvertreter eine so ungewöhnliche wie großartige Entscheidung begleitet – die Generalsanierung der Staatsbibliothek ab 2005 bei laufendem Betrieb. Wer je in einem Haus gewohnt hat, in dem das Dachgeschoss ausgebaut oder eine Strangsanierung vorgenommen wurde, weiß, wie belastend das ist. Aber was der jahrelange Bauprozess für ein Gebäude in der Dimension der Staatsbibliothek mit regem Publikumsverkehr bedeuten würde, kann sich wohl kaum jemand vorstellen. „Manchmal konnte es passieren, dass, nachdem die letzten Nutzer gegangen waren“, so Jens Andreae, seit 2010 beim BBR verantwortlicher Projektleiter für die Sanierung der Staatsbibliothek, „die Bauarbeiter schnell ihre Zigaretten austraten, die Helme aufsetzten und los ging’s – sogar nachts und am Wochenende.“
Das komplexe Bauvorhaben, dem ein vom Stuttgarter Büro HG Merz gewonnener Architektenwettbewerb zugrunde lag, wurde quasi in der Mitte getrennt: Erst kam der Nordteil dran, um den 1943 bei Bombenangriffen zerstörten Lesesaal wieder aufzubauen und die Funktionsfähigkeit der Bibliothek wieder zu gewährleisten, dann der Südteil, der 2019 fertig sein soll. Als besondere Herausforderung erwiesen sich die vier Büchertürme aus DDR-Erbe, die anstelle des Lesesaals errichtet worden waren – nach dem Vorbild von Futtersilos und mit sehr niedrigen Geschosshöhen, weshalb nicht wenige Mitarbeiter klaustrophobische Anwandlungen bekamen, wenn sie zu lange oder zu tief in die Büchertürme abtauchen mussten. Da dieses kompakte Bauwerk nicht einfach wegzusprengen war, weil das alles ringsherum vernichtend in Mitleidenschaft gezogen hätte, wurden oben Bagger aufgesetzt, die sich nach dem „Knabberprinzip“ bis zum Boden durchfraßen. Der abgetragene Bauschutt wurde in Containern gesammelt, die dann von Kränen über die Seitenmauern nach draußen gehievt wurden – mithin über stolze 13 Etagen.
Als dieses knifflige Problem im wahrsten Sinn des Wortes behoben war, entstand an Stelle der Büchersilos der neue Lesesaal. Anders als sein Vorgänger, der mit mystischer Beleuchtung, einer gewaltigen Kuppel und hohen Wänden an einen Dom erinnerte, erstand er nach dem Entwurf des Architekturbüros HG Merz als 35 Meter hohe, lichtdurchflutete, anmutig gestufte Festhalle des Wissens mit rund 300 Arbeitsplätzen. Die von den Architekten vertretenen Richtlinien – Transparenz, Rhythmisierung und kompositorische Identität – wurden bei der Generalsanierung nach den strengen Auflagen des Denkmalschutzes konsequent überall umgesetzt.
Die Staatsbibliothek war eines der Lieblingsprojekte von Kaiser Wilhelm II., der mit diesem Prunkbau die Stellung der deutschen Wissenschaft in der Welt gewürdigt wissen wollte. Deshalb wurde sie in exquisiter Lage zwischen dem Brandenburger Tor und dem Schloss der Hohenzollern errichtet. Selbst der russischen Kommandantur war sie nach dem Zweiten Weltkrieg eine Angelegenheit von hoher Priorität und so wurde angeordnet, sie so schnell wie möglich zu eröffnen. Das geschah bereits im Sommer 1946, nachdem die enormen Kriegsschäden natürlich nur notdürftig behoben worden waren. Auch nach der Wiedervereinigung widmete man sich rasch der Staatsbibliothek und begann 1990 mit ersten Sicherungs- und Schutzmaßnahmen. Später wurden ungeahnte Schäden entdeckt, wovon als besonders gravierend die Risse in den Stahlfachwerkträgern über der Haupttreppenhalle und die rund 2700 faulenden Eichenpfähle im Fundament genannt sein sollen, die durch Betonpfähle ersetzt werden mussten.
Das hatte seinen Preis, der sich nach Abschluss der Baumaßnahmen auf rund 470 Millionen Euro belaufen wird – nach knapp 14 Jahren Bauzeit in einem Gebäude, das größer ist als der Reichstag oder das Humboldt Forum, für das es weit mehr als 14 000 Ausführungs- und Detailpläne der Architekten gab und für das 405 Bauaufträge, 115 Honorarverträge sowie 181 Aufträge an Fachtechnikfirmen vergeben wurden. „So etwas macht man nur einmal im Leben“, sagt Jens Andreae, der die Zahlen und Fakten auswendig parat hat.
Dann ist da noch der wilde Wein aus den 20er-Jahren im Ehrenhof des Geländes, der viel gesehen und miterlebt hat und inzwischen als Gartendenkmal eingestuft ist. Er wurde vorsichtig vom Mauerwerk abgelöst und mit Lederbändern an den Gerüsten befestigt, wo er einen Zwischenhalt finden sollte – und fand. Nun kann er sich, wie gehabt, am schlesischen Sandstein festsaugen und weiter wachsen.
Baulich diesem Hof zugeordnet ist seit knapp zwei Jahren das Büro von Martin Hollender, wissenschaftlicher Referent in der Generaldirektion. Aus dem Fenster von hoch oben drückt er dem Wein die Daumen für ein gutes Gedeihen und beobachtet mit Freude, wie sich die letzten Bauschritte im Südteil des Gebäudes vollenden. Die Umrandung des Brunnens im Ehrenhof wird gerade fertiggestellt, in dem dann wieder eine stattliche Fontäne plätschern soll, die Fassaden und Schmuckelemente sind bereits rekonstruiert und gereinigt. Und auch die traditionellen Generaldirektorenräume sind schon in Betrieb, in denen jetzt mit Barbara Schneider-Kempf eine Generaldirektorin amtiert. „Kommen Sie, Sie werden sich freuen“, ruft sie und lädt uns in ihr Büro mit Blick auf den Boulevard Unter den Linden ein, das früher scherzhaft wegen der Stofftapeten „Der rote Salon“ genannt wurde. Sie hat es zur Erinnerung an die legendäre Berliner Salonnière in Rahel-Varnhagen-Raum umbenannt.
Das Büro hat eine restaurierte Kassettendecke mit goldenen, roten, grünen Farbakzenten, die den gesamten Raum gliedern. Rot ist nach wie vor die Stoffbespannung an den Wänden, die Sitzmöbel sind indes grün – haben allerdings auf ausdrücklichen Wunsch von Schneider- Kempf ein modernes Design: „Sonst hätte ich mich wirklich wie in einem Museum gefühlt!“ Und das soll die Staatsbibliothek auch nach dem Willen der tatkräftigen Generaldirektorin nicht sein. Lediglich im Erdgeschoss soll ab 2020 ein geplantes Bibliotheksmuseum von der wechselhaften Geschichte des Hauses erzählen. Wenn dieses eröffnet, wird in der Staatsbibliothek schon längst der ganz normale Betrieb laufen. Und dann werden sie all die Einheimischen und Touristen, die sie nur als schemenhaftes Monument hinter Gerüsten und Schutzplanen kennen, endlich in ihrer ganzen Pracht sehen können. Wollen wir wetten, dass selbst Leonard Bernstein da wieder von „Freude, schöner Götterfunken“ singen lassen würde?