Endlich wieder gemeinsam singen!

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Eine Wiederentdeckung für den musikalischen Alltag: „Das jüdisch-deutsche Liederbuch von 1912“ ist noch ein Verdienst des großen Berliner Mäzens James Simon

Unternehmer, Mäzen, Kunstfreund, sozialer Wohltäter, Weltbürger: All dies verbindet man mit James Simon, dessen über 10.000 geschenkte Objekte sich heute auf sieben Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin verteilen. Dass Berlins bedeutendster und großzügigster Gründer und Sponsor außerdem die Musik liebte und unterstützte, wusste man hingegen nicht so genau. Zumindest an einem Beispiel lässt sich dies nunmehr belegen. Es handelt sich dabei um „Das jüdisch-deutsche Liederbuch von 1912“, das vom „Hilfsverein der deutschen Juden Berlin und Jerusalem“ verlegt wurde, dem James Simon bis zu seinem Tod 1932 als Präsident vorstand. Neben unzähligen anderen gemeinnützigen Aktivitäten verhalf dieser jüdischen Menschen, die nach Übersee oder Palästina auswandern wollten und dafür nicht genügend finanzielle Mittel hatten, zu den entsprechenden Möglichkeiten.

Das Liederbuch von 1912 war ein idealer Reisebegleiter und diente auch zur Vorbereitung. Denn es war auf Deutsch und Hebräisch gedruckt und beinhaltete 49 deutsche und 149 jüdische Lieder, die melodisch verständlich und allgemein singbar waren, nicht schwer und doch gehaltvoll im Sinne von traditionsreich. In dieser Zusammenstellung und im Nebeneinander von deutschem und hebräischem Liedgut ist es ein faszinierendes, ja einzigartiges Dokument.

 

Porträt eines Mannes in Schwarz-Weiß
James Simon (1851-1932), wichtiger Mäzen der Staatlichen Museen zu Berlin © bpk/Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin / Rudolf Dührkoop
Porträt eines Mannes in Schwarz-Weiß
Feierstunde in der Basilika des Bode-Museums © Rüdiger Schestag
Ein Mädchenchor singt in einer Kirche
Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin © Rüdiger Schestag
Cover eines historischen Buches
Das Jüdisch-Deutsche Liederbuch von 1912 © Thomas Spindler
Innenansicht eines Buches mit hebräischer Schrift
Das Jüdisch-Deutsche Liederbuch von 1912 © Thomas Spindler

Leider sind bloß noch wenige Exemplare erhalten – eines davon liegt in der Berliner Staatsbibliothek. Jetzt wurde eine Neuauflage dieses 110 Jahre alten Zeitzeugnisses in einer Feierstunde in der Basilika des Bode-Museums in Anwesenheit von Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und von Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, vorgestellt.

Was es bei dieser Veranstaltung zu hören gab, klang schon mal richtig gut: Sowohl die deutschen Volkslieder, die der Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin vortrug, als auch die jüdischen Weisen, die Maria Doormann (Gesang), Boyana Robillar (Gitarre) und Julia Katemann (Geige) anstimmten, machten Lust auf mehr.

Zu den typisch deutschen kamen jüdische Lieder aus ganz Europa

Singen ist, so schrieb es James Simon in seinem Vorwort, nicht nur wichtig „für das gesamte Empfindungsleben des Kindes, die Ausbildung seines Natur- und Kunstsinns“, sondern überdies „ein Hilfsmittel ersten Ranges für den Sprachunterricht“. Insofern eignete es sich fabelhaft als kommunikatives Rüstzeug für die Ausreisewilligen und den Musikunterricht in Kindergärten, Grundschulen und Gymnasien in Palästina und in der Diaspora. Damit wurde die Verbindung in die ursprünglichen Heimatländer bewahrt und zugleich die Basis für die Verwurzelung in den neuen Ländern gelegt. Jenes schlichte, braune, in Leinen gebundene Gebrauchsbuch hat der Kantor, Komponist, Dirigent und Musikforscher Abraham Zvi Idelsohn (1882 – 1938) konzipiert. Sein „Sefer Ha-Shirim: Jüdisch-deutsches Liederbuch von 1912“ war als musikpädagogisches Grundlagenwerk gedacht.

Die darin verzeichneten deutschen Beiträge waren von der „Lorelei“ bis zum „Lindenbaum“ geradezu Klassiker und galten als „typisch deutsch“. Sie umfassten Volkslieder und Kunstlieder etwa von Franz Schubert, Louis Lewandowski oder Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Die jüdischen Lieder wählte Idelsohn in der Hoffnung aus, dass sie „einerseits der Welt der Kinder und andererseits der zionistischen Ideologie entsprachen“. Er komponierte einige Vokalstücke selbst, andere übernahm er aus dem vokalen Reservoir der jüdischen Gemeinden in ganz Europa, so Gila Flam von der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem. Sie hatte das Buch dort 2019 im Musikarchiv wiederentdeckt und betreute die Neuauflage, um die sich das „Projekt 2025 – Arche Musica“ in Bayern kümmerte und dafür den Mainzer Schott Verlag als Koproduktionspartner gewinnen konnte.

Das jüdisch-deutsche Liederbuch von 1912

Deutsch-Jüdisches Liederbuch „Sefer Ha-Shirim“ (1912) – bearbeitet von A. Z. Idelsohn

Neuedition bearbeitet von Gila Flam, 244 Seiten, 24,50 Euro, Musikverlag Schott Music Mainz

Unseren Musikkanon mit jüdischen Lieder erweitern

Der hatte eine hoch komplizierte Aufgabe zu bewältigen, ist doch der hebräische Abschnitt in der Erstausgabe nicht wie in der deutschen von links nach rechts, sondern von rechts nach links gesetzt. Deshalb musste dieser Teil der historischen Druckvorlage im Schott Verlag für die Neuedition seitenverkehrt modifiziert werden, und natürlich erfuhren auch die Noten eine spiegelbildliche Halsung.

Die aus dem Hebräischen übersetzten Texte (die Originale sind ebenfalls enthalten) wurden in lateinische Schrift transkribiert und entsprechend den Gesangslinien eingefügt. Mit diesem niedrigschwelligen Angebot, das die Materialien für heutige Ausführende erschließt, will man den frisch gehobenen, vor dem Vergessen bewahrten Liederschatz in die deutsche Musikpraxis und am besten in den schulischen Musikunterricht bringen.

Dadurch gewinnt die deutsch-jüdische Erinnerungskultur ein zusätzliches musikalisches Element und einen neuen Baustein in der aktiven Antisemitismusprävention. Das Liederbuch schlug nämlich, wie Gila Flam es beschreibt, „eine symbolische Brücke zwischen westlicher Musikgeschichte und jüdischer Nationalkultur, zwischen deutscher Musik und hebräischer Musik. Obwohl nur wenige von Idelsohns Melodien im Umlauf sind, wurde seine hebräische Sprachstrategie, fremde Lieder in den nationalen Musikkanon zu integrieren, zu einem grundlegenden Ansatz im späteren hebräischen Lied“.

Inzwischen gibt es produktive Kontakte zum Deutschen Chorverband, der fast eine Million Mitglieder zum regelmäßigen Singen bringt – ein Vergnügen, das nach der Corona-Pandemie erst recht geschätzt wird. Beim Chorfest 2025 in Nürnberg sollen dann bereits Lieder aus Idelsohns Buch einstudiert worden sein und vorgetragen werden. Ein vielversprechender Anfang ist mit dieser so großartigen wie verdienstvollen Publikation jedenfalls gemacht!